Sentiment in Kafkas Prozess und Twains Tom Sawyer

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Der Prozess by Franz Kafka Aligned by: bilingual - texts.com (fully reviewed) Der Prozess Franz Kafka 1 Verhaftung, Gespräch mit Frau Grubach, dann Fräulein Brüstner Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet. Die Köchin der Frau Grubach, seiner Zimmervermieterin, die ihm jeden Tag gegen acht Uhr früh das Frühstück brachte, kam diesmal nicht. Das war noch niemals geschehen. K. wartete noch ein Weilchen, sah von seinem Kopfkissen aus die alte Frau, die ihm gegenüber wohnte und die ihn mit einer an ihr ganz ungewöhnlichen Neugierde beobachtete, dann aber, gleichzeitig befremdet und hungrig, läutete er. Sofort klopfte es und ein Mann, den er in dieser Wohnung noch niemals gesehen hatte, trat ein. Er war schlank und doch fest gebaut, er trug ein anliegendes schwarzes Kleid, das, ähnlich den Reiseanzügen, mit verschiedenen Falten, Taschen, Schnallen, Knöpfen und einem Gürtel versehen war und infolgedessen, ohne daß man sich darüber klar wurde, wozu es dienen sollte, besonders praktisch erschien. » Wer sind Sie? « fragte K. und saß gleich halb aufrecht im Bett. Der Mann aber ging über die Frage hinweg, als müsse man seine Erscheinung hinnehmen, und sagte bloß seinerseits: » Sie haben geläutet? « » Anna soll mir das Frühstück bringen «, sagte K. und versuchte, zunächst stillschweigend, durch Aufmerksamkeit und Überlegung festzustellen, wer der Mann eigentlich war. Aber dieser setzte sich nicht allzulange seinen Blicken aus, sondern wandte sich zur Tür, die er ein wenig öffnete, um jemandem, der offenbar knapp hinter der Tür stand, zu sagen: » Er will, daß Anna ihm das Frühstück bringt. « Ein kleines Gelächter im Nebenzimmer folgte, es war nach dem Klang nicht sicher, ob nicht mehrere Personen daran beteiligt waren. Obwohl der fremde Mann dadurch nichts erfahren haben konnte, was er nicht schon früher gewußt hätte, sagte er nun doch zu K. im Tone einer Meldung: » Es ist unmöglich. « » Das wäre neu «, sagte K., sprang aus dem Bett und zog rasch seine Hosen an. » Ich will doch sehen, was für Leute im Nebenzimmer sind und wie Frau Grubach diese Störung mir gegenüber verantworten wird. « Es fiel ihm zwar gleich ein, daß er das nicht hätte laut sagen müssen und daß er dadurch gewissermaßen ein Beaufsichtigungsrecht des Fremden anerkannte, aber es schien ihm jetzt nicht wichtig. Immerhin faßte es der Fremde so auf, denn er sagte: » Wollen Sie nicht lieber hierbleiben? « » Ich will weder hierbleiben, noch von Ihnen angesprochen werden, solange Sie sich mir nicht vorstellen. « » Es war gut gemeint «, sagte der Fremde und öffnete nun freiwillig die Tür. Im Nebenzimmer, in das K. langsamer eintrat, als er wollte, sah es auf den ersten Blick fast genau so aus wie am Abend vorher. Es war das Wohnzimmer der Frau Grubach, vielleicht war in diesem mit Möbeln, Decken, Porzellan und Photographien überfüllten Zimmer heute ein wenig mehr Raum als sonst, man erkannte das nicht gleich, um so weniger, als die Hauptveränderung in der Anwesenheit eines Mannes bestand, der beim offenen Fenster mit einem Buch saß, von dem er jetzt aufblickte, » Sie hätten in Ihrem Zimmer bleiben sollen! Hat es Ihnen denn Franz nicht gesagt? « » Ja, was wollen Sie denn? « sagte K. und sah von der neuen Bekanntschaft zu dem mit Franz Benannten, der in der Tür stehengeblieben war, und dann wieder zurück. Durch das offene Fenster erblickte man wieder die alte Frau, die mit wahrhaft greisenhafter Neugierde zu dem jetzt gegenüberliegenden Fenster getreten war, um auch weiterhin alles zu sehen. » Ich will doch Frau Grubach – «, sagte K., machte eine Bewegung, als reiße er sich von den zwei Männern los, die aber weit von ihm entfernt standen, und wollte weitergehen. » Nein «, sagte der Mann beim Fenster, warf das Buch auf ein Tischchen und stand auf. » Sie dürfen nicht weggehen, Sie sind ja verhaftet. « » Es sieht so aus «, sagte K. » Und warum denn? « fragte er dann. » Wir sind nicht dazu bestellt, Ihnen das zu sagen. Gehen Sie in Ihr Zimmer und warten Sie. Das Verfahren ist nun einmal eingeleitet, und Sie werden alles zur richtigen Zeit erfahren. Ich gehe über meinen Auftrag hinaus, wenn ich Ihnen so freundschaftlich zurede. Aber ich hoffe, es hört es niemand sonst als Franz, und der ist selbst gegen alle Vorschrift freundlich zu Ihnen. Wenn Sie auch weiterhin so viel Glück haben wie bei der Bestimmung Ihrer Wächter, dann können Sie zuversichtlich sein. « K. wollte sich setzen, aber nun sah er, daß im ganzen Zimmer keine Sitzgelegenheit war, außer dem Sessel beim Fenster. » Sie werden noch einsehen, wie wahr das alles ist «, sagte Franz und ging gleichzeitig mit dem andern Mann auf ihn zu. Besonders der letztere überragte K. bedeutend und klopfte ihm öfters auf die Schulter. Beide prüften K.s Nachthemd und sagten, daß er jetzt ein viel schlechteres Hemd werde anziehen müssen, daß sie aber dieses Hemd wie auch seine übrige Wäsche aufbewahren und, wenn seine Sache günstig ausfallen sollte, ihm wieder zurückgeben würden. » Es ist besser, Sie geben die Sachen uns als ins Depot «, sagten sie, » denn im Depot kommen öfters Unterschleife vor und außerdem verkauft man dort alle Sachen nach einer gewissen Zeit, ohne Rücksicht, ob das betreffende Verfahren zu Ende ist oder nicht. Und wie lange dauern doch derartige Prozesse, besonders in letzter Zeit! Sie bekämen dann schließlich allerdings vom Depot den Erlös, aber dieser Erlös ist erstens an sich schon gering, denn beim Verkauf entscheidet nicht die Höhe des Angebotes, sondern die Höhe der Bestechung, und weiter verringern sich solche Erlöse erfahrungsgemäß, wenn sie von Hand zu Hand und von Jahr zu Jahr weitergegeben werden. « K. achtete auf diese Reden kaum, das Verfügungsrecht über seine Sachen, das er vielleicht noch besaß, schätzte er nicht hoch ein, viel wichtiger war es ihm, Klarheit über seine Lage zu bekommen; in Gegenwart dieser Leute konnte er aber nicht einmal nachdenken, immer wieder stieß der Bauch des zweiten Wächters – es konnten ja nur Wächter sein – förmlich freundschaftlich an ihn, sah er aber auf, dann erblickte er ein zu diesem dicken Körper gar nicht passendes trockenes, knochiges Gesicht mit starker, seitlich gedrehter Nase, das sich über ihn hinweg mit dem anderen Wächter verständigte. Was waren denn das für Menschen? Wovon sprachen sie? Welcher Behörde gehörten sie an? K. lebte doch in einem Rechtsstaat, überall herrschte Friede, alle Gesetze bestanden aufrecht, wer wagte, ihn in seiner Wohnung zu überfallen? Er neigte stets dazu, alles möglichst leicht zu nehmen, das Schlimmste erst beim Eintritt des Schlimmsten zu glauben, keine Vorsorge für die Zukunft zu treffen, selbst wenn alles drohte. Hier schien ihm das aber nicht richtig, man konnte zwar das Ganze als Spaß ansehen, als einen groben Spaß, den ihm aus unbekannten Gründen, vielleicht weil heute sein dreißigster Geburtstag war, die Kollegen in der Bank veranstaltet hatten, es war natürlich möglich, vielleicht brauchte er nur auf irgendeine Weise den Wächtern ins Gesicht zu lachen, und sie würden mitlachen, vielleicht waren es Dienstmänner von der Straßenecke, sie sahen ihnen nicht unähnlich – trotzdem war er diesmal, förmlich schon seit dem ersten Anblick des Wächters Franz, entschlossen, nicht den geringsten Vorteil, den er vielleicht gegenüber diesen Leuten besaß, aus der Hand zu geben. Darin, daß man später sagen würde, er habe keinen Spaß verstanden, sah K. eine ganz geringe Gefahr, wohl aber erinnerte er sich – ohne daß es sonst seine Gewohnheit gewesen wäre, aus Erfahrungen zu lernen – an einige, an sich unbedeutende Fälle, in denen er zum Unterschied von seinen Freunden mit Bewußtsein, ohne das geringste Gefühl für die möglichen Folgen, sich unvorsichtig benommen hatte und dafür durch das Ergebnis gestraft worden war. Es sollte nicht wieder geschehen, zumindest nicht diesmal; war es eine Komödie, so wollte er mitspielen. Noch war er frei. » Erlauben Sie «, sagte er und ging eilig zwischen den Wächtern durch in sein Zimmer. » Er scheint vernünftig zu sein «, hörte er hinter sich sagen. In seinem Zimmer riß er gleich die Schubladen des Schreibtischs auf, es lag dort alles in großer Ordnung, aber gerade die Legitimationspapiere, die er suchte, konnte er in der Aufregung nicht gleich finden. Schließlich fand er seine Radfahrlegitimation und wollte schon mit ihr zu den Wächtern gehen, dann aber schien ihm das Papier zu geringfügig und er suchte weiter, bis er den Geburtsschein fand. Als er wieder in das Nebenzimmer zurückkam, öffnete sich gerade die gegenüberliegende Tür und Frau Grubach wollte dort eintreten. Man sah sie nur einen Augenblick, denn kaum hatte sie K. erkannt, als sie offenbar verlegen wurde, um Verzeihung bat, verschwand und äußerst vorsichtig die Tür schloß. » Kommen Sie doch herein «, hatte K. gerade noch sagen können. Nun aber stand er mit seinen Papieren in der Mitte des Zimmers, sah noch auf die Tür hin, die sich nicht wieder öffnete, und wurde erst durch einen Anruf der Wächter aufgeschreckt, die bei dem Tischchen am offenen Fenster saßen und, wie K. jetzt erkannte, sein Frühstück verzehrten. » Warum ist sie nicht eingetreten? « fragte er. » Sie darf nicht «, sagte der große Wächter. » Sie sind doch verhaftet. « » Wie kann ich denn verhaftet sein? Und gar auf diese Weise? « » Nun fangen Sie also wieder an «, sagte der Wächter und tauchte ein Butterbrot ins Honigfäßchen. » Solche Fragen beantworten wir nicht. « » Sie werden sie beantworten müssen «, sagte K. » Hier sind meine Legitimationspapiere, zeigen Sie mir jetzt die Ihrigen und vor allem den Verhaftbefehl. « » Du lieber Himmel! « sagte der Wächter. » Daß Sie sich in Ihre Lage nicht fügen können und daß Sie es darauf angelegt zu haben scheinen, uns, die wir Ihnen jetzt wahrscheinlich von allen Ihren Mitmenschen am nächsten stehen, nutzlos zu reizen! « » Es ist so, glauben Sie es doch «, sagte Franz, führte die Kaffeetasse, die er in der Hand hielt, nicht zum Mund, sondern sah K. mit einem langen, wahrscheinlich bedeutungsvollen, aber unverständlichen Blick an. K. ließ sich, ohne es zu wollen, in ein Zwiegespräch der Blicke mit Franz ein, schlug dann aber doch auf seine Papiere und sagte: » Hier sind meine Legitimationspapiere. « » Was kümmern uns denn die? « rief nun schon der große Wächter. » Sie führen sich ärger auf als ein Kind. Was wollen Sie denn? Wollen Sie Ihren großen, verfluchten Prozeß dadurch zu einem raschen Ende bringen, daß Sie mit uns, den Wächtern, über Legitimation und Verhaftbefehl diskutieren? Wir sind niedrige Angestellte, die sich in einem Legitimationspapier kaum auskennen und die mit Ihrer Sache nichts anderes zu tun haben, als daß sie zehn Stunden täglich bei Ihnen Wache halten und dafür bezahlt werden. Das ist alles, was wir sind, trotzdem aber sind wir fähig, einzusehen, daß die hohen Behörden, in deren Dienst wir stehen, ehe sie eine solche Verhaftung verfügen, sich sehr genau über die Gründe der Verhaftung und die Person des Verhafteten unterrichten. Es gibt darin keinen Irrtum. Unsere Behörde, soweit ich sie kenne, und ich kenne nur die niedrigsten Grade, sucht doch nicht etwa die Schuld in der Bevölkerung, sondern wird, wie es im Gesetz heißt, von der Schuld angezogen und muß uns Wächter ausschicken. Das ist Gesetz. Wo gäbe es da einen Irrtum? « » Dieses Gesetz kenne ich nicht «, sagte K. » Desto schlimmer für Sie «, sagte der Wächter. » Es besteht wohl auch nur in Ihren Köpfen «, sagte K., er wollte sich irgendwie in die Gedanken der Wächter einschleichen, sie zu seinen Gunsten wenden oder sich dort einbürgern. Aber der Wächter sagte nur abweisend: » Sie werden es zu fühlen bekommen. « Franz mischte sich ein und sagte: » Sieh, Willem, er gibt zu, er kenne das Gesetz nicht, und behauptet gleichzeitig, schuldlos zu sein. « » Du hast ganz recht, aber ihm kann man nichts begreiflich machen «, sagte der andere. K. antwortete nichts mehr; muß ich, dachte er, durch das Geschwätz dieser niedrigsten Organe – sie geben selbst zu, es zu sein – mich noch mehr verwirren lassen? Sie reden doch jedenfalls von Dingen, die sie gar nicht verstehen. Ihre Sicherheit ist nur durch ihre Dummheit möglich. Ein paar Worte, die ich mit einem mir ebenbürtigen Menschen sprechen werde, werden alles unvergleichlich klarer machen als die längsten Reden mit diesen. Er ging einige Male in dem freien Raum des Zimmers auf und ab, drüben sah er die alte Frau, die einen noch viel älteren Greis zum Fenster gezerrt hatte, den sie umschlungen hielt. K. mußte dieser Schaustellung ein Ende machen: » Führen Sie mich zu Ihrem Vorgesetzten «, sagte er. » Wenn er es wünscht; nicht früher «, sagte der Wächter, der Willem genannt worden war. » Und nun rate ich Ihnen «, fügte er hinzu, » in Ihr Zimmer zu gehen, sich ruhig zu verhalten und darauf zu warten, was über Sie verfügt werden wird. Wir raten Ihnen, zerstreuen Sie sich nicht durch nutzlose Gedanken, sondern sammeln Sie sich, es werden große Anforderungen an Sie gestellt werden. Sie haben uns nicht so behandelt, wie es unser Entgegenkommen verdient hätte, Sie haben vergessen, daß wir, mögen wir auch sein was immer, zumindest jetzt Ihnen gegenüber freie Männer sind, das ist kein kleines Übergewicht. Trotzdem sind wir bereit, falls Sie Geld haben, Ihnen ein kleines Frühstück aus dem Kaffeehaus drüben zu bringen. « Ohne auf dieses Angebot zu antworten, stand K. ein Weilchen lang still. Vielleicht würden ihn die beiden, wenn er die Tür des folgenden Zimmers oder gar die Tür des Vorzimmers öffnete, gar nicht zu hindern wagen, vielleicht wäre es die einfachste Lösung des Ganzen, daß er es auf die Spitze trieb. Aber vielleicht würden sie ihn doch packen und, war er einmal niedergeworfen, so war auch alle Überlegenheit verloren, die er jetzt ihnen gegenüber in gewisser Hinsicht doch wahrte. Deshalb zog er die Sicherheit der Lösung vor, wie sie der natürliche Verlauf bringen mußte, und ging in sein Zimmer zurück, ohne daß von seiner Seite oder von Seite der Wächter ein weiteres Wort gefallen wäre. Er warf sich auf sein Bett und nahm vom Waschtisch einen schönen Apfel, den er sich gestern abend für das Frühstück vorbereitet hatte. Jetzt war er sein einziges Frühstück und jedenfalls, wie er sich beim ersten großen Bissen versicherte, viel besser, als das Frühstück aus dem schmutzigen Nachtcafé gewesen wäre, das er durch die Gnade der Wächter hätte bekommen können. Er fühlte sich wohl und zuversichtlich, in der Bank versäumte er zwar heute vormittag seinen Dienst, aber das war bei der verhältnismäßig hohen Stellung, die er dort einnahm, leicht entschuldigt. Sollte er die wirkliche Entschuldigung anführen? Er gedachte es zu tun. Würde man ihm nicht glauben, was in diesem Fall begreiflich war, so konnte er Frau Grubach als Zeugin führen oder auch die beiden Alten von drüben, die wohl jetzt auf dem Marsch zum gegenüberliegenden Fenster waren. Es wunderte K., wenigstens aus dem Gedankengang der Wächter wunderte es ihn, daß sie ihn in das Zimmer getrieben und ihn hier allein gelassen hatten, wo er doch zehnfache Möglichkeit hatte, sich umzubringen. Gleichzeitig allerdings fragte er sich, diesmal aus seinem Gedankengang, was für einen Grund er haben könnte, es zu tun. Etwa weil die zwei nebenan saßen und sein Frühstück abgefangen hatten? Es wäre so sinnlos gewesen, sich umzubringen, daß er, selbst wenn er es hätte tun wollen, infolge der Sinnlosigkeit dazu nicht imstande gewesen wäre. Wäre die geistige Beschränktheit der Wächter nicht so auffallend gewesen, so hätte man annehmen können, daß auch sie, infolge der gleichen Überzeugung, keine Gefahr darin gesehen hätten, ihn allein zu lassen. Sie mochten jetzt, wenn sie wollten, zusehen, wie er zu einem Wandschränkchen ging, in dem er einen guten Schnaps aufbewahrte, wie er ein Gläschen zuerst zum Ersatz des Frühstücks leerte und wie er ein zweites Gläschen dazu bestimmte, sich Mut zu machen, das letztere nur aus Vorsicht für den unwahrscheinlichen Fall, daß es nötig sein sollte. Da erschreckte ihn ein Zuruf aus dem Nebenzimmer derartig, daß er mit den Zähnen ans Glas schlug. » Der Aufseher ruft Sie! « hieß es. Es war nur das Schreien, das ihn erschreckte, dieses kurze, abgehackte, militärische Schreien, das er dem Wächter Franz gar nicht zugetraut hätte. Der Befehl selbst war ihm sehr willkommen. » Endlich! « rief er zurück, versperrte den Wandschrank und eilte sofort ins Nebenzimmer. Dort standen die zwei Wächter und jagten ihn, als wäre das selbstverständlich, wieder in sein Zimmer zurück. » Was fällt Euch ein? « riefen sie. » Im Hemd wollt Ihr vor den Aufseher? Er läßt Euch durchprügeln und uns mit! « » Laßt mich, zum Teufel! « rief K., der schon bis zu seinem Kleiderkasten zurückgedrängt war, » wenn man mich im Bett überfällt, kann man nicht erwarten, mich im Festanzug zu finden. « » Es hilft nichts «, sagten die Wächter, die immer, wenn K. schrie, ganz ruhig, ja fast traurig wurden und ihn dadurch verwirrten oder gewissermaßen zur Besinnung brachten. » Lächerliche Zeremonien! « brummte er noch, hob aber schon einen Rock vom Stuhl und hielt ihn ein Weilchen mit beiden Händen, als unterbreite er ihn dem Urteil der Wächter. Sie schüttelten die Köpfe. » Es muß ein schwarzer Rock sein «, sagten sie. K. warf daraufhin den Rock zu Boden und sagte – er wußte selbst nicht, in welchem Sinne er es sagte –: » Es ist doch noch nicht die Hauptverhandlung. « Die Wächter lächelten, blieben aber bei ihrem: » Es muß ein schwarzer Rock sein. « » Wenn ich dadurch die Sache beschleunige, soll es mir recht sein «, sagte K., öffnete den Kleiderkasten, suchte lange unter den vielen Kleidern, wählte sein bestes schwarzes Kleid, ein Jackettkleid, das durch seine Taille unter den Bekannten fast Aufsehen gemacht hatte, zog nun auch ein anderes Hemd hervor und begann, sich sorgfältig anzuziehen. Im geheimen glaubte er, eine Beschleunigung des Ganzen damit erreicht zu haben, daß die Wächter vergessen hatten, ihn zum Bad zu zwingen. Er beobachtete sie, ob sie sich vielleicht daran doch erinnern würden, aber das fiel ihnen natürlich gar nicht ein, dagegen vergaß Willem nicht, Franz mit der Meldung, daß sich K. anziehe, zum Aufseher zu schicken. Als er vollständig angezogen war, mußte er knapp vor Willem durch das leere Nebenzimmer in das folgende Zimmer gehen, dessen Tür mit beiden Flügeln bereits geöffnet war. Dieses Zimmer wurde, wie K. genau wußte, seit kurzer Zeit von einem Fräulein Bürstner, einer Schreibmaschinistin, bewohnt, die sehr früh in die Arbeit zu gehen pflegte, spät nach Hause kam und mit der K. nicht viel mehr als die Grußworte gewechselt hatte. Jetzt war das Nachttischchen von ihrem Bett als Verhandlungstisch in die Mitte des Zimmers gerückt, und der Aufseher saß hinter ihm. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen und einen Arm auf die Rückenlehne des Stuhles gelegt. In einer Ecke des Zimmers standen drei junge Leute und sahen die Photographien des Fräulein Bürstner an, die in einer an der Wand aufgehängten Matte steckten. An der Klinke des offenen Fensters hing eine weiße Bluse. Im gegenüberliegenden Fenster lagen wieder die zwei Alten, doch hatte sich ihre Gesellschaft vergrößert, denn hinter ihnen, sie weit überragend, stand ein Mann mit einem auf der Brust offenen Hemd, der seinen rötlichen Spitzbart mit den Fingern drückte und drehte. » Josef K.? « fragte der Aufseher, vielleicht nur um K.s zerstreute Blicke auf sich zu lenken. K. nickte. » Sie sind durch die Vorgänge des heutigen Morgens wohl sehr überrascht? « fragte der Aufseher und verschob dabei mit beiden Händen die wenigen Gegenstände, die auf dem Nachttischchen lagen, die Kerze mit Zündhölzchen, ein Buch und ein Nadelkissen, als seien es Gegenstände, die er zur Verhandlung benötige. » Gewiß «, sagte K., und das Wohlgefühl, endlich einem vernünftigen Menschen gegenüberzustehen und über seine Angelegenheit mit ihm sprechen zu können, ergriff ihn. » Gewiß, ich bin überrascht, aber ich bin keineswegs sehr überrascht. « » Nicht sehr überrascht? « fragte der Aufseher und stellte nun die Kerze in die Mitte des Tischchens, während er die anderen Sachen um sie gruppierte. » Sie mißverstehen mich vielleicht «, beeilte sich K. zu bemerken. » Ich meine « – hier unterbrach sich K. und sah sich nach einem Sessel um. » Ich kann mich doch setzen? « fragte er. » Es ist nicht üblich «, antwortete der Aufseher. » Ich meine «, sagte nun K. ohne weitere Pause, » ich bin allerdings sehr überrascht, aber man ist, wenn man dreißig Jahre auf der Welt ist und sich allein hat durchschlagen müssen, wie es mir beschieden war, gegen Überraschungen abgehärtet und nimmt sie nicht zu schwer. Besonders die heutige nicht. « » Warum besonders die heutige nicht? « » Ich will nicht sagen, daß ich das Ganze für einen Spaß ansehe, dafür scheinen mir die Veranstaltungen, die gemacht wurden, doch zu umfangreich. Es müßten alle Mitglieder der Pension daran beteiligt sein und auch Sie alle, das ginge über die Grenzen eines Spaßes. Ich will also nicht sagen, daß es ein Spaß ist. « » Ganz richtig «, sagte der Aufseher und sah nach, wieviel Zündhölzchen in der Zündhölzchenschachtel waren. » Andererseits aber «, fuhr K. fort und wandte sich hierbei an alle und hätte gern sogar die drei bei den Photographien sich zugewendet, » andererseits aber kann die Sache auch nicht viel Wichtigkeit haben. Ich folgere das daraus, daß ich angeklagt bin, aber nicht die geringste Schuld auffinden kann, wegen deren man mich anklagen könnte. Aber auch das ist nebensächlich, die Hauptfrage ist, von wem bin ich angeklagt? Welche Behörde führt das Verfahren? Sind Sie Beamte? Keiner hat eine Uniform, wenn man nicht Ihr Kleid « – hier wandte er sich an Franz – » eine Uniform nennen will, aber es ist doch eher ein Reiseanzug. In diesen Fragen verlange ich Klarheit, und ich bin überzeugt, daß wir nach dieser Klarstellung voneinander den herzlichsten Abschied werden nehmen können. « Der Aufseher schlug die Zündhölzchenschachtel auf den Tisch nieder. » Sie befinden sich in einem großen Irrtum «, sagte er. » Diese Herren hier und ich sind für Ihre Angelegenheit vollständig nebensächlich, ja wir wissen sogar von ihr fast nichts. Wir könnten die regelrechtesten Uniformen tragen, und Ihre Sache würde um nichts schlechter stehen. Ich kann Ihnen auch durchaus nicht sagen, daß Sie angeklagt sind oder vielmehr, ich weiß nicht, ob Sie es sind. Sie sind verhaftet, das ist richtig, mehr weiß ich nicht. Vielleicht haben die Wächter etwas anderes geschwätzt, dann ist es eben nur Geschwätz gewesen. Wenn ich nun aber auch Ihre Fragen nicht beantworte, so kann ich Ihnen doch raten, denken Sie weniger an uns und an das, was mit Ihnen geschehen wird, denken Sie lieber mehr an sich. Und machen Sie keinen solchen Lärm mit dem Gefühl Ihrer Unschuld, es stört den nicht gerade schlechten Eindruck, den Sie im übrigen machen. Auch sollten Sie überhaupt im Reden zurückhaltender sein, fast alles, was Sie vorhin gesagt haben, hätte man auch, wenn Sie nur ein paar Worte gesagt hätten, Ihrem Verhalten entnehmen können, außerdem war es nichts für Sie übermäßig Günstiges. « K. starrte den Aufseher an. Schulmäßige Lehren bekam er hier von einem vielleicht jüngeren Menschen? Für seine Offenheit wurde er mit einer Rüge bestraft? Und über den Grund seiner Verhaftung und über deren Auftraggeber erfuhr er nichts? Er geriet in eine gewisse Aufregung, ging auf und ab, woran ihn niemand hinderte, schob seine Manschetten zurück, befühlte die Brust, strich sein Haar zurecht, kam an den drei Herren vorüber, sagte: » Es ist ja sinnlos «, worauf sich diese zu ihm umdrehten und ihn entgegenkommend, aber ernst ansahen und machte endlich wieder vor dem Tisch des Aufsehers halt. » Der Staatsanwalt Hasterer ist mein guter Freund «, sagte er, » kann ich ihm telephonieren? «, » Gewiß «, sagte der Aufseher, » aber ich weiß nicht, welchen Sinn das haben sollte, es müßte denn sein, daß Sie irgendeine private Angelegenheit mit ihm zu besprechen haben. « » Welchen Sinn? « rief K., mehr bestürzt als geärgert. » Wer sind Sie denn? Sie wollen einen Sinn und führen dieses Sinnloseste auf, das es gibt? Ist es nicht zum Steinerweichen? Die Herren haben mich zuerst überfallen, und jetzt sitzen oder stehen sie hier herum und lassen mich vor Ihnen die Hohe Schule reiten. Welchen Sinn es hätte, an einen Staatsanwalt zu telephonieren, wenn ich angeblich verhaftet bin? Gut, ich werde nicht telephonieren. « » Aber doch «, sagte der Aufseher und streckte die Hand zum Vorzimmer aus, wo das Telephon war, » bitte, telephonieren Sie doch. « » Nein, ich will nicht mehr «, sagte K. und ging zum Fenster. Drüben war noch die Gesellschaft beim Fenster und schien nur jetzt dadurch, daß K. ans Fenster herangetreten war, in der Ruhe des Zuschauens ein wenig gestört. Die Alten wollten sich erheben, aber der Mann hinter ihnen beruhigte sie. » Dort sind auch solche Zuschauer «, rief K. ganz laut dem Aufseher zu und zeigte mit dem Zeigefinger hinaus. » Weg von dort «, rief er dann hinüber. Die drei wichen auch sofort ein paar Schritte zurück, die beiden Alten sogar noch hinter den Mann, der sie mit seinem breiten Körper deckte und, nach seinen Mundbewegungen zu schließen, irgend etwas auf die Entfernung hin Unverständliches sagte. Ganz aber verschwanden sie nicht, sondern schienen auf den Augenblick zu warten, in dem sie sich unbemerkt wieder dem Fenster nähern könnten. » Zudringliche, rücksichtslose Leute! « sagte K., als er sich ins Zimmer zurückwendete. Der Aufseher stimmte ihm möglicherweise zu, wie K. mit einem Seitenblick zu erkennen glaubte. Aber es war ebensogut möglich, daß er gar nicht zugehört hatte, denn er hatte eine Hand fest auf den Tisch gedrückt und schien die Finger ihrer Länge nach zu vergleichen. Die zwei Wächter saßen auf einem mit einer Schmuckdecke verhüllten Koffer und rieben ihre Knie. Die drei jungen Leute hatten die Hände in die Hüften gelegt und sahen ziellos herum. Es war still wie in irgendeinem vergessenen Büro. » Nun, meine Herren «, rief K., es schien ihm einen Augenblick lang, als trage er alle auf seinen Schultern, » Ihrem Aussehen nach zu schließen, dürfte meine Angelegenheit beendet sein. Ich bin der Ansicht, daß es am besten ist, über die Berechtigung oder Nichtberechtigung Ihres Vorgehens nicht mehr nachzudenken und der Sache durch einen gegenseitigen Händedruck einen versöhnlichen Abschluß zu geben. Wenn auch Sie meiner Ansicht sind, dann bitte – « und er trat an den Tisch des Aufsehers hin und reichte ihm die Hand. Der Aufseher hob die Augen, nagte an den Lippen und sah auf K.s ausgestreckte Hand; noch immer glaubte K., der Aufseher werde einschlagen. Dieser aber stand auf, nahm einen harten, runden Hut, der auf Fräulein Bürstners Bett lag, und setzte sich ihn vorsichtig mit beiden Händen auf, wie man es bei der Anprobe neuer Hüte tut. » Wie einfach Ihnen alles scheint! « sagte er dabei zu K., » wir sollten der Sache einen versöhnlichen Abschluß geben, meinten Sie? Nein, nein, das geht wirklich nicht. Womit ich andererseits durchaus nicht sagen will, daß Sie verzweifeln sollen. Nein, warum denn? Sie sind nur verhaftet, nichts weiter. Das hatte ich Ihnen mitzuteilen, habe es getan und habe auch gesehen, wie Sie es aufgenommen haben. Damit ist es für heute genug und wir können uns verabschieden, allerdings nur vorläufig. Sie werden wohl jetzt in die Bank gehen wollen? « » In die Bank? « fragte K., » ich dachte, ich wäre verhaftet. « K. fragte mit einem gewissen Trotz, denn obwohl sein Handschlag nicht angenommen worden war, fühlte er sich, insbesondere seitdem der Aufseher aufgestanden war, immer unabhängiger von allen diesen Leuten. Er spielte mit ihnen. Er hatte die Absicht, falls sie weggehen sollten, bis zum Haustor nachzulaufen und ihnen seine Verhaftung anzubieten. Darum wiederholte er auch: » Wie kann ich denn in die Bank gehen, da ich verhaftet bin? « » Ach so «, sagte der Aufseher, der schon bei der Tür war, » Sie haben mich mißverstanden. Sie sind verhaftet, gewiß, aber das soll Sie nicht hindern, Ihren Beruf zu erfüllen. Sie sollen auch in Ihrer gewöhnlichen Lebensweise nicht gehindert sein. « a » Dann ist das Verhaftetsein nicht sehr schlimm «, sagte K. und ging nahe an den Aufseher heran. » Ich meinte es niemals anders «, sagte dieser. » Es scheint aber dann nicht einmal die Mitteilung der Verhaftung sehr notwendig gewesen zu sein «, sagte K. und ging noch näher. Auch die anderen hatten sich genähert. Alle waren jetzt auf einem engen Raum bei der Tür versammelt. » Es war meine Pflicht «, sagte der Aufseher. » Eine dumme Pflicht «, sagte K. unnachgiebig. » Mag sein «, antwortete der Aufseher, » aber wir wollen mit solchen Reden nicht unsere Zeit verlieren. Ich hatte angenommen, daß Sie in die Bank gehen wollen. Da Sie auf alle Worte aufpassen, füge ich hinzu: ich zwinge Sie nicht, in die Bank zu gehen, ich hatte nur angenommen, daß Sie es wollen. Und um Ihnen das zu erleichtern und Ihre Ankunft in der Bank möglichst unauffällig zu machen, habe ich diese drei Herren, Ihre Kollegen, hier zu Ihrer Verfügung gestellt. « » Wie? « rief K. und staunte die drei an. Diese so uncharakteristischen, blutarmen, jungen Leute, die er immer noch nur als Gruppe bei den Photographien in der Erinnerung hatte, waren tatsächlich Beamte aus seiner Bank, nicht Kollegen, das war zu viel gesagt und bewies eine Lücke in der Allwissenheit des Aufsehers, aber untergeordnete Beamte aus der Bank waren es allerdings. Wie hatte K. das übersehen können? Wie hatte er doch hingenommen sein müssen von dem Aufseher und den Wächtern, um diese drei nicht zu erkennen! Den steifen, die Hände schwingenden Rabensteiner, den blonden Kullich mit den tiefliegenden Augen und Kaminer mit dem unausstehlichen, durch eine chronische Muskelzerrung bewirkten Lächeln. » Guten Morgen «, sagte K. nach einem Weilchen und reichte den sich korrekt verbeugenden Herren die Hand. » Ich habe Sie gar nicht erkannt. Nun werden wir also an die Arbeit gehen, nicht? « Die Herren nickten lachend und eifrig, als hätten sie die ganze Zeit über darauf gewartet, nur als K. seinen Hut vermißte, der in seinem Zimmer liegengeblieben war, liefen sie sämtlich hintereinander, ihn holen, was immerhin auf eine gewisse Verlegenheit schließen ließ. K. stand still und sah ihnen durch die zwei offenen Türen nach, der letzte war natürlich der gleichgültige Rabensteiner, der bloß einen eleganten Trab angeschlagen hatte. Kaminer überreichte den Hut, und K. mußte sich, wie dies übrigens auch öfters in der Bank nötig war, ausdrücklich sagen, daß Kaminers Lächeln nicht Absicht war, ja daß er überhaupt absichtlich nicht lächeln konnte. Im Vorzimmer öffnete dann Frau Grubach, die gar nicht sehr schuldbewußt aussah, der ganzen Gesellschaft die Wohnungstür, und K. sah, wie so oft, auf ihr Schürzenband nieder, das so unnötig tief in ihren mächtigen Leib einschnitt. Unten entschloß sich K., die Uhr in der Hand, ein Automobil zu nehmen, um die schon halbstündige Verspätung nicht unnötig zu vergrößern. Kaminer lief zur Ecke, um den Wagen zu holen, die zwei anderen versuchten offensichtlich, K. zu zerstreuen, als plötzlich Kullich auf das gegenüberliegende Haustor zeigte, in dem eben der große Mann mit dem blonden Spitzbart erschien und, im ersten Augenblick ein wenig verlegen darüber, daß er sich jetzt in seiner ganzen Größe zeigte, zur Wand zurücktrat und sich anlehnte. Die Alten waren wohl noch auf der Treppe. K. ärgerte sich über Kullich, daß dieser auf den Mann aufmerksam machte, den er selbst schon früher gesehen, ja den er sogar erwartet hatte. » Schauen Sie nicht hin! « stieß er hervor, ohne zu bemerken, wie auffallend eine solche Redeweise gegenüber selbständigen Männern war. Es war aber auch keine Erklärung nötig, denn gerade kam das Automobil, man setzte sich und fuhr los. Da erinnerte sich K., daß er das Weggehen des Aufsehers und der Wächter gar nicht bemerkt hatte, der Aufseher hatte ihm die drei Beamten verdeckt und nun wieder die Beamten den Aufseher. Viel Geistesgegenwart bewies das nicht, und K. nahm sich vor, sich in dieser Hinsicht genauer zu beobachten. Doch drehte er sich noch unwillkürlich um und beugte sich über das Hinterdeck des Automobils vor, um möglicherweise den Aufseher und die Wächter noch zu sehen. Aber gleich wendete er sich wieder zurück und lehnte sich bequem in die Wagenecke, ohne auch nur den Versuch gemacht zu haben, jemanden zu suchen. Obwohl es nicht den Anschein hatte, hätte er gerade jetzt Zuspruch nötig gehabt, aber nun schienen die Herren ermüdet, Rabensteiner sah rechts aus dem Wagen, Kullich links, und nur Kaminer stand mit seinem Grinsen zur Verfügung, über das einen Spaß zu machen leider die Menschlichkeit verbot. In diesem Frühjahr pflegte K. die Abende in der Weise zu verbringen, daß er nach der Arbeit, wenn dies noch möglich war – er saß meistens bis neun Uhr im Büro –, einen kleinen Spaziergang allein oder mit Beamten machte und dann in eine Bierstube ging, wo er an einem Stammtisch mit meist älteren Herren gewöhnlich bis elf Uhr beisammensaß. Es gab aber auch Ausnahmen von dieser Einteilung, wenn K. zum Beispiel vom Bankdirektor, der seine Arbeitskraft und Vertrauenswürdigkeit sehr schätzte, zu einer Autofahrt oder zu einem Abendessen in seiner Villa eingeladen wurde. Außerdem ging K. einmal in der Woche zu einem Mädchen namens Elsa, die während der Nacht bis in den späten Morgen als Kellnerin in einer Weinstube bediente und während des Tages nur vom Bett aus Besuche empfing. An diesem Abend aber – der Tag war unter angestrengter Arbeit und vielen ehrenden und freundschaftlichen Geburtstagswünschen schnell verlaufen – wollte K. sofort nach Hause gehen. In allen kleinen Pausen der Tagesarbeit hatte er daran gedacht; ohne genau zu wissen, was er meinte, schien es ihm, als ob durch die Vorfälle des Morgens eine große Unordnung in der ganzen Wohnung der Frau Grubach verursacht worden sei und daß gerade er nötig sei, um die Ordnung wiederherzustellen. War aber einmal diese Ordnung hergestellt, dann war jede Spur jener Vorfälle ausgelöscht und alles nahm seinen alten Gang wieder auf. Insbesondere von den drei Beamten war nichts zu befürchten, sie waren wieder in die große Beamtenschaft der Bank versenkt, es war keine Veränderung an ihnen zu bemerken. K. hatte sie öfters einzeln und gemeinsam in sein Büro berufen, zu keinem andern Zweck, als um sie zu beobachten; immer hatte er sie befriedigt entlassen können. Als er um halb zehn Uhr abends vor dem Hause, in dem er wohnte, ankam, traf er im Haustor einen jungen Burschen, der dort breitbeinig stand und eine Pfeife rauchte. » Wer sind Sie? « fragte K. sofort und brachte sein Gesicht nahe an den Burschen, man sah nicht viel im Halbdunkel des Flurs. » Ich bin der Sohn des Hausmeisters, gnädiger Herr «, antwortete der Bursche, nahm die Pfeife aus dem Mund und trat zur Seite. » Der Sohn des Hausmeisters? « fragte K. und klopfte mit seinem Stock ungeduldig den Boden. » Wünscht der gnädige Herr etwas? Soll ich den Vater holen? « » Nein, nein «, sagte K., in seiner Stimme lag etwas Verzeihendes, als habe der Bursche etwas Böses ausgeführt, er aber verzeihe ihm. » Es ist gut «, sagte er dann und ging weiter, aber ehe er die Treppe hinaufstieg, drehte er sich noch einmal um. Er hätte geradewegs in sein Zimmer gehen können, aber da er mit Frau Grubach sprechen wollte, klopfte er gleich an ihre Tür an. Sie saß mit einem Strickstrumpf am Tisch, auf dem noch ein Haufen alter Strümpfe lag. K. entschuldigte sich zerstreut, daß er so spät komme, aber Frau Grubach war sehr freundlich und wollte keine Entschuldigung hören, für ihn sei sie immer zu sprechen, er wisse sehr gut, daß er ihr bester und liebster Mieter sei. K. sah sich im Zimmer um, es war wieder vollkommen in seinem alten Zustand, das Frühstücksgeschirr, das früh auf dem Tischchen beim Fenster gestanden hatte, war auch schon weggeräumt. » Frauenhände bringen doch im stillen viel fertig «, dachte er, er hätte das Geschirr vielleicht auf der Stelle zerschlagen, aber gewiß nicht hinaustragen können. Er sah Frau Grubach mit einer gewissen Dankbarkeit an. » Warum arbeiten Sie noch so spät? « fragte er. Sie saßen nun beide am Tisch, und K. vergrub von Zeit zu Zeit seine Hand in die Strümpfe. » Es gibt viel Arbeit «, sagte sie, » während des Tages gehöre ich den Mietern; wenn ich meine Sachen in Ordnung bringen will, bleiben mir nur die Abende. « » Ich habe Ihnen heute wohl noch eine außergewöhnliche Arbeit gemacht? « » Wieso denn? « fragte sie, etwas eifriger werdend, die Arbeit ruhte in ihrem Schoße. » Ich meine die Männer, die heute früh hier waren. « » Ach so «, sagte sie und kehrte wieder in ihre Ruhe zurück, » das hat mir keine besondere Arbeit gemacht. « K. sah schweigend zu, wie sie den Strickstrumpf wieder vornahm. Sie scheint sich zu wundern, daß ich davon spreche, dachte er, sie scheint es nicht für richtig zu halten, daß ich davon spreche. Desto wichtiger ist es, daß ich es tue. Nur mit einer alten Frau kann ich davon sprechen. » Doch, Arbeit hat es gewiß gemacht «, sagte er dann, » aber es wird nicht wieder vorkommen. « » Nein, das kann nicht wieder vorkommen «, sagte sie bekräftigend und lächelte K. fast wehmütig an. » Meinen Sie das ernstlich? « fragte K. » Ja «, sagte sie leiser, » aber vor allem dürfen Sie es nicht zu schwer nehmen. Was geschieht nicht alles in der Welt! Da Sie so vertraulich mit mir reden, Herr K., kann ich Ihnen ja eingestehen, daß ich ein wenig hinter der Tür gehorcht habe und daß mir auch die beiden Wächter einiges erzählt haben. Es handelt sich ja um Ihr Glück und das liegt mir wirklich am Herzen, mehr als mir vielleicht zusteht, denn ich bin ja bloß die Vermieterin. Nun, ich habe also einiges gehört, aber ich kann nicht sagen, daß es etwas besonders Schlimmes war. Nein. Sie sind zwar verhaftet, aber nicht so wie ein Dieb verhaftet wird. Wenn man wie ein Dieb verhaftet wird, so ist es schlimm, aber diese Verhaftung –. Es kommt mir wie etwas Gelehrtes vor, entschuldigen Sie, wenn ich etwas Dummes sage, es kommt mir wie etwas Gelehrtes vor, das ich zwar nicht verstehe, das man aber auch nicht verstehen muß. « » Es ist gar nichts Dummes, was Sie gesagt haben, Frau Grubach, wenigstens bin auch ich zum Teil Ihrer Meinung, nur urteile ich über das Ganze noch schärfer als Sie und halte es einfach nicht einmal für etwas Gelehrtes, sondern überhaupt für nichts. Ich wurde überrumpelt, das war es. Wäre ich gleich nach dem Erwachen, ohne mich durch das Ausbleiben der Anna beirren zu lassen, aufgestanden und ohne Rücksicht auf irgend jemand, der mir in den Weg getreten wäre, zu Ihnen gegangen, hätte ich diesmal ausnahmsweise etwa in der Küche gefrühstückt, hätte mir von Ihnen die Kleidungsstücke aus meinem Zimmer bringen lassen, kurz, hätte ich vernünftig gehandelt, so wäre nichts weiter geschehen, es wäre alles, was werden wollte, erstickt worden. Man ist aber so wenig vorbereitet. In der Bank zum Beispiel bin ich vorbereitet, dort könnte mir etwas Derartiges unmöglich geschehen, ich habe dort einen eigenen Diener, das allgemeine Telephon und das Bürotelephon stehen vor mir auf dem Tisch, immerfort kommen Leute, Parteien und Beamte, außerdem aber und vor allem bin ich dort immerfort im Zusammenhang der Arbeit, daher geistesgegenwärtig, es würde mir geradezu ein Vergnügen machen, dort einer solchen Sache gegenübergestellt zu werden. Nun, es ist vorüber und ich wollte eigentlich auch gar nicht mehr darüber sprechen, nur Ihr Urteil, das Urteil einer vernünftigen Frau, wollte ich hören und bin sehr froh, daß wir darin übereinstimmen. Nun müssen Sie mir die Hand reichen, eine solche Übereinstimmung muß durch Handschlag bekräftigt werden. « Ob sie mir die Hand reichen wird? Der Aufseher hat mir die Hand nicht gereicht, dachte er und sah die Frau anders als früher, prüfend an. Sie stand auf, weil auch er aufgestanden war, sie war ein wenig befangen, weil ihr nicht alles, was K. gesagt hatte, verständlich gewesen war. Infolge dieser Befangenheit sagte sie aber etwas, was sie gar nicht wollte und was auch gar nicht am Platze war: » Nehmen Sie es doch nicht so schwer, Herr K. «, sagte sie, hatte Tränen in der Stimme und vergaß natürlich auch den Handschlag. » Ich wüßte nicht, daß ich es schwer nehme «, sagte K., plötzlich ermüdet und das Wertlose aller Zustimmungen dieser Frau einsehend. Bei der Tür fragte er noch: » Ist Fräulein Bürstner zu Hause? « » Nein «, sagte Frau Grubach und lächelte bei dieser trockenen Auskunft mit einer verspäteten vernünftigen Teilnahme. » Sie ist im Theater. Wollten Sie etwas von ihr? Soll ich ihr etwas ausrichten? « » Ach, ich wollte nur ein paar Worte mit ihr reden. « » Ich weiß leider nicht, wann sie kommt; wenn sie im Theater ist, kommt sie gewöhnlich spät. « » Das ist ja ganz gleichgültig «, sagte K. und drehte schon den gesenkten Kopf der Tür zu, um wegzugehen, » ich wollte mich nur bei ihr entschuldigen, daß ich heute ihr Zimmer in Anspruch genommen habe. « » Das ist nicht nötig, Herr K., Sie sind zu rücksichtsvoll, das Fräulein weiß ja von gar nichts, sie war seit dem frühen Morgen noch nicht zu Hause, es ist auch schon alles in Ordnung gebracht, sehen Sie selbst. « Und sie öffnete die Tür zu Fräulein Bürstners Zimmer. » Danke, ich glaube es «, sagte K., ging dann aber doch zu der offenen Tür. Der Mond schien still in das dunkle Zimmer. Soviel man sehen konnte, war wirklich alles an seinem Platz, auch die Bluse hing nicht mehr an der Fensterklinke. Auffallend hoch schienen die Polster im Bett, sie lagen zum Teil im Mondlicht. » Das Fräulein kommt oft spät nach Hause «, sagte K. und sah Frau Grubach an, als trage sie die Verantwortung dafür. » Wie eben junge Leute sind! « sagte Frau Grubach entschuldigend. » Gewiß, gewiß «, sagte K., » es kann aber zu weit gehen. « » Das kann es «, sagte Frau Grubach, » wie sehr haben Sie recht, Herr K. Vielleicht sogar in diesem Fall. Ich will Fräulein Bürstner gewiß nicht verleumden, sie ist ein gutes, liebes Mädchen, freundlich, ordentlich, pünktlich, arbeitsam, ich schätze das alles sehr, aber eines ist wahr, sie sollte stolzer, zurückhaltender sein. Ich habe sie in diesem Monat schon zweimal in entlegenen Straßen und immer mit einem andern Herrn gesehen. Es ist mir sehr peinlich, ich erzähle es, beim wahrhaftigen Gott, nur Ihnen, Herr K., aber es wird sich nicht vermeiden lassen, daß ich auch mit dem Fräulein selbst darüber spreche. Es ist übrigens nicht das Einzige, das sie mir verdächtig macht. « » Sie sind auf ganz falschem Weg «, sagte K. wütend und fast unfähig, es zu verbergen, » übrigens haben Sie offenbar auch meine Bemerkung über das Fräulein mißverstanden, so war es nicht gemeint. Ich warne Sie sogar aufrichtig, dem Fräulein irgend etwas zu sagen, Sie sind durchaus im Irrtum, ich kenne das Fräulein sehr gut, es ist nichts davon wahr, was Sie sagten. Übrigens, vielleicht gehe ich zu weit, ich will Sie nicht hindern, sagen Sie ihr, was Sie wollen. Gute Nacht. « » Herr K. «, sagte Frau Grubach bittend und eilte K. bis zu seiner Tür nach, die er schon geöffnet hatte, » ich will ja noch gar nicht mit dem Fräulein reden, natürlich will ich sie vorher noch weiter beobachten, nur Ihnen habe ich anvertraut, was ich wußte. Schließlich muß es doch im Sinne jedes Mieters sein, wenn man die Pension rein zu erhalten sucht, und nichts anderes ist mein Bestreben dabei. « » Die Reinheit! « rief K. noch durch die Spalte der Tür, » wenn Sie die Pension rein erhalten wollen, müssen Sie zuerst mir kündigen. « Dann schlug er die Tür zu, ein leises Klopfen beachtete er nicht mehr. Dagegen beschloß er, da er gar keine Lust zum Schlafen hatte, noch wachzubleiben und bei dieser Gelegenheit auch festzustellen, wann Fräulein Bürstner kommen würde. Vielleicht wäre es dann auch möglich, so unpassend es sein mochte, noch ein paar Worte mir ihr zu reden. Als er im Fenster lag und die müden Augen drückte, dachte er einen Augenblick sogar daran, Frau Grubach zu bestrafen und Fräulein Bürstner zu überreden, gemeinsam mit ihm zu kündigen. Sofort aber erschien ihm das entsetzlich übertrieben, und er hatte sogar den Verdacht gegen sich, daß er darauf ausging, die Wohnung wegen der Vorfälle am Morgen zu wechseln. Nichts wäre unsinniger und vor allem zweckloser und verächtlicher gewesen. Als er des Hinausschauens auf die leere Straße überdrüssig geworden war, legte er sich auf das Kanapee, nachdem er die Tür zum Vorzimmer ein wenig geöffnet hatte, um jeden, der die Wohnung betrat, gleich vom Kanapee aus sehen zu können. Etwa bis elf Uhr lag er ruhig, eine Zigarre rauchend, auf dem Kanapee. Von da ab hielt er es aber nicht mehr dort aus, sondern ging ein wenig ins Vorzimmer, als könne er dadurch die Ankunft des Fräulein Bürstner beschleunigen. Er hatte kein besonderes Verlangen nach ihr, er konnte sich nicht einmal genau erinnern, wie sie aussah, aber nun wollte er mit ihr reden und es reizte ihn, daß sie durch ihr spätes Kommen auch noch in den Abschluß dieses Tages Unruhe und Unordnung brachte. Sie war auch schuld daran, daß er heute nicht zu Abend gegessen und daß er den für heute beabsichtigten Besuch bei Elsa unterlassen hatte. Beides konnte er allerdings noch dadurch nachholen, daß er jetzt in das Weinlokal ging, in dem Elsa bedienstet war. Er wollte es auch noch später nach der Unterredung mit Fräulein Bürstner tun. Es war halb zwölf vorüber, als jemand im Treppenhaus zu hören war. K., der, seinen Gedanken hingegeben, im Vorzimmer so, als wäre es sein eigenes Zimmer, laut auf und ab ging, flüchtete hinter seine Tür. Es war Fräulein Bürstner, die gekommen war. Fröstelnd zog sie, während sie die Tür versperrte, einen seidenen Schal um ihre schmalen Schultern zusammen. Im nächsten Augenblick mußte sie in ihr Zimmer gehen, in das K. gewiß um Mitternacht nicht eindringen durfte; er mußte sie also jetzt ansprechen, hatte aber unglücklicherweise versäumt, das elektrische Licht in seinem Zimmer anzudrehen, so daß sein Vortreten aus dem dunklen Zimmer den Anschein eines Überfalls hatte und wenigstens sehr erschrecken mußte. In seiner Hilflosigkeit und da keine Zeit zu verlieren war, flüsterte er durch den Türspalt: » Fräulein Bürstner. « Es klang wie eine Bitte, nicht wie ein Anruf. » Ist jemand hier? « fragte Fräulein Bürstner und sah sich mit großen Augen um. » Ich bin es «, sagte K. und trat vor. » Ach, Herr K.! « sagte Fräulein Bürstner lächelnd. » Guten Abend «, und sie reichte ihm die Hand. » Ich wollte ein paar Worte mit Ihnen sprechen, wollen Sie mir das jetzt erlauben? « » Jetzt? « fragte Fräulein Bürstner, » muß es jetzt sein? Es ist ein wenig sonderbar, nicht? « » Ich warte seit neun Uhr auf Sie. « » Nun ja, ich war im Theater, ich wußte doch nichts von Ihnen. « » Der Anlaß für das, was ich Ihnen sagen will, hat sich erst heute ergeben. « » So, nun ich habe ja nichts Grundsätzliches dagegen, außer daß ich zum Hinfallen müde bin. Also kommen Sie auf ein paar Minuten in mein Zimmer. Hier könnten wir uns auf keinen Fall unterhalten, wir wecken ja alle und das wäre mir unseretwegen noch unangenehmer als der Leute wegen. Warten Sie hier, bis ich in meinem Zimmer angezündet habe, und drehen Sie dann hier das Licht ab. « K. tat so, wartete dann aber noch bis Fräulein Bürstner ihn aus ihrem Zimmer nochmals leise aufforderte zu kommen. » Setzen Sie sich «, sagte sie und zeigte auf die Ottomane, sie selbst blieb aufrecht am Bettpfosten trotz der Müdigkeit, von der sie gesprochen hatte; nicht einmal ihren kleinen, aber mit einer Überfülle von Blumen geschmückten Hut legte sie ab. » Was wollten Sie also? Ich bin wirklich neugierig. « Sie kreuzte leicht die Beine. » Sie werden vielleicht sagen «, begann K., » daß die Sache nicht so dringend war, um jetzt besprochen zu werden, aber – « » Einleitungen überhöre ich immer «, sagte Fräulein Bürstner. » Das erleichtert meine Aufgabe «, sagte K. » Ihr Zimmer ist heute früh, gewissermaßen durch meine Schuld, ein wenig in Unordnung gebracht worden, es geschah durch fremde Leute gegen meinen Willen und doch, wie gesagt, durch meine Schuld; dafür wollte ich um Entschuldigung bitten. « » Mein Zimmer? « fragte Fräulein Bürstner und sah statt des Zimmers K. prüfend an. » Es ist so «, sagte K., und nun sahen beide einander zum erstenmal in die Augen, » die Art und Weise, in der es geschah, ist an sich keines Wortes wert. « » Aber doch das eigentlich Interessante «, sagte Fräulein Bürstner. » Nein «, sagte K. » Nun «, sagte Fräulein Bürstner, » ich will mich nicht in Geheimnisse eindrängen, bestehen Sie darauf, daß es uninteressant ist, so will ich auch nichts dagegen einwenden. Die Entschuldigung, um die Sie bitten, gebe ich Ihnen gern, besonders da ich keine Spur einer Unordnung finden kann. « Sie machte, die flachen Hände tief an die Hüften gelegt, einen Rundgang durch das Zimmer. Bei der Matte mit den Photographien blieb sie stehen. » Sehen Sie doch! « rief sie. » Meine Photographien sind wirklich durcheinandergeworfen. Das ist aber häßlich. Es ist also jemand unberechtigterweise in meinem Zimmer gewesen. « K. nickte und verfluchte im stillen den Beamten Kaminer, der seine öde, sinnlose Lebhaftigkeit niemals zähmen konnte. » Es ist sonderbar «, sagte Fräulein Bürstner, » daß ich gezwungen bin, Ihnen etwas zu verbieten, was Sie sich selbst verbieten müßten, nämlich in meiner Abwesenheit mein Zimmer zu betreten. « » Ich erklärte Ihnen doch, Fräulein «, sagte K. und ging auch zu den Photographien, » daß nicht ich es war, der sich an Ihren Photographien vergangen hat; aber da Sie mir nicht glauben, so muß ich also eingestehen, daß die Untersuchungskommission drei Bankbeamte mitgebracht hat, von denen der eine, den ich bei nächster Gelegenheit aus der Bank hinausbefördern werde, die Photographien wahrscheinlich in die Hand genommen hat. Ja, es war eine Untersuchungskommission hier «, fügte K. hinzu, da ihn das Fräulein mit einem fragenden Blick ansah. » Ihretwegen? « fragte das Fräulein. » Ja «, antwortete K. » Nein! « rief das Fräulein und lachte. » Doch «, sagte K., » glauben Sie denn, daß ich schuldlos bin? « » Nun, schuldlos... « sagte das Fräulein, » ich will nicht gleich ein vielleicht folgenschweres Urteil aussprechen, auch kenne ich Sie doch nicht, es muß doch schon ein schwerer Verbrecher sein, dem man gleich eine Untersuchungskommission auf den Leib schickt. Da Sie aber doch frei sind – ich schließe wenigstens aus Ihrer Ruhe, daß Sie nicht aus dem Gefängnis entlaufen sind – so können Sie doch kein solches Verbrechen begangen haben. « » Ja «, sagte K., » aber die Untersuchungskommission kann doch eingesehen haben, daß ich unschuldig bin oder doch nicht so schuldig, wie angenommen wurde. « » Gewiß, das kann sein «, sagte Fräulein Bürstner sehr aufmerksam. » Sehen Sie «, sagte K., » Sie haben nicht viel Erfahrung in Gerichtssachen. « » Nein, das habe ich nicht «, sagte Fräulein Bürstner, » und habe es auch schon oft bedauert, denn ich möchte alles wissen, und gerade Gerichtssachen interessieren mich ungemein. Das Gericht hat eine eigentümliche Anziehungskraft, nicht? Aber ich werde in dieser Richtung meine Kenntnisse sicher vervollständigen, denn ich trete nächsten Monat als Kanzleikraft in ein Advokatenbüro ein. « » Das ist sehr gut «, sagte K., » Sie werden mir dann in meinem Prozeß ein wenig helfen können. « » Das könnte sein «, sagte Fräulein Bürstner, » warum denn nicht? Ich verwende gern meine Kenntnisse. « » Ich meine es auch im Ernst «, sagte K., » oder zumindest in dem halben Ernst, in dem Sie es meinen. Um einen Advokaten heranzuziehen, dazu ist die Sache doch zu kleinlich, aber einen Ratgeber könnte ich gut brauchen. « » Ja, aber wenn ich Ratgeber sein soll, müßte ich wissen, worum es sich handelt «, sagte Fräulein Bürstner. » Das ist eben der Haken «, sagte K., » das weiß ich selbst nicht. « » Dann haben Sie sich also einen Spaß aus mir gemacht «, sagte Fräulein Bürstner übermäßig enttäuscht, » es war höchst unnötig, sich diese späte Nachtzeit dazu auszusuchen. « Und sie ging von den Photographien weg, wo sie so lange vereinigt gestanden hatten. » Aber nein, Fräulein «, sagte K., » ich mache keinen Spaß. Daß Sie mir nicht glauben wollen! Was ich weiß, habe ich Ihnen schon gesagt. Sogar mehr als ich weiß, denn es war gar keine Untersuchungskommission, ich nenne es so, weil ich keinen andern Namen dafür weiß. Es wurde gar nichts untersucht, ich wurde nur verhaftet, aber von einer Kommission. « Fräulein Bürstner saß auf der Ottomane und lachte wieder. » Wie war es denn? « fragte sie. » Schrecklich «, sagte K., aber er dachte jetzt gar nicht daran, sondern war ganz vom Anblick des Fräulein Bürstner ergriffen, die das Gesicht auf eine Hand stützte – der Ellbogen ruhte auf dem Kissen der Ottomane – während die andere Hand langsam die Hüfte strich. » Das ist zu allgemein «, sagte Fräulein Bürstner. » Was ist zu allgemein? « fragte K. Dann erinnerte er sich und fragte: » Soll ich Ihnen zeigen, wie es gewesen ist? « Er wollte Bewegung machen und doch nicht weggehen. » Ich bin schon müde «, sagte Fräulein Bürstner. » Sie kamen so spät «, sagte K. » Nun endet es damit, daß ich Vorwürfe bekomme, es ist auch berechtigt, denn ich hätte Sie nicht mehr hereinlassen sollen. Notwendig war es ja auch nicht, wie es sich gezeigt hat. « » Es war notwendig, das werden Sie erst jetzt sehn «, sagte K. » Darf ich das Nachttischchen von Ihrem Bett herrücken? « » Was fällt Ihnen ein? « sagte Fräulein Bürstner, » das dürfen Sie natürlich nicht! « » Dann kann ich es Ihnen nicht zeigen «, sagte K. aufgeregt, als füge man ihm dadurch einen unermeßlichen Schaden zu. » Ja, wenn Sie es zur Darstellung brauchen, dann rücken Sie das Tischchen nur ruhig fort «, sagte Fräulein Bürstner und fügte nach einem Weilchen mit schwächerer Stimme hinzu: » Ich bin so müde, daß ich mehr erlaube, als gut ist. « K. stellte das Tischchen in die Mitte des Zimmers und setzte sich dahinter. » Sie müssen sich die Verteilung der Personen richtig vorstellen, es ist sehr interessant. Ich bin der Aufseher, dort auf dem Koffer sitzen zwei Wächter, bei den Photographien stehen drei junge Leute. An der Fensterklinke hängt, was ich nur nebenbei erwähne, eine weiße Bluse. Und jetzt fängt es an. Ja, ich vergesse mich. Die wichtigste Person, also ich, stehe hier vor dem Tischchen. Der Aufseher sitzt äußerst bequem, die Beine übereinandergelegt, den Arm hier über die Lehne hinunterhängend, ein Lümmel sondergleichen. Und jetzt fängt es also wirklich an. Der Aufseher ruft, als ob er mich wecken müßte, er schreit geradezu, ich muß leider, wenn ich es Ihnen begreiflich machen will, auch schreien, es ist übrigens nur mein Name, den er so schreit. « Fräulein Bürstner, die lachend zuhörte, legte den Zeigefinger an den Mund, um K. am Schreien zu hindern, aber es war zu spät. K. war zu sehr in der Rolle, er rief langsam: » Josef K.! «, übrigens nicht so laut, wie er gedroht hatte, aber doch so, daß sich der Ruf, nachdem er plötzlich ausgestoßen war, erst allmählich im Zimmer zu verbreiten schien. Da klopfte es an die Tür des Nebenzimmers einigemal, stark, kurz und regelmäßig. Fräulein Bürstner erbleichte und legte die Hand aufs Herz. K. erschrak deshalb besonders stark, weil er noch ein Weilchen ganz unfähig gewesen war, an etwas anderes zu denken als an die Vorfälle des Morgens und an das Mädchen, dem er sie vorführte. Kaum hatte er sich gefaßt, sprang er zu Fräulein Bürstner und nahm ihre Hand. » Fürchten Sie nichts «, flüsterte er, » ich werde alles in Ordnung bringen. Wer kann es aber sein? Hier nebenan ist doch nur das Wohnzimmer, in dem niemand schläft. » Doch «, flüsterte Fräulein Bürstner an K.s Ohr, » seit gestern schläft hier ein Neffe von Frau Grubach, ein Hauptmann. Es ist gerade kein anderes Zimmer frei. Auch ich habe es vergessen. Daß Sie so schreien mußten! Ich bin unglücklich darüber. « » Dafür ist gar kein Grund «, sagte K. und küßte, als sie jetzt auf das Kissen zurücksank, ihre Stirn. » Weg, weg «, sagte sie und richtete sich eilig wieder auf, » gehen Sie doch, gehen Sie doch, was wollen Sie, er horcht doch an der Tür, er hört doch alles. Wie Sie mich quälen! « » Ich gehe nicht früher «, sagte K., » als Sie ein wenig beruhigt sind. Kommen Sie in die andere Ecke des Zimmers, dort kann er uns nicht hören. « Sie ließ sich dorthin führen. » Sie überlegen nicht «, sagte er, » daß es sich zwar um eine Unannehmlichkeit für Sie handelt, aber durchaus nicht um eine Gefahr. Sie wissen, wie mich Frau Grubach, die in dieser Sache doch entscheidet, besonders da der Hauptmann ihr Neffe ist, geradezu verehrt und alles, was ich sage, unbedingt glaubt. Sie ist auch im übrigen von mir abhängig, denn sie hat eine größere Summe von mir geliehen. Jeden Ihrer Vorschläge über eine Erklärung für unser Beisammen nehme ich an, wenn es nur ein wenig zweckentsprechend ist, und verbürge mich, Frau Grubach dazu zu bringen, die Erklärung nicht nur vor der Öffentlichkeit, sondern wirklich und aufrichtig zu glauben. Mich müssen Sie dabei in keiner Weise schonen. Wollen Sie verbreitet haben, daß ich Sie überfallen habe, so wird Frau Grubach in diesem Sinne unterrichtet werden und wird es glauben, ohne das Vertrauen zu mir zu verlieren, so sehr hängt sie an mir. « Fräulein Bürstner sah, still und ein wenig zusammengesunken, vor sich auf den Boden. » Warum sollte Frau Grubach nicht glauben, daß ich Sie überfallen habe? « fügte K. hinzu. Vor sich sah er ihr Haar, geteiltes, niedrig gebauschtes, fest zusammengehaltenes, rötliches Haar. Er glaubte, sie werde ihm den Blick zuwenden, aber sie sagte in unveränderter Haltung: » Verzeihen Sie, ich bin durch das plötzliche Klopfen so erschreckt worden, nicht so sehr durch die Folgen, die die Anwesenheit des Hauptmannes haben könnte. Es war so still nach Ihrem Schrei, und da klopfte es, deshalb bin ich so erschrocken, ich saß auch in der Nähe der Tür, es klopfte fast neben mir. Für Ihre Vorschläge danke ich, aber ich nehme sie nicht an. Ich kann für alles, was in meinem Zimmer geschieht, die Verantwortung tragen, und zwar gegenüber jedem. Ich wundere mich, daß Sie nicht merken, was für eine Beleidigung für mich in Ihren Vorschlägen liegt, neben den guten Absichten natürlich, die ich gewiß anerkenne. Aber nun gehen Sie, lassen Sie mich allein, ich habe es jetzt noch nötiger als früher. Aus den wenigen Minuten, um die Sie gebeten haben, ist nun eine halbe Stunde und mehr geworden. « K. faßte sie bei der Hand und dann beim Handgelenk: » Sie sind mir aber nicht böse? « sagte er. Sie streifte seine Hand ab und antwortete: » Nein, nein, ich bin niemals und niemandem böse. « Er faßte wieder nach ihrem Handgelenk, sie duldete es jetzt und führte ihn so zur Tür. Er war fest entschlossen, wegzugehen. Aber vor der Tür, als hätte er nicht erwartet, hier eine Tür zu finden, stockte er, diesen Augenblick benützte Fräulein Bürstner, sich loszumachen, die Tür zu öffnen, ins Vorzimmer zu schlüpfen und von dort aus K. leise zu sagen: » Nun kommen Sie doch, bitte. Sehen Sie « – sie zeigte auf die Tür des Hauptmanns, unter der ein Lichtschein hervorkam – » er hat angezündet und unterhält sich über uns. « » Ich komme schon «, sagte K., lief vor, faßte sie, küßte sie auf den Mund und dann über das ganze Gesicht, wie ein durstiges Tier mit der Zunge über das endlich gefundene Quellwasser hinjagt. Schließlich küßte er sie auf den Hals, wo die Gurgel ist, und dort ließ er die Lippen lange liegen. Ein Geräusch aus dem Zimmer des Hauptmanns ließ ihn aufschauen. » Jetzt werde ich gehen «, sagte er, er wollte Fräulein Bürstner beim Taufnamen nennen, wußte ihn aber nicht. Sie nickte müde, überließ ihm, schon halb abgewendet, die Hand zum Küssen, als wisse sie nichts davon, und ging gebückt in ihr Zimmer. Kurz darauf lag K. in seinem Bett. Er schlief sehr bald ein, vor dem Einschlafen dachte er noch ein Weilchen über sein Verhalten nach, er war damit zufrieden, wunderte sich aber, daß er nicht noch zufriedener war; wegen des Hauptmanns machte er sich für Fräulein Bürstner ernstliche Sorgen. 2 Erste Untersuchung K. war telephonisch verständigt worden, daß am nächsten Sonntag eine kleine Untersuchung in seiner Angelegenheit stattfinden würde. Man machte ihn darauf aufmerksam, daß diese Untersuchungen regelmäßig, wenn auch vielleicht nicht jede Woche, so doch häufiger einander folgen würden. Es liege einerseits im allgemeinen Interesse, den Prozeß rasch zu Ende zu führen, anderseits aber müßten die Untersuchungen in jeder Hinsicht gründlich sein und dürften doch wegen der damit verbundenen Anstrengung niemals allzulange dauern. Deshalb habe man den Ausweg dieser rasch aufeinanderfolgenden, aber kurzen Untersuchungen gewählt. Die Bestimmung des Sonntags als Untersuchungstag habe man deshalb vorgenommen, um K. in seiner beruflichen Arbeit nicht zu stören. Man setze voraus, daß er damit einverstanden sei, sollte er einen anderen Termin wünschen, so würde man ihm, so gut es ginge, entgegenkommen. Die Untersuchungen wären beispielsweise auch in der Nacht möglich, aber da sei wohl K. nicht frisch genug. Jedenfalls werde man es, solange K. nichts einwende, beim Sonntag belassen. Es sei selbstverständlich, daß er bestimmt erscheinen müsse, darauf müsse man ihn wohl nicht erst aufmerksam machen. Es wurde ihm die Nummer des Hauses genannt, in dem er sich einfinden solle, es war ein Haus in einer entlegenen Vorstadtstraße, in der K. noch niemals gewesen war. K. hängte, als er diese Meldung erhalten hatte, ohne zu antworten, den Hörer an; er war gleich entschlossen, Sonntag hinzugehen, es war gewiß notwendig, der Prozeß kam in Gang und er mußte sich dem entgegenstellen, diese erste Untersuchung sollte auch die letzte sein. Er stand noch nachdenklich beim Apparat, da hörte er hinter sich die Stimme des Direktor - Stellvertreters, der telephonieren wollte, dem aber K. den Weg verstellte. » Schlechte Nachrichten? « fragte der Direktor - Stellvertreter leichthin, nicht um etwas zu erfahren, sondern um K. vom Apparat wegzubringen. » Nein, nein «, sagte K., trat beiseite, ging aber nicht weg. Der Direktor - Stellvertreter nahm den Hörer und sagte, während er auf die telephonische Verbindung wartete, über das Hörrohr hinweg: » Eine Frage, Herr K.: Möchten Sie mir Sonntag früh das Vergnügen machen, eine Partie auf meinem Segelboot mitzumachen? Es wird eine größere Gesellschaft sein, gewiß auch Ihre Bekannten darunter. Unter anderem Staatsanwalt Hasterer. Wollen Sie kommen? Kommen Sie doch! « K. versuchte, darauf achtzugeben, was der Direktor - Stellvertreter sagte. Es war nicht unwichtig für ihn, denn diese Einladung des Direktor - Stellvertreters, mit dem er sich niemals sehr gut vertragen hatte, bedeutete einen Versöhnungsversuch von dessen Seite und zeigte, wie wichtig K. in der Bank geworden war und wie wertvoll seine Freundschaft oder wenigstens seine Unparteilichkeit dem zweithöchsten Beamten der Bank erschien. Diese Einladung war eine Demütigung des Direktor - Stellvertreters, mochte sie auch nur in Erwartung der telephonischen Verbindung über das Hörrohr hinweg gesagt sein. Aber K. mußte eine zweite Demütigung folgen lassen, er sagte: » Vielen Dank! Aber ich habe leider Sonntag keine Zeit, ich habe schon eine Verpflichtung. « » Schade «, sagte der Direktor - Stellvertreter und wandte sich dem telephonischen Gespräch zu, das gerade hergestellt worden war. Es war kein kurzes Gespräch, aber K. blieb in seiner Zerstreutheit die ganze Zeit über neben dem Apparat stehen. Erst als der Direktor - Stellvertreter abläutete, erschrak er und sagte, um sein unnützes Dasein nur ein wenig zu entschuldigen: » Ich bin jetzt antelephoniert worden, ich möchte irgendwo hinkommen, aber man hat vergessen, mir zu sagen, zu welcher Stunde. « » Fragen Sie doch noch einmal nach «, sagte der Direktor - Stellvertreter. » Es ist nicht so wichtig «, sagte K., obwohl dadurch seine frühere, schon an sich mangelhafte Entschuldigung noch weiter verfiel. Der Direktor - Stellvertreter sprach noch im Weggehen über andere Dinge. K. zwang sich auch zu antworten, dachte aber hauptsächlich daran, daß es am besten sein werde, Sonntag um neun Uhr vormittags hinzukommen, da zu dieser Stunde an Werktagen alle Gerichte zu arbeiten anfangen. Sonntag war trübes Wetter. K. war sehr ermüdet, da er wegen einer Stammtischfeierlichkeit bis spät in die Nacht im Gasthaus geblieben war, er hätte fast verschlafen. Eilig, ohne Zeit zu haben, zu überlegen und die verschiedenen Pläne, die er während der Woche ausgedacht hatte, zusammenzustellen, kleidete er sich an und lief, ohne zu frühstücken, in die ihm bezeichnete Vorstadt. Eigentümlicherweise traf er, obwohl er wenig Zeit hatte, umherzublicken, die drei an seiner Angelegenheit beteiligten Beamten, Rabensteiner, Kullich und Kaminer. Die ersten zwei fuhren in einer Elektrischen quer über K.s Weg, Kaminer aber saß auf der Terrasse eines Kaffeehauses und beugte sich gerade, als K. vorüberkam, neugierig über die Brüstung. Alle sahen ihm wohl nach und wunderten sich, wie ihr Vorgesetzter lief; es war irgendein Trotz, der K. davon abgehalten hatte, zu fahren, er hatte Abscheu vor jeder, selbst der geringsten fremden Hilfe in dieser seiner Sache, auch wollte er niemanden in Anspruch nehmen und dadurch selbst nur im allerentferntesten einweihen; schließlich hatte er aber auch nicht die geringste Lust, sich durch allzu große Pünktlichkeit vor der Untersuchungskommission zu erniedrigen. Allerdings lief er jetzt, um nur möglichst um neun Uhr einzutreffen, obwohl er nicht einmal für eine bestimmte Stunde bestellt war. Er hatte gedacht, das Haus schon von der Ferne an irgendeinem Zeichen, das er sich selbst nicht genau vorgestellt hatte, oder an einer besonderen Bewegung vor dem Eingang schon von weitem zu erkennen. Aber die Juliusstraße, in der es sein sollte und an deren Beginn K. einen Augenblick lang stehenblieb, enthielt auf beiden Seiten fast ganz einförmige Häuser, hohe, graue, von armen Leuten bewohnte Miethäuser. Jetzt, am Sonntagmorgen, waren die meisten Fenster besetzt, Männer in Hemdärmeln lehnten dort und rauchten oder hielten kleine Kinder vorsichtig und zärtlich an den Fensterrand. Andere Fenster waren hoch mit Bettzeug angefüllt, über dem flüchtig der zerraufte Kopf einer Frau erschien. Man rief einander über die Gasse zu, ein solcher Zuruf bewirkte gerade über K. ein großes Gelächter. Regelmäßig verteilt befanden sich in der langen Straße kleine, unter dem Straßenniveau liegende, durch ein paar Treppen erreichbare Läden mit verschiedenen Lebensmitteln. Dort gingen Frauen aus und ein oder standen auf den Stufen und plauderten. Ein Obsthändler, der seine Waren zu den Fenstern hinauf empfahl, hätte, ebenso unaufmerksam wie K., mit seinem Karren diesen fast niedergeworfen. Eben begann ein in besseren Stadtvierteln ausgedientes Grammophon mörderisch zu spielen. K. ging tiefer in die Gasse hinein, langsam, als hätte er nun schon Zeit oder als sähe ihn der Untersuchungsrichter aus irgendeinem Fenster und wisse also, daß sich K. eingefunden habe. Es war kurz nach neun. Das Haus lag ziemlich weit, es war fast ungewöhnlich ausgedehnt, besonders die Toreinfahrt war hoch und weit. Sie war offenbar für Lastfuhren bestimmt, die zu den verschiedenen Warenmagazinen gehörten, die jetzt versperrt den großen Hof umgaben und Aufschriften von Firmen trugen, von denen K. einige aus dem Bankgeschäft kannte. Gegen seine sonstige Gewohnheit sich mit allen diesen Äußerlichkeiten genauer befassend, blieb er auch ein wenig am Eingang des Hofes stehen. In seiner Nähe auf einer Kiste saß ein bloßfüßiger Mann und las eine Zeitung. Auf einem Handkarren schaukelten zwei Jungen. Vor einer Pumpe stand ein schwaches, junges Mädchen in einer Nachtjoppe und blickte, während das Wasser in ihre Kanne strömte, auf K. hin. In einer Ecke des Hofes wurde zwischen zwei Fenstern ein Strick gespannt, auf dem die zum Trocknen bestimmte Wäsche schon hing. Ein Mann stand unten und leitete die Arbeit durch ein paar Zurufe. K. wandte sich der Treppe zu, um zum Untersuchungszimmer zu kommen, stand dann aber wieder still, denn außer dieser Treppe sah er im Hof noch drei verschiedene Treppenaufgänge und überdies schien ein kleiner Durchgang am Ende des Hofes noch in einen zweiten Hof zu führen. Er ärgerte sich, daß man ihm die Lage des Zimmers nicht näher bezeichnet hatte, es war doch eine sonderbare Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit, mit der man ihn behandelte, er beabsichtigte, das sehr laut und deutlich festzustellen. Schließlich stieg er doch die Treppe hinauf und spielte in Gedanken mit einer Erinnerung an den Ausspruch des Wächters Willem, daß das Gericht von der Schuld angezogen werde, woraus eigentlich folgte, daß das Untersuchungszimmer an der Treppe liegen mußte, die K. zufällig wählte. Er störte im Hinaufgehen viele Kinder, die auf der Treppe spielten und ihn, wenn er durch ihre Reihe schritt, böse ansahen. » Wenn ich nächstens wieder hergehen sollte «, sagte er sich, » muß ich entweder Zuckerwerk mitnehmen, um sie zu gewinnen, oder den Stock, um sie zu prügeln. « Knapp vor dem ersten Stockwerk mußte er sogar ein Weilchen warten, bis eine Spielkugel ihren Weg vollendet hatte, zwei kleine Jungen mit den verzwickten Gesichtern erwachsener Strolche hielten ihn indessen an den Beinkleidern; hätte er sie abschütteln wollen, hätte er ihnen wehtun müssen, und er fürchtete ihr Geschrei. Im ersten Stockwerk begann die eigentliche Suche. Da er doch nicht nach der Untersuchungskommission fragen konnte, erfand er einen Tischler Lanz – der Name fiel ihm ein, weil der Hauptmann, der Neffe der Frau Grubach, so hieß – und wollte nun in allen Wohnungen nachfragen, ob hier ein Tischler Lanz wohne, um so die Möglichkeit zu bekommen, in die Zimmer hineinzusehen. Es zeigte sich aber, daß das meistens ohne weiteres möglich war, denn fast alle Türen standen offen und die Kinder liefen ein und aus. Es waren in der Regel kleine, einfenstrige Zimmer, in denen auch gekocht wurde. Manche Frauen hielten Säuglinge im Arm und arbeiteten mit der freien Hand auf dem Herd. Halbwüchsige, scheinbar nur mit Schürzen bekleidete Mädchen liefen am fleißigsten hin und her. In allen Zimmern standen die Betten noch in Benützung, es lagen dort Kranke oder noch Schlafende oder Leute, die sich dort in Kleidern streckten. An den Wohnungen, deren Türen geschlossen waren, klopfte K. an und fragte, ob hier ein Tischler Lanz wohne. Meistens öffnete eine Frau, hörte die Frage an und wandte sich ins Zimmer zu jemandem, der sich aus dem Bett erhob. » Der Herr fragt, ob ein Tischler Lanz hier wohnt. « » Tischler Lanz? « fragte der aus dem Bett. » Ja «, sagte K., obwohl sich hier die Untersuchungskommission zweifellos nicht befand und daher seine Aufgabe beendet war. Viele glaubten, es liege K. sehr viel daran, den Tischler Lanz zu finden, dachten lange nach, nannten seine Tischler, der aber nicht Lanz hieß, oder einen Namen, der mit Lanz eine ganz entfernte Ähnlichkeit hatte, oder sie fragten bei Nachbarn oder begleiteten K. zu einer weit entfernten Tür, wo ihrer Meinung nach ein derartiger Mann möglicherweise in Aftermiete wohne oder wo jemand sei, der bessere Auskunft als sie selbst geben könne. Schließlich mußte K. kaum mehr selbst fragen, sondern wurde auf diese Weise durch die Stockwerke gezogen. Er bedauerte seinen Plan, der ihm zuerst so praktisch erschienen war. Vor dem fünften Stockwerk entschloß er sich, die Suche aufzugeben, verabschiedete sich von einem freundlichen, jungen Arbeiter, der ihn weiter hinaufführen wollte, und ging hinunter. Dann aber ärgerte ihn wieder das Nutzlose dieser ganzen Unternehmung, er ging nochmals zurück und klopfte an die erste Tür des fünften Stockwerkes. Das erste, was er in dem kleinen Zimmer sah, war eine große Wanduhr, die schon zehn Uhr zeigte. » Wohnt ein Tischler Lanz hier? « fragte er. » Bitte «, sagte eine junge Frau mit schwarzen, leuchtenden Augen, die gerade in einem Kübel Kinderwäsche wusch, und zeigte mit der nassen Hand auf die offene Tür des Nebenzimmers. K. glaubte in eine Versammlung einzutreten. Ein Gedränge der verschiedensten Leuteniemand kümmerte sich um den Eintretenden – füllte ein mittelgroßes, zweifenstriges Zimmer, das knapp an der Decke von einer Galerie umgeben war, die gleichfalls vollständig besetzt war und wo die Leute nur gebückt stehen konnten und mit Kopf und Rücken an die Decke stießen. K., dem die Luft zu dumpf war, trat wieder hinaus und sagte zu der jungen Frau, die ihn wahrscheinlich falsch verstanden hatte: » Ich habe nach einem Tischler, einem gewissen Lanz, gefragt? « » Ja «, sagte die Frau, » gehen Sie, bitte, hinein. « K. hätte ihr vielleicht nicht gefolgt, wenn die Frau nicht auf ihn zugegangen wäre, die Türklinke ergriffen und gesagt hätte: » Nach Ihnen muß ich schließen, es darf niemand mehr hinein. « » Sehr vernünftig «, sagte K., » es ist aber jetzt schon zu voll. « Dann ging er aber doch wieder hinein. Zwischen zwei Männern hindurch, die sich unmittelbar bei der Tür unterhielten – der eine machte mit beiden, weit vorgestreckten Händen die Bewegung des Geldaufzählens, der andere sah ihm scharf in die Augen –, faßte eine Hand nach K. Es war ein kleiner, rotbäckiger Junge. » Kommen Sie, kommen Sie «, sagte er. K. ließ sich von ihm führen, es zeigte sich, daß in dem durcheinanderwimmelnden Gedränge doch ein schmaler Weg frei war, der möglicherweise zwei Parteien schied; dafür sprach auch, daß K. in den ersten Reihen rechts und links kaum ein ihm zugewendetes Gesicht sah, sondern nur die Rücken von Leuten, welche ihre Reden und Bewegungen nur an Leute ihrer Partei richteten. Die meisten waren schwarz angezogen, in alten, lang und lose hinunterhängenden Feiertagsröcken. Nur diese Kleidung beirrte K., sonst hätte er das Ganze für eine politische Bezirksversammlung angesehen. Am anderen Ende des Saales, zu dem K. geführt wurde, stand auf einem sehr niedrigen, gleichfalls überfüllten Podium ein kleiner Tisch, der Quere nach aufgestellt, und hinter ihm, nahe am Rand des Podiums, saß ein kleiner, dicker, schnaufender Mann, der sich gerade mit einem hinter ihm Stehenden – dieser hatte den Ellbogen auf die Sessellehne gestützt und die Beine gekreuzt – unter großem Gelächter unterhielt. Manchmal warf er den Arm in die Luft, als karikiere er jemanden. Der Junge, der K. führte, hatte Mühe, seine Meldung vorzubringen. Zweimal hatte er schon, auf den Fußspitzen stehend, etwas auszurichten versucht, ohne von dem Mann oben beachtet worden zu sein. Erst als einer der Leute oben auf dem Podium auf den Jungen aufmerksam machte, wandte sich der Mann ihm zu und hörte hinuntergebeugt seinen leisen Bericht an. Dann zog er seine Uhr und sah schnell nach K. hin. » Sie hätten vor einer Stunde und fünf Minuten erscheinen sollen «, sagte er. K. wollte etwas antworten, aber er hatte keine Zeit, denn kaum hatte der Mann ausgesprochen, erhob sich in der rechten Saalhälfte ein allgemeines Murren. » Sie hätten vor einer Stunde und fünf Minuten erscheinen sollen «, wiederholte nun der Mann mit erhobener Stimme und sah nun auch schnell in den Saal hinunter. Sofort wurde auch das Murren stärker und verlor sich, da der Mann nichts mehr sagte, nur allmählich. Es war jetzt im Saal viel stiller als bei K.s Eintritt. Nur die Leute auf der Galerie hörten nicht auf, ihre Bemerkungen zu machen. Sie schienen, soweit man oben in dem Halbdunkel, Dunst und Staub etwas unterscheiden konnte, schlechter angezogen zu sein als die unten. Manche hatten Polster mitgebracht, die sie zwischen den Kopf und die Zimmerdecke gelegt hatten, um sich nicht wundzudrücken. K. hatte sich entschlossen, mehr zu beobachten als zu reden, infolgedessen verzichtete er auf die Verteidigung wegen seines angeblichen Zuspätkommens und sagte bloß: » Mag ich zu spät gekommen sein, jetzt bin ich hier. « Ein Beifallklatschen, wieder aus der rechten Saalhälfte, folgte. Leicht zu gewinnende Leute, dachte K. und war nur gestört durch die Stille in der linken Saalhälfte, die gerade hinter ihm lag und aus der sich nur ganz vereinzeltes Händeklatschen erhoben hatte. Er dachte nach, was er sagen könnte, um alle auf einmal oder, wenn das nicht möglich sein sollte, wenigstens zeitweilig auch die anderen zu gewinnen. » Ja «, sagte der Mann, » aber ich bin nicht mehr verpflichtet, Sie jetzt zu verhören « – wieder das Murren, diesmal aber mißverständlich, denn der Mann fuhr, indem er den Leuten mit der Hand abwinkte, fort, – » ich will es jedoch ausnahmsweise heute noch tun. Eine solche Verspätung darf sich aber nicht mehr wiederholen. Und nun treten Sie vor! « Irgend jemand sprang vom Podium hinunter, so daß für K. ein Platz frei wurde, auf den er hinaufstieg. Er stand eng an den Tisch gedrückt, das Gedränge hinter ihm war so groß, daß er ihm Widerstand leisten mußte, wollte er nicht den Tisch des Untersuchungsrichters und vielleicht auch diesen selbst vom Podium hinunterstoßen. Der Untersuchungsrichter kümmerte sich aber nicht darum, sondern saß recht bequem auf seinem Sessel und griff, nachdem er dem Mann hinter ihm ein abschließendes Wort gesagt hatte, nach einem kleinen Anmerkungsbuch, dem einzigen Gegenstand auf seinem Tisch. Es war schulheftartig, alt, durch vieles Blättern ganz aus der Form gebracht. » Also «, sagte der Untersuchungsrichter, blätterte in dem Heft und wandte sich im Tone einer Feststellung an K., » Sie sind Zimmermaler? « » Nein «, sagte K., » sondern erster Prokurist einer großen Bank. « Dieser Antwort folgte bei der rechten Partei unten ein Gelächter, das so herzlich war, daß K. mitlachen mußte. Die Leute stützten sich mit den Händen auf ihre Knie und schüttelten sich wie unter schweren Hustenanfällen. Es lachten sogar einzelne auf der Galerie. Der ganz böse gewordene Untersuchungsrichter, der wahrscheinlich gegen die Leute unten machtlos war, suchte sich an der Galerie zu entschädigen, sprang auf, drohte der Galerie, und seine sonst wenig auffallenden Augenbrauen drängten sich buschig, schwarz und groß über seinen Augen. Die linke Saalhälfte war aber noch immer still, die Leute standen dort in Reihen, hatten ihre Gesichter dem Podium zugewendet und hörten den Worten, die oben gewechselt wurden, ebenso ruhig zu wie dem Lärm der anderen Partei, sie duldeten sogar, daß einzelne aus ihren Reihen mit der anderen Partei hie und da gemeinsam vorgingen. Die Leute der linken Partei, die übrigens weniger zahlreich waren, mochten im Grunde ebenso unbedeutend sein wie die der rechten Partei, aber die Ruhe ihres Verhaltens ließ sie bedeutungsvoller erscheinen. Als K. jetzt zu reden begann, war er überzeugt, in ihrem Sinne zu sprechen. » Ihre Frage, Herr Untersuchungsrichter, ob ich Zimmermaler bin – vielmehr, Sie haben gar nicht gefragt, sondern es mir auf den Kopf zugesagt –, ist bezeichnend für die ganze Art des Verfahrens, das gegen mich geführt wird. Sie können einwenden, daß es ja überhaupt kein Verfahren ist, Sie haben sehr recht, denn es ist ja nur ein Verfahren, wenn ich es als solches anerkenne. Aber ich erkenne es also für den Augenblick jetzt an, aus Mitleid gewissermaßen. Man kann sich nicht anders als mitleidig dazu stellen, wenn man es überhaupt beachten will. Ich sage nicht, daß es ein liederliches Verfahren ist, aber ich möchte Ihnen diese Bezeichnung zur Selbsterkenntnis angeboten haben. « K. unterbrach sich und sah in den Saal hinunter. Was er gesagt hatte, war scharf, schärfer, als er es beabsichtigt hatte, aber doch richtig. Es hätte Beifall hier oder dort verdient, es war jedoch alles still, man wartete offenbar gespannt auf das Folgende, es bereitete sich vielleicht in der Stille ein Ausbruch vor, der allem ein Ende machen würde. Störend war es, daß sich jetzt die Tür am Saalende öffnete, die junge Wäscherin, die ihre Arbeit wahrscheinlich beendet hatte, eintrat und trotz aller Vorsicht, die sie aufwendete, einige Blicke auf sich zog. Nur der Untersuchungsrichter machte K. unmittelbare Freude, denn er schien von den Worten sofort getroffen zu werden. Er hatte bisher stehend zugehört, denn er war von K.s Ansprache überrascht worden, während er sich für die Galerie aufgerichtet hatte. Jetzt, in der Pause, setzte er sich allmählich, als sollte es nicht bemerkt werden. Wahrscheinlich um seine Miene zu beruhigen, nahm er wieder das Heftchen vor. » Es hilft nichts «, fuhr K. fort, » auch Ihr Heftchen, Herr Untersuchungsrichter, bestätigt, was ich sage. « Zufrieden damit, nur seine ruhigen Worte in der fremden Versammlung zu hören, wagte es K. sogar, kurzerhand das Heft dem Untersuchungsrichter wegzunehmen und es mit den Fingerspitzen, als scheue er sich davor, an einem mittleren Blatte hochzuheben, so daß beiderseits die engbeschriebenen, fleckigen, gelbrandigen Blätter hinunterhingen. » Das sind die Akten des Untersuchungsrichters «, sagte er und ließ das Heft auf den Tisch hinunterfallen. » Lesen Sie darin ruhig weiter, Herr Untersuchungsrichter, vor diesem Schuldbuch fürchte ich mich wahrhaftig nicht, obwohl es mir unzugänglich ist, denn ich kann es nur mit zwei Fingern anfassen und würde es nicht in die Hand nehmen. « Es konnte nur ein Zeichen tiefer Demütigung sein oder es mußte zumindest so aufgefaßt werden, daß der Untersuchungsrichter nach dem Heftchen, wie es auf den Tisch gefallen war, griff, es ein wenig in Ordnung zu bringen suchte und es wieder vornahm, um darin zu lesen. Die Gesichter der Leute in der ersten Reihe waren so gespannt auf K. gerichtet, daß er ein Weilchen lang zu ihnen hinuntersah. Es waren durchwegs ältere Männer, einige waren weißbärtig. Waren vielleicht sie die Entscheidenden, die die ganze Versammlung beeinflussen konnten, welche auch durch die Demütigung des Untersuchungsrichters sich nicht aus der Regungslosigkeit bringen ließ, in welche sie seit K.s Rede versunken war? » Was mir geschehen ist «, fuhr K. fort, etwas leiser als früher, und suchte immer wieder die Gesichter der ersten Reihe ab, was seiner Rede einen etwas fahrigen Ausdruck gab, » was mir geschehen ist, ist ja nur ein einzelner Fall und als solcher nicht sehr wichtig, da ich es nicht sehr schwer nehme, aber es ist das Zeichen eines Verfahrens, wie es gegen viele geübt wird. Für diese stehe ich hier ein, nicht für mich. « Er hatte unwillkürlich seine Stimme erhoben. Irgendwo klatschte jemand mit erhobenen Händen und rief: » Bravo! Warum denn nicht? Bravo! Und wieder Bravo! « Die in der ersten Reihe griffen hier und da in ihre Bärte, keiner kehrte sich wegen des Ausrufs um. Auch K. maß ihm keine Bedeutung bei, war aber doch aufgemuntert; er hielt es jetzt gar nicht mehr für nötig, daß alle Beifall klatschten, es genügte, wenn die Allgemeinheit über die Sache nachzudenken begann und nur manchmal einer durch Überredung gewonnen wurde. » Ich will nicht Rednererfolg «, sagte K. aus dieser Überlegung heraus, » er dürfte mir auch nicht erreichbar sein. Der Herr Untersuchungsrichter spricht wahrscheinlich viel besser, es gehört ja zu seinem Beruf. Was ich will, ist nur die öffentliche Besprechung eines öffentlichen Mißstandes. Hören Sie: Ich bin vor etwa zehn Tagen verhaftet worden, über die Tatsache der Verhaftung selbst lache ich, aber das gehört jetzt nicht hierher. Ich wurde früh im Bett überfallen, vielleicht hatte man – es ist nach dem, was der Untersuchungsrichter sagte, nicht ausgeschlossen – den Befehl, irgendeinen Zimmermaler, der ebenso unschuldig ist wie ich, zu verhaften, aber man wählte mich. Das Nebenzimmer war von zwei groben Wächtern besetzt. Wenn ich ein gefährlicher Räuber wäre, hätte man nicht bessere Vorsorge treffen können. Diese Wächter waren überdies demoralisiertes Gesindel, sie schwätzten mir die Ohren voll, sie wollten sich bestechen lassen, sie wollten mir unter Vorspiegelungen Wäsche und Kleider herauslocken, sie wollten Geld, um mir angeblich ein Frühstück zu bringen, nachdem sie mein eigenes Frühstück vor meinen Augen schamlos aufgegessen hatten. Nicht genug daran. Ich wurde in ein drittes Zimmer vor den Aufseher geführt. Es war das Zimmer einer Dame, die ich sehr schätze, und ich mußte zusehen, wie dieses Zimmer meinetwegen, aber ohne meine Schuld, durch die Anwesenheit der Wächter und des Aufsehers gewissermaßen verunreinigt wurde. Es war nicht leicht, ruhig zu bleiben. Es gelang mir aber, und ich fragte den Aufseher vollständig ruhig – wenn er hier wäre, müßte er es bestätigen –, warum ich verhaftet sei. Was antwortete nun dieser Aufseher, den ich jetzt noch vor mir sehe, wie er auf dem Sessel der erwähnten Dame als eine Darstellung des stumpfsinnigsten Hochmuts sitzt? Meine Herren, er antwortete im Grunde nichts, vielleicht wußte er wirklich nichts, er hatte mich verhaftet und war damit zufrieden. Er hat sogar noch ein übriges getan und in das Zimmer jener Dame drei niedrige Angestellte meiner Bank gebracht, die sich damit beschäftigten, Photographien, Eigentum der Dame, zu betasten und in Unordnung zu bringen. Die Anwesenheit dieser Angestellten hatte natürlich noch einen andern Zweck, sie sollten, ebenso wie meine Vermieterin und ihr Dienstmädchen, die Nachricht von meiner Verhaftung verbreiten, mein öffentliches Ansehen schädigen und insbesondere in der Bank meine Stellung erschüttern. Nun ist nichts davon, auch nicht im geringsten, gelungen, selbst meine Vermieterin, eine ganz einfache Person – ich will ihren Namen hier in ehrendem Sinne nennen, sie heißt Frau Grubach –, selbst Frau Grubach war verständig genug, einzusehen, daß eine solche Verhaftung nicht mehr bedeutet, als einen Anschlag, den nicht genügend beaufsichtigte Jungen auf der Gasse ausführen. Ich wiederhole, mir hat das Ganze nur Unannehmlichkeiten und vorübergehenden Ärger bereitet, hätte es aber nicht auch schlimmere Folgen haben können? « Als K. sich hier unterbrach und nach dem stillen Untersuchungsrichter hinsah, glaubte er zu bemerken, daß dieser gerade mit einem Blick jemandem in der Menge ein Zeichen gab. K. lächelte und sagte: » Eben gibt hier neben mir der Herr Untersuchungsrichter jemandem von Ihnen ein geheimes Zeichen. Es sind also Leute unter Ihnen, die von hier oben dirigiert werden. Ich weiß nicht, ob das Zeichen jetzt Zischen oder Beifall bewirken sollte, und verzichte dadurch, daß ich die Sache vorzeitig verrate, ganz bewußt darauf, die Bedeutung des Zeichens zu erfahren. Es ist mir vollständig gleichgültig, und ich ermächtige den Herrn Untersuchungsrichter öffentlich, seine bezahlten Angestellten dort unten, statt mit geheimen Zeichen, laut mit Worten zu befehligen, indem er etwa einmal sagt: › Jetzt zischt! ‹ und das nächste Mal: › Jetzt klatscht! ‹ « In Verlegenheit oder Ungeduld rückte der Untersuchungsrichter auf seinem Sessel hin und her. Der Mann hinter ihm, mit dem er sich schon früher unterhalten hatte, beugte sich wieder zu ihm, sei es, um ihm im allgemeinen Mut zuzusprechen oder um ihm einen besonderen Rat zu geben. Unten unterhielten sich die Leute leise, aber lebhaft. Die zwei Parteien, die früher so entgegengesetzte Meinungen gehabt zu haben schienen, vermischten sich, einzelne Leute zeigten mit dem Finger auf K., andere auf den Untersuchungsrichter. Der neblige Dunst im Zimmer war äußerst lästig, er verhinderte sogar eine genauere Beobachtung der Fernerstehenden. Besonders für die Galeriebesucher mußte er störend sein, sie waren gezwungen, allerdings unter scheuen Seitenblicken nach dem Untersuchungsrichter, leise Fragen an die Versammlungsteilnehmer zu stellen, um sich näher zu unterrichten. Die Antworten wurden im Schutz der vorgehaltenen Hände ebenso leise gegeben. » Ich bin gleich zu Ende «, sagte K. und schlug, da keine Glocke vorhanden war, mit der Faust auf den Tisch; im Schrecken darüber fuhren die Köpfe des Untersuchungsrichters und seines Ratgebers augenblicklich auseinander: » Mir steht die ganze Sache fern, ich beurteile sie daher ruhig, und Sie können, vorausgesetzt, daß Ihnen an diesem angeblichen Gericht etwas gelegen ist, großen Vorteil davon haben, wenn Sie mir zuhören. Ihre gegenseitigen Besprechungen dessen, was ich vorbringe, bitte ich Sie für späterhin zu verschieben, denn ich habe keine Zeit und werde bald weggehen. « Sofort war es still, so sehr beherrschte K. schon die Versammlung. Man schrie nicht mehr durcheinander wie am Anfang, man klatschte nicht einmal mehr Beifall, aber man schien schon überzeugt oder auf dem nächsten Wege dazu. » Es ist kein Zweifel «, sagte K. sehr leise, denn ihn freute das angespannte Aufhorchen der ganzen Versammlung, in dieser Stille entstand ein Sausen, das aufreizender war als der verzückteste Beifall, » es ist kein Zweifel, daß hinter allen Äußerungen dieses Gerichtes, in meinem Fall also hinter der Verhaftung und der heutigen Untersuchung, eine große Organisation sich befindet. Eine Organisation, die nicht nur bestechliche Wächter, läppische Aufseher und Untersuchungsrichter, die günstigsten Falles bescheiden sind, beschäftigt, sondern die weiterhin jedenfalls eine Richterschaft hohen und höchsten Grades unterhält, mit dem zahllosen, unumgänglichen Gefolge von Dienern, Schreibern, Gendarmen und anderen Hilfskräften, vielleicht sogar Henkern, ich scheue vor dem Wort nicht zurück. Und der Sinn dieser großen Organisation, meine Herren? Er besteht darin, daß unschuldige Personen verhaftet werden und gegen sie ein sinnloses und meistens, wie in meinem Fall, ergebnisloses Verfahren eingeleitet wird. Wie ließe sich bei dieser Sinnlosigkeit des Ganzen die schlimmste Korruption der Beamtenschaft vermeiden? Das ist unmöglich, das brächte auch der höchste Richter nicht einmal für sich selbst zustande. Darum suchen die Wächter den Verhafteten die Kleider vom Leib zu stehlen, darum brechen Aufseher in fremde Wohnungen ein, darum sollen Unschuldige, statt verhört, lieber vor ganzen Versammlungen entwürdigt werden. Die Wächter haben nur von Depots erzählt, in die man das Eigentum der Verhafteten bringt, ich wollte einmal diese Depotplätze sehen, in denen das mühsam erarbeitete Vermögen der Verhafteten fault, soweit es nicht von diebischen Depotbeamten gestohlen ist. « K. wurde durch ein Kreischen vom Saalende unterbrochen, er beschattete die Augen, um hinsehen zu können, denn das trübe Tageslicht machte den Dunst weißlich und blendete. Es handelte sich um die Waschfrau, die K. gleich bei ihrem Eintritt als eine wesentliche Störung erkannt hatte. Ob sie jetzt schuldig war oder nicht, konnte man nicht erkennen. K. sah nur, daß ein Mann sie in einen Winkel bei der Tür gezogen hatte und dort an sich drückte. Aber nicht sie kreischte, sondern der Mann, er hatte den Mund breit gezogen und blickte zur Decke. Ein kleiner Kreis hatte sich um beide gebildet, die Galeriebesucher in der Nähe schienen darüber begeistert, daß der Ernst, den K. in die Versammlung eingeführt hatte, auf diese Weise unterbrochen wurde. K. wollte unter dem ersten Eindruck gleich hinlaufen, auch dachte er, allen würde daran gelegen sein, dort Ordnung zu schaffen und zumindest das Paar aus dem Saal zu weisen, aber die ersten Reihen vor ihm blieben ganz fest, keiner rührte sich, und keiner ließ K. durch. Im Gegenteil, man hinderte ihn, alte Männer hielten den Arm vor, und irgendeine Hand – er hatte nicht Zeit, sich umzudrehen – faßte ihn hinten am Kragen. K. dachte nicht eigentlich mehr an das Paar, ihm war, als werde seine Freiheit eingeschränkt, als mache man mit der Verhaftung ernst, und er sprang rücksichtslos vom Podium hinunter. Nun stand er Aug in Aug dem Gedränge gegenüber. Hatte er die Leute richtig beurteilt? Hatte er seiner Rede zuviel Wirkung zugetraut? Hatte man sich verstellt, solange er gesprochen hatte, und hatte man jetzt, da er zu den Schlußfolgerungen kam, die Verstellung satt? Was für Gesichter rings um ihn! Kleine, schwarze Äuglein huschten hin und her, die Wangen hingen herab, wie bei Versoffenen, die langen Bärte waren steif und schütter, und griff man in sie, so war es, als bilde man bloß Krallen, nicht als griffe man in Bärte. Unter den Bärten aber – und das war die eigentliche Entdeckung, die K. machte – schimmerten am Rockkragen Abzeichen in verschiedener Größe und Farbe. Alle hatten diese Abzeichen, soweit man sehen konnte. Alle gehörten zueinander, die scheinbaren Parteien rechts und links, und als er sich plötzlich umdrehte, sah er die gleichen Abzeichen am Kragen des Untersuchungsrichters, der, die Hände im Schoß, ruhig hinuntersah. » So «, rief K. und warf die Arme in die Höhe, die plötzliche Erkenntnis wollte Raum, » ihr seid ja alle Beamte, wie ich sehe, ihr seid ja die korrupte Bande, gegen die ich sprach, ihr habt euch hier gedrängt, als Zuhörer und Schnüffler, habt scheinbare Parteien gebildet, und eine hat applaudiert, um mich zu prüfen, ihr wolltet lernen, wie man Unschuldige verführen soll! Nun, ihr seid nicht nutzlos hier gewesen, hoffe ich, entweder habt ihr euch darüber unterhalten, daß jemand die Verteidigung der Unschuld von euch erwartet hat, oder aber – laß mich oder ich schlage «, rief K. einem zitternden Greis zu, der sich besonders nahe an ihn geschoben hatte – » oder aber ihr habt wirklich etwas gelernt. Und damit wünsche ich euch Glück zu euerem Gewerbe. « Er nahm schnell seinen Hut, der am Rande des Tisches lag, und drängte sich unter allgemeiner Stille, jedenfalls der Stille vollkommenster Überraschung, zum Ausgang. Der Untersuchungsrichter schien aber noch schneller als K. gewesen zu sein, denn er erwartete ihn bei der Tür. » Einen Augenblick «, sagte er. K. blieb stehen, sah aber nicht auf den Untersuchungsrichter, sondern auf die Tür, deren Klinke er schon ergriffen hatte. » Ich wollte Sie nur darauf aufmerksam machen «, sagte der Untersuchungsrichter, » daß Sie sich heute – es dürfte Ihnen noch nicht zu Bewußtsein gekommen sein – des Vorteils beraubt haben, den ein Verhör für den Verhafteten in jedem Falle bedeutet. « K. lachte die Tür an. » Ihr Lumpen «, rief er, » ich schenke euch alle Verhöre «, öffnete die Tür und eilte die Treppe hinunter. Hinter ihm erhob sich der Lärm der wieder lebendig gewordenen Versammlung, welche die Vorfälle wahrscheinlich nach Art von Studierenden zu besprechen begann. 3 Im leeren Sitzungssaal, der Student, die Kanzleien K. wartete während der nächsten Woche von Tag zu Tag auf eine neuerliche Verständigung, er konnte nicht glauben, daß man seinen Verzicht auf Verhöre wörtlich genommen hatte, und als die erwartete Verständigung bis Samstagabend wirklich nicht kam, nahm er an, er sei stillschweigend in das gleiche Haus für die gleiche Zeit wieder vorgeladen. Er begab sich daher Sonntags wieder hin, ging diesmal geradewegs über Treppen und Gänge; einige Leute, die sich seiner erinnerten, grüßten ihn an ihren Türen, aber er mußte niemanden mehr fragen und kam bald zu der richtigen Tür. Auf sein Klopfen wurde ihm gleich aufgemacht, und ohne sich weiter nach der bekannten Frau umzusehen, die bei der Tür stehenblieb, wollte er gleich ins Nebenzimmer. » Heute ist keine Sitzung «, sagte die Frau. » Warum sollte keine Sitzung sein? « fragte er und wollte es nicht glauben. Aber die Frau überzeugte ihn, indem sie die Tür des Nebenzimmers öffnete. Es war wirklich leer und sah in seiner Leere noch kläglicher aus als am letzten Sonntag. Auf dem Tisch, der unverändert auf dem Podium stand, lagen einige Bücher. » Kann ich mir die Bücher anschauen? « fragte K., nicht aus besonderer Neugierde, sondern nur, um nicht vollständig nutzlos hier gewesen zu sein. » Nein «, sagte die Frau und schloß wieder die Tür, » das ist nicht erlaubt. Die Bücher gehören dem Untersuchungsrichter. « » Ach so «, sagte K. und nickte, » die Bücher sind wohl Gesetzbücher, und es gehört zu der Art dieses Gerichtswesens, daß man nicht nur unschuldig, sondern auch unwissend verurteilt wird. « » Es wird so sein «, sagte die Frau, die ihn nicht genau verstanden hatte. » Nun, dann gehe ich wieder «, sagte K. » Soll ich dem Untersuchungsrichter etwas melden? « fragte die Frau. » Sie kennen ihn? « fragte K. » Natürlich «, sagte die Frau, » mein Mann ist ja Gerichtsdiener. « Erst jetzt merkte K., daß das Zimmer, in dem letzthin nur ein Waschbottich gestanden war, jetzt ein völlig eingerichtetes Wohnzimmer bildete. Die Frau bemerkte sein Staunen und sagte: » Ja, wir haben hier freie Wohnung, müssen aber an Sitzungstagen das Zimmer ausräumen. Die Stellung meines Mannes hat manche Nachteile. « » Ich staune nicht so sehr über das Zimmer «, sagte K. und blickte sie böse an, » als vielmehr darüber, daß Sie verheiratet sind. « » Spielen Sie vielleicht auf den Vorfall in der letzten Sitzung an, durch den ich Ihre Rede störte? « fragte die Frau. » Natürlich «, sagte K., » heute ist es ja schon vorüber und fast vergessen, aber damals hat es mich geradezu wütend gemacht. Und nun sagen Sie selbst, daß Sie eine verheiratete Frau sind. « » Es war nicht zu Ihrem Nachteil, daß Ihre Rede abgebrochen wurde. Man hat nachher noch sehr ungünstig über sie geurteilt. « » Mag sein «, sagte K. ablenkend, » aber Sie entschuldigt das nicht. « » Ich bin vor allen entschuldigt, die mich kennen «, sagte die Frau, » der, welcher mich damals umarmt hat, verfolgt mich schon seit langem. Ich mag im allgemeinen nicht verlockend sein, für ihn bin ich es aber. Es gibt hierfür keinen Schutz, auch mein Mann hat sich schon damit abgefunden; will er seine Stellung behalten, muß er es dulden, denn jener Mann ist Student und wird voraussichtlich zu größerer Macht kommen. Er ist immerfort hinter mir her, gerade ehe Sie kamen, ist er fortgegangen. « » Es paßt zu allem anderen «, sagte K., » es überrascht mich nicht. « » Sie wollen hier wohl einiges verbessern? « fragte die Frau langsam und prüfend, als sage sie etwas, was sowohl für sie als für K. gefährlich war. » Ich habe das schon aus Ihrer Rede geschlossen, die mir persönlich sehr gut gefallen hat. Ich habe allerdings nur einen Teil gehört, den Anfang habe ich versäumt und während des Schlusses lag ich mit dem Studenten auf dem Boden. – Es ist ja so widerlich hier «, sagte sie nach einer Pause und faßte K.s Hand. » Glauben Sie, daß es Ihnen gelingen wird, eine Besserung zu erreichen? « K. lächelte und drehte seine Hand ein wenig in ihren weichen Händen. » Eigentlich «, sagte er, » bin ich nicht dazu angestellt, Besserungen hier zu erreichen, wie Sie sich ausdrücken, und wenn Sie es zum Beispiel dem Untersuchungsrichter sagten, würden Sie ausgelacht oder bestraft werden. Tatsächlich hätte ich mich auch aus freiem Willen in diese Dinge gewiß nicht eingemischt, und meinen Schlaf hätte die Verbesserungsbedürftigkeit dieses Gerichtswesens niemals gestört. Aber ich bin dadurch, daß ich angeblich verhaftet wurde – ich bin nämlich verhaftet –, gezwungen worden, hier einzugreifen, und zwar um meinetwillen. Wenn ich aber dabei auch Ihnen irgendwie nützlich sein kann, werde ich es natürlich sehr gerne tun. Nicht etwa nur aus Nächstenliebe, sondern außerdem deshalb, weil auch Sie mir helfen können. « » Wie könnte ich denn das? « fragte die Frau. » Indem Sie mir zum Beispiel die Bücher dort auf dem Tisch zeigen. « » Aber gewiß «, rief die Frau und zog ihn eiligst hinter sich her. Es waren alte, abgegriffene Bücher, ein Einbanddeckel war in der Mitte fast zerbrochen, die Stücke hingen nur durch Fasern zusammen. » Wie schmutzig hier alles ist «, sagte K. kopfschüttelnd, und die Frau wischte mit ihrer Schürze, ehe K. nach den Büchern greifen konnte, wenigstens oberflächlich den Staub weg. K. schlug das oberste Buch auf, es erschien ein unanständiges Bild. Ein Mann und eine Frau saßen nackt auf einem Kanapee, die gemeine Absicht des Zeichners war deutlich zu erkennen, aber seine Ungeschicklichkeit war so groß gewesen, daß schließlich doch nur ein Mann und eine Frau zu sehen waren, die allzu körperlich aus dem Bilde hervorragten, übermäßig aufrecht dasaßen und sich infolge falscher Perspektive nur mühsam einander zuwendeten. K. blätterte nicht weiter, sondern schlug nur noch das Titelblatt des zweiten Buches auf, es war ein Roman mit dem Titel: » Die Plagen, welche Grete von ihrem Manne Hans zu erleiden hatte. « » Das sind die Gesetzbücher, die hier studiert werden «, sagte K., » von solchen Menschen soll ich gerichtet werden. « » Ich werde Ihnen helfen «, sagte die Frau. » Wollen Sie? « » Könnten Sie denn das wirklich, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen? Sie sagten doch vorhin, Ihr Mann sei sehr abhängig von Vorgesetzten. « » Trotzdem will ich Ihnen helfen «, sagte die Frau, » kommen Sie, wir müssen es besprechen. Über meine Gefahr reden Sie nicht mehr, ich fürchte die Gefahr nur dort, wo ich sie fürchten will. Kommen Sie. « Sie zeigte auf das Podium und bat ihn, sich mit ihr auf die Stufe zu setzen. » Sie haben schöne dunkle Augen «, sagte sie, nachdem sie sich gesetzt hatten, und sah K. von unten ins Gesicht, » man sagt mir, ich hätte auch schöne Augen, aber Ihre sind viel schöner. Sie fielen mir übrigens gleich damals auf, als Sie zum erstenmal hier eintraten. Sie waren auch der Grund, warum ich dann später hierher ins Versammlungszimmer ging, was ich sonst niemals tue und was mir sogar gewissermaßen verboten ist. « Das ist also alles, dachte K., sie bietet sich mir an, sie ist verdorben wie alle hier rings herum, sie hat die Gerichtsbeamten satt, was ja begreiflich ist, und begrüßt deshalb jeden beliebigen Fremden mit einem Kompliment wegen seiner Augen. Und K. stand stillschweigend auf, als hätte er seine Gedanken laut ausgesprochen und dadurch der Frau sein Verhalten erklärt. » Ich glaube nicht, daß Sie mir helfen können «, sagte er, » um mir wirklich zu helfen, müßte man Beziehungen zu hohen Beamten haben. Sie aber kennen gewiß nur die niedrigen Angestellten, die sich hier in Mengen herumtreiben. Diese kennen Sie gewiß sehr gut und könnten bei ihnen auch manches durchsetzen, das bezweifle ich nicht, aber das Größte, was man bei ihnen durchsetzen könnte, wäre für den endgültigen Ausgang des Prozesses gänzlich belanglos. Sie aber hätten sich dadurch doch einige Freunde verscherzt. Das will ich nicht. Führen Sie Ihr bisheriges Verhältnis zu diesen Leuten weiter, es scheint mir nämlich, daß es Ihnen unentbehrlich ist. Ich sage das nicht ohne Bedauern, denn, um Ihr Kompliment doch auch irgendwie zu erwidern, auch Sie gefallen mir gut, besonders wenn Sie mich wie jetzt so traurig ansehen, wozu übrigens für Sie gar kein Grund ist. Sie gehören zu der Gesellschaft, die ich bekämpfen muß, befinden sich aber in ihr sehr wohl, Sie lieben sogar den Studenten, und wenn Sie ihn nicht lieben, so ziehen Sie ihn doch wenigstens Ihrem Manne vor. Das konnte man aus Ihren Worten leicht erkennen. « » Nein! « rief sie, blieb sitzen und griff nach K.s Hand, die er ihr nicht rasch genug entzog. » Sie dürfen jetzt nicht weggehen, Sie dürfen nicht mit einem falschen Urteil über mich weggehen! Brächten Sie es wirklich zustande, jetzt wegzugehen? Bin ich wirklich so wertlos, daß Sie mir nicht einmal den Gefallen tun wollen, noch ein kleines Weilchen hierzubleiben? « » Sie mißverstehen mich «, sagte K. und setzte sich, » wenn Ihnen wirklich daran liegt, daß ich hier bleibe, bleibe ich gern, ich habe ja Zeit, ich kam doch in der Erwartung her, daß heute eine Verhandlung sein werde. Mit dem, was ich früher sagte, wollte ich Sie nur bitten, in meinem Prozeß nichts für mich zu unternehmen. Aber auch das muß Sie nicht kränken, wenn Sie bedenken, daß mir am Ausgang des Prozesses gar nichts liegt und daß ich über eine Verurteilung nur lachen werde. Vorausgesetzt, daß es überhaupt zu einem wirklichen Abschluß des Prozesses kommt, was ich sehr bezweifle. Ich glaube vielmehr, daß das Verfahren infolge Faulheit oder Vergeßlichkeit oder vielleicht sogar infolge Angst der Beamtenschaft schon abgebrochen ist oder in der nächsten Zeit abgebrochen werden wird. Möglich ist allerdings auch, daß man in Hoffnung auf irgendeine größere Bestechung den Prozeß scheinbar weiterführen wird, ganz vergeblich, wie ich heute schon sagen kann, denn ich besteche niemanden. Es wäre immerhin eine Gefälligkeit, die Sie mir leisten könnten, wenn Sie dem Untersuchungsrichter oder irgend jemandem sonst, der wichtige Nachrichten gern verbreitet, mitteilten, daß ich niemals und durch keine Kunststücke, an denen die Herren wohl reich sind, zu einer Bestechung zu bewegen sein werde. Es wäre ganz aussichtslos, das können Sie ihnen offen sagen. Übrigens wird man es vielleicht selbst schon bemerkt haben, und selbst wenn dies nicht sein sollte, liegt mir gar nicht so viel daran, daß man es jetzt schon erfährt. Es würde ja dadurch den Herren nur Arbeit erspart werden, allerdings auch mir einige Unannehmlichkeiten, die ich aber gern auf mich nehme, wenn ich weiß, daß jede gleichzeitig ein Hieb für die anderen ist. Und daß es so wird, dafür will ich sorgen. Kennen Sie eigentlich den Untersuchungsrichter? « » Natürlich «, sagte die Frau, » an den dachte ich sogar zuerst, als ich Ihnen Hilfe anbot. Ich wußte nicht, daß er nur ein niedriger Beamter ist, aber da Sie es sagen, wird es wahrscheinlich richtig sein. Trotzdem glaube ich, daß der Bericht, den er nach oben liefert, immerhin einigen Einfluß hat. Und er schreibt soviel Berichte. Sie sagen, daß die Beamten faul sind, alle gewiß nicht, besonders dieser Untersuchungsrichter nicht, er schreibt sehr viel. Letzten Sonntag zum Beispiel dauerte die Sitzung bis gegen Abend. Alle Leute gingen weg, der Untersuchungsrichter aber blieb im Saal, ich mußte ihm eine Lampe bringen, ich hatte nur eine kleine Küchenlampe, aber er war mit ihr zufrieden und fing gleich zu schreiben an. Inzwischen war auch mein Mann gekommen, der an jenem Sonntag gerade Urlaub hatte, wir holten die Möbel, richteten wieder unser Zimmer ein, es kamen dann noch Nachbarn, wir unterhielten uns noch bei einer Kerze, kurz, wir vergaßen den Untersuchungsrichter und gingen schlafen. Plötzlich in der Nacht, es muß schon tief in der Nacht gewesen sein, wache ich auf, neben dem Bett steht der Untersuchungsrichter und blendet die Lampe mit der Hand ab, so daß auf meinen Mann kein Licht fällt, es war unnötige Vorsicht, mein Mann hat einen solchen Schlaf, daß ihn auch das Licht nicht geweckt hätte. Ich war so erschrocken, daß ich fast geschrien hätte, aber der Untersuchungsrichter war sehr freundlich, ermahnte mich zur Vorsicht, flüsterte mir zu, daß er bis jetzt geschrieben habe, daß er mir jetzt die Lampe zurückbringe und daß er niemals den Anblick vergessen werde, wie er mich schlafend gefunden habe. Mit dem allem wollte ich Ihnen nur sagen, daß der Untersuchungsrichter tatsächlich viele Berichte schreibt, insbesondere über Sie, denn Ihre Einvernahme war gewiß einer der Hauptgegenstände der sonntäglichen Sitzung. Solche langen Berichte können aber doch nicht ganz bedeutungslos sein. Außerdem aber können Sie doch auch aus dem Vorfall sehen, daß sich der Untersuchungsrichter um mich bewirbt und daß ich gerade jetzt in der ersten Zeit, er muß mich überhaupt erst jetzt bemerkt haben, großen Einfluß auf ihn haben kann. Daß ihm viel an mir liegt, dafür habe ich jetzt auch noch andere Beweise. Er hat mir gestern durch den Studenten, zu dem er viel Vertrauen hat und der sein Mitarbeiter ist, seidene Strümpfe zum Geschenk geschickt, angeblich dafür, daß ich das Sitzungszimmer aufräume, aber das ist nur ein Vorwand, denn diese Arbeit ist doch nur meine Pflicht und für sie wird mein Mann bezahlt. Es sind schöne Strümpfe, sehen Sie « – sie streckte die Beine, zog die Röcke bis zum Knie hinauf und sah auch selbst die Strümpfe an –, » es sind schöne Strümpfe, aber doch eigentlich zu fein und für mich nicht geeignet. « Plötzlich unterbrach sie sich, legte ihre Hand auf K.s Hand, als wolle sie ihn beruhigen, und flüsterte: » Still, Berthold sieht uns zu. « K. hob langsam den Blick. In der Tür des Sitzungszimmers stand ein junger Mann, er war klein, hatte nicht ganz gerade Beine und suchte sich durch einen kurzen, schütteren, rötlichen Vollbart, in dem er die Finger fortwährend herumführte, Würde zu geben. K. sah ihn neugierig an, es war ja der erste Student der unbekannten Rechtswissenschaft, dem er gewissermaßen menschlich begegnete, ein Mann, der wahrscheinlich auch einmal zu höheren Beamtenstellen gelangen würde. Der Student dagegen kümmerte sich um K. scheinbar gar nicht, er winkte nur mit einem Finger, den er für einen Augenblick aus seinem Barte zog, der Frau und ging zum Fenster, die Frau beugte sich zu K. und flüsterte: » Seien Sie mir nicht böse, ich bitte Sie vielmals, denken Sie auch nicht schlecht von mir, ich muß jetzt zu ihm gehen, zu diesem scheußlichen Menschen, sehen Sie nur seine krummen Beine an. Aber ich komme gleich zurück, und dann gehe ich mit Ihnen, wenn Sie mich mitnehmen, ich gehe, wohin Sie wollen, Sie können mit mir tun, was Sie wollen, ich werde glücklich sein, wenn ich von hier für möglichst lange Zeit fort bin, am liebsten allerdings für immer. « Sie streichelte noch K.s Hand, sprang auf und lief zum Fenster. Unwillkürlich haschte noch K. nach ihrer Hand ins Leere. Die Frau verlockte ihn wirklich, er fand trotz allem Nachdenken keinen haltbaren Grund dafür, warum er der Verlockung nicht nachgeben sollte. Den flüchtigen Einwand, daß ihn die Frau für das Gericht einfange, wehrte er ohne Mühe ab. Auf welche Weise konnte sie ihn einfangen? Blieb er nicht immer so frei, daß er das ganze Gericht, wenigstens soweit es ihn betraf, sofort zerschlagen konnte? Konnte er nicht dieses geringe Vertrauen zu sich haben? Und ihr Anerbieten einer Hilfe klang aufrichtig und war vielleicht nicht wertlos. Und es gab vielleicht keine bessere Rache an dem Untersuchungsrichter und seinem Anhang, als daß er ihnen diese Frau entzog und an sich nahm. Es könnte sich dann einmal der Fall ereignen, daß der Untersuchungsrichter nach mühevoller Arbeit an Lügenberichten über K. in später Nacht das Bett der Frau leer fand. Und leer deshalb, weil sie K. gehörte, weil diese Frau am Fenster, dieser üppige, gelenkige, warme Körper im dunklen Kleid aus grobem, schwerem Stoff, durchaus nur K. gehörte. Nachdem er auf diese Weise die Bedenken gegen die Frau beseitigt hatte, wurde ihm das leise Zwiegespräch am Fenster zu lang, er klopfte mit den Knöcheln auf das Podium und dann auch mit der Faust. Der Student sah kurz über die Schulter der Frau hinweg nach K. hin, ließ sich aber nicht stören, ja drückte sich sogar eng an die Frau und umfaßte sie. Sie senkte tief den Kopf, als höre sie ihm aufmerksam zu, er küßte sie, als sie sich bückte, laut auf den Hals, ohne sich im Reden wesentlich zu unterbrechen. K. sah darin die Tyrannei bestätigt, die der Student nach den Klagen der Frau über sie ausübte, stand auf und ging im Zimmer auf und ab. Er überlegte unter Seitenblicken nach dem Studenten, wie er ihn möglichst schnell wegschaffen könnte, und es war ihm daher nicht unwillkommen, als der Student, offenbar gestört durch K.s Herumgehen, das schon zeitweilig zu einem Trampeln ausgeartet war, bemerkte: » Wenn Sie ungeduldig sind, können Sie weggehen. Sie hätten auch schon früher weggehen können, es hätte Sie niemand vermißt. Ja, Sie hätten sogar weggehen sollen, und zwar schon bei meinem Eintritt, und zwar schleunigst. « Es mochte in dieser Bemerkung alle mögliche Wut zum Ausbruch kommen, jedenfalls lag darin aber auch der Hochmut des künftigen Gerichtsbeamten, der zu einem mißliebigen Angeklagten sprach. K. blieb ganz nahe bei ihm stehen und sagte lächelnd: » Ich bin ungeduldig, das ist richtig, aber diese Ungeduld wird am leichtesten dadurch zu beseitigen sein, daß Sie uns verlassen. Wenn Sie aber vielleicht hergekommen sind, um zu studieren – ich hörte, daß Sie Student sind –, so will ich Ihnen gerne Platz machen und mit der Frau weggehen. Sie werden übrigens noch viel studieren müssen, ehe Sie Richter werden. Ich kenne zwar Ihr Gerichtswesen noch nicht sehr genau, nehme aber an, daß es mit groben Reden allein, die Sie allerdings schon unverschämt gut zu führen wissen, noch lange nicht getan ist. « » Man hätte ihn nicht so frei herumlaufen lassen sollen «, sagte der Student, als wolle er der Frau eine Erklärung für K.s beleidigende Rede geben, » es war ein Mißgriff. Ich habe es dem Untersuchungsrichter gesagt. Man hätte ihn zwischen den Verhören zumindest in seinem Zimmer halten sollen. Der Untersuchungsrichter ist manchmal unbegreiflich. « » Unnütze Reden «, sagte K. und streckte die Hand nach der Frau aus, » kommen Sie. « » Ach so «, sagte der Student, » nein, nein, die bekommen Sie nicht «, und mit einer Kraft, die man ihm nicht zugetraut hätte, hob er sie auf einen Arm und lief mit gebeugtem Rücken, zärtlich zu ihr aufsehend, zur Tür. Eine gewisse Angst vor K. war hierbei nicht zu verkennen, trotzdem wagte er es, K. noch zu reizen, indem er mit der freien Hand den Arm der Frau streichelte und drückte. K. lief ein paar Schritte neben ihm her, bereit, ihn zu fassen und, wenn es sein mußte, zu würgen, da sagte die Frau: » Es hilft nichts, der Untersuchungsrichter läßt mich holen, ich darf nicht mit Ihnen gehen, dieses kleine Scheusal «, sie fuhr hierbei dem Studenten mit der Hand übers Gesicht, » dieses kleine Scheusal läßt mich nicht. « » Und Sie wollen nicht befreit werden! « schrie K. und legte die Hand auf die Schulter des Studenten, der mit den Zähnen nach ihr schnappte. » Nein! « rief die Frau und wehrte K. mit beiden Händen ab, » nein, nein, nur das nicht, woran denken Sie denn! Das wäre mein Verderben. Lassen Sie ihn doch, o bitte, lassen Sie ihn doch. Er führt ja nur den Befehl des Untersuchungsrichters aus und trägt mich zu ihm. « » Dann mag er laufen und Sie will ich nie mehr sehen «, sagte K. wütend vor Enttäuschung und gab dem Studenten einen Stoß in den Rücken, daß er kurz stolperte, um gleich darauf, vor Vergnügen darüber, daß er nicht gefallen war, mit seiner Last desto höher zu springen. K. ging ihnen langsam nach, er sah ein, daß das die erste zweifellose Niederlage war, die er von diesen Leuten erfahren hatte. Es war natürlich kein Grund, sich deshalb zu ängstigen, er erhielt die Niederlage nur deshalb, weil er den Kampf aufsuchte. Wenn er zu Hause bliebe und sein gewohntes Leben führte, war er jedem dieser Leute tausendfach überlegen und konnte jeden mit einem Fußtritt von seinem Wege räumen. Und er stellte sich die allerlächerlichste Szene vor, die es zum Beispiel geben würde, wenn dieser klägliche Student, dieses aufgeblasene Kind, dieser krumme Bartträger vor Elsas Bett knien und mit gefalteten Händen um Gnade bitten würde. K. gefiel diese Vorstellung so, daß er beschloß, wenn sich nur irgendeine Gelegenheit dafür ergeben sollte, den Studenten einmal zu Elsa mitzunehmen. Aus Neugierde eilte K. noch zur Tür, er wollte sehen, wohin die Frau getragen wurde, der Student würde sie doch nicht etwa über die Straßen auf dem Arm tragen. Es zeigte sich, daß der Weg viel kürzer war. Gleich gegenüber der Wohnung führte eine schmale hölzerne Treppe wahrscheinlich zum Dachboden, sie machte eine Wendung, so daß man ihr Ende nicht sah. Über diese Treppe trug der Student die Frau hinauf, schon sehr langsam und stöhnend, denn er war durch das bisherige Laufen geschwächt. Die Frau grüßte mit der Hand zu K. hinunter und suchte durch Auf - und Abziehen der Schultern zu zeigen, daß sie an der Entführung unschuldig sei, viel Bedauern lag aber in dieser Bewegung nicht. K. sah sie ausdruckslos wie eine Fremde an, er wollte weder verraten, daß er enttäuscht war, noch auch, daß er die Enttäuschung leicht überwinden könne. Die zwei waren schon verschwunden, K. aber stand noch immer in der Tür. Er mußte annehmen, daß ihn die Frau nicht nur betrogen, sondern mit der Angabe, daß sie zum Untersuchungsrichter getragen werde, auch belogen habe. Der Untersuchungsrichter würde doch nicht auf dem Dachboden sitzen und warten. Die Holztreppe erklärte nichts, so lange man sie auch ansah. Da bemerkte K. einen kleinen Zettel neben dem Aufgang, ging hinüber und las in einer kindlichen, ungeübten Schrift: » Aufgang zu den Gerichtskanzleien. « Hier auf dem Dachboden dieses Miethauses waren also die Gerichtskanzleien? Das war keine Einrichtung, die viel Achtung einzuflößen imstande war, und es war für einen Angeklagten beruhigend, sich vorzustellen, wie wenig Geldmittel diesem Gericht zur Verfügung standen, wenn es seine Kanzleien dort unterbrachte, wo die Mietsparteien, die schon selbst zu den Ärmsten gehörten, ihren unnützen Kram hinwarfen. Allerdings war es nicht ausgeschlossen, daß man Geld genug hatte, daß aber die Beamtenschaft sich darüber warf, ehe es für Gerichtszwecke verwendet wurde. Das war nach den bisherigen Erfahrungen K.s sogar sehr wahrscheinlich, nur war dann eine solche Verlotterung des Gerichtes für einen Angeklagten zwar entwürdigend, aber im Grunde noch beruhigender, als es die Armut des Gerichtes gewesen wäre. Nun war es K. auch begreiflich, daß man sich beim ersten Verhör schämte, den Angeklagten auf den Dachboden vorzuladen und es vorzog, ihn in seiner Wohnung zu belästigen. In welcher Stellung befand sich doch K. gegenüber dem Richter, der auf dem Dachboden saß, während er selbst in der Bank ein großes Zimmer mit einem Vorzimmer hatte und durch eine riesige Fensterscheibe auf den belebten Stadtplatz hinuntersehen konnte! Allerdings hatte er keine Nebeneinkünfte aus Bestechungen oder Unterschlagungen und konnte sich auch vom Diener keine Frau auf dem Arm ins Büro tragen lassen. Darauf wollte K. aber, wenigstens in diesem Leben, gerne verzichten. K. stand noch vor dem Anschlagzettel, als ein Mann die Treppe heraufkam, durch die offene Tür ins Wohnzimmer sah, aus dem man auch das Sitzungszimmer sehen konnte, und schließlich K. fragte, ob er hier nicht vor kurzem eine Frau gesehen habe. » Sie sind der Gerichtsdiener, nicht? « fragte K. » Ja «, sagte der Mann, » ach so, Sie sind der Angeklagte K., jetzt erkenne ich Sie auch, seien Sie willkommen. « Und er reichte K., der es gar nicht erwartet hatte, die Hand. » Heute ist aber keine Sitzung angezeigt «, sagte dann der Gerichtsdiener, als K. schwieg. » Ich weiß «, sagte K. und betrachtete den Zivilrock des Gerichtsdieners, der als einziges amtliches Abzeichen neben einigen gewöhnlichen Knöpfen auch zwei vergoldete Knöpfe aufwies, die von einem alten Offiziersmantel abgetrennt zu sein schienen. » Ich habe vor einem Weilchen mit Ihrer Frau gesprochen. Sie ist nicht mehr hier. Der Student hat sie zum Untersuchungsrichter getragen. « » Sehen Sie «, sagte der Gerichtsdiener, » immer trägt man sie mir weg. Heute ist doch Sonntag, und ich bin zu keiner Arbeit verpflichtet, aber nur, um mich von hier zu entfernen, schickt man mich mit einer jedenfalls unnützen Meldung weg. Und zwar schickt man mich nicht weit weg, so daß ich die Hoffnung habe, wenn ich mich sehr beeile, vielleicht noch rechtzeitig zurückzukommen. Ich laufe also, so sehr ich kann, schreie dem Amt, zu dem ich geschickt wurde, meine Meldung durch den Türspalt so atemlos zu, daß man sie kaum verstanden haben wird, laufe wieder zurück, aber der Student hat sich noch mehr beeilt als ich, er hatte allerdings auch einen kürzeren Weg, er mußte nur die Bodentreppe hinunterlaufen. Wäre ich nicht so abhängig, ich hätte den Studenten schon längst hier an der Wand zerdrückt. Hier neben dem Anschlagzettel. Davon träume ich immer. Hier, ein wenig über dem Fußboden, ist er festgedrückt, die Arme gestreckt, die Finger gespreizt, die krummen Beine zum Kreis gedreht, und ringsherum Blutspritzer. Bisher war es aber nur Traum. « » Eine andere Hilfe gibt es nicht? « fragte K. lächelnd. » Ich wüßte keine «, sagte der Gerichtsdiener. » Und jetzt wird es ja noch ärger, bisher hat er sie nur zu sich getragen, jetzt trägt er sie, was ich allerdings längst erwartet habe, auch zum Untersuchungsrichter. « » Hat denn Ihre Frau gar keine Schuld dabei «, fragte K., er mußte sich bei dieser Frage bezwingen, so sehr fühlte auch er jetzt die Eifersucht. » Aber gewiß «, sagte der Gerichtsdiener, » sie hat sogar die größte Schuld. Sie hat sich ja an ihn gehängt. Was ihn betrifft, er läuft allen Weibern nach. In diesem Hause allein ist er schon aus fünf Wohnungen, in die er sich eingeschlichen hat, hinausgeworfen worden. Meine Frau ist allerdings die Schönste im ganzen Haus, und gerade ich darf mich nicht wehren. « » Wenn es sich so verhält, dann gibt es allerdings keine Hilfe «, sagte K. » Warum denn nicht? « fragte der Gerichtsdiener. » Man müßte den Studenten, der ein Feigling ist, einmal, wenn er meine Frau anrühren will, so durchprügeln, daß er es niemals mehr wagt. Aber ich darf es nicht, und andere machen mir den Gefallen nicht, denn alle fürchten seine Macht. Nur ein Mann wie Sie könnte es tun. « » Wieso denn ich? « fragte K. erstaunt. » Sie sind doch angeklagt «, sagte der Gerichtsdiener. » Ja «, sagte K. » aber desto mehr müßte ich doch fürchten, daß er, wenn auch vielleicht nicht Einfluß auf den Ausgang des Prozesses, so doch wahrscheinlich auf die Voruntersuchung hat. « » Ja, gewiß «, sagte der Gerichtsdiener, als sei die Ansicht K.s genau so richtig wie seine eigene. » Es werden aber bei uns in der Regel keine aussichtslosen Prozesse geführt. « » Ich bin nicht Ihrer Meinung «, sagte K., » das soll mich aber nicht hindern, gelegentlich den Studenten in Behandlung zu nehmen. « » Ich wäre Ihnen sehr dankbar «, sagte der Gerichtsdiener etwas förmlich, er schien eigentlich doch nicht an die Erfüllbarkeit seines höchsten Wunsches zu glauben. » Es würden vielleicht «, fuhr K. fort, » auch noch andere Ihrer Beamten und vielleicht sogar alle das gleiche verdienen. « » Ja, ja «, sagte der Gerichtsdiener, als handle es sich um etwas Selbstverständliches. Dann sah er K. mit einem zutraulichen Blick an, wie er es bisher trotz aller Freundlichkeit nicht getan hatte, und fügte hinzu: » Man rebelliert eben immer. « Aber das Gespräch schien ihm doch ein wenig unbehaglich geworden zu sein, denn er brach es ab, indem er sagte: » Jetzt muß ich mich in der Kanzlei melden. Wollen Sie mitkommen? « » Ich habe dort nichts zu tun «, sagte K. » Sie können die Kanzleien ansehen. Es wird sich niemand um Sie kümmern. « » Ist es denn sehenswert? « fragte K. zögernd, hatte aber große Lust, mitzugehen. » Nun «, sagte der Gerichtsdiener, » ich dachte, es würde Sie interessieren. « » Gut «, sagte K. schließlich, » ich gehe mit. « Und er lief schneller als der Gerichtsdiener die Treppe hinauf. Beim Eintritt wäre er fast hingefallen, denn hinter der Tür war noch eine Stufe. » Auf das Publikum nimmt man nicht viel Rücksicht «, sagte er. » Man nimmt überhaupt keine Rücksicht «, sagte der Gerichtsdiener, » sehen Sie nur hier das Wartezimmer. « Es war ein langer Gang, von dem aus roh gezimmerte Türen zu den einzelnen Abteilungen des Dachbodens führten. Obwohl kein unmittelbarer Lichtzutritt bestand, war es doch nicht vollständig dunkel, denn manche Abteilungen hatten gegen den Gang zu statt einheitlicher Bretterwände bloße, allerdings bis zur Decke reichende Holzgitter, durch die einiges Licht drang und durch die man auch einzelne Beamte sehen konnte, wie sie an Tischen schrieben oder geradezu am Gitter standen und durch die Lücken die Leute auf dem Gang beobachteten. Es waren, wahrscheinlich weil Sonntag war, nur wenig Leute auf dem Gang. Sie machten einen sehr bescheidenen Eindruck. In fast regelmäßigen Entfernungen voneinander saßen sie auf den zwei Reihen langer Holzbänke, die zu beiden Seiten des Ganges angebracht waren. Alle waren vernachlässigt angezogen, obwohl die meisten nach dem Gesichtsausdruck, der Haltung, der Barttracht und vielen, kaum sicherzustellenden kleinen Einzelheiten den höheren Klassen angehörten. Da keine Kleiderhaken vorhanden waren, hatten sie die Hüte, wahrscheinlich einer dem Beispiel des anderen folgend, unter die Bank gestellt. Als die, welche zunächst der Tür saßen, K. und den Gerichtsdiener erblickten, erhoben sie sich zum Gruß, da das die Folgenden sahen, glaubten sie auch grüßen zu müssen, so daß alle beim Vorbeigehen der beiden sich erhoben. Sie standen niemals vollständig aufrecht, der Rücken war geneigt, die Knie geknickt, sie standen wie Straßenbettler. K. wartete auf den ein wenig hinter ihm gehenden Gerichtsdiener und sagte: » Wie gedemütigt die sein müssen. « » Ja «, sagte der Gerichtsdiener, » es sind Angeklagte, alle, die Sie hier sehn, sind Angeklagte. « » Wirklich! « sagte K. » Dann sind es ja meine Kollegen. « Und er wandte sich an den nächsten, einen großen, schlanken, schon fast grauhaarigen Mann. » Worauf warten Sie hier? « fragte K. höflich. Die unerwartete Ansprache aber machte den Mann verwirrt, was um so peinlicher aussah, da es sich offenbar um einen welterfahrenen Menschen handelte, der anderswo gewiß sich zu beherrschen verstand und die Überlegenheit, die er sich über viele erworben hatte, nicht leicht aufgab. Hier aber wußte er auf eine so einfache Frage nicht zu antworten und sah auf die anderen hin, als seien sie verpflichtet, ihm zu helfen, und als könne niemand von ihm eine Antwort verlangen, wenn diese Hilfe ausbliebe. Da trat der Gerichtsdiener hinzu und sagte, um den Mann zu beruhigen und aufzumuntern: » Der Herr hier fragt ja nur, worauf Sie warten. Antworten Sie doch. « Die ihm wahrscheinlich bekannte Stimme des Gerichtsdieners wirkte besser: » Ich warte – « begann er und stockte. Offenbar hatte er diesen Anfang gewählt, um ganz genau auf die Fragestellung zu antworten, fand aber jetzt die Fortsetzung nicht. Einige der Wartenden hatten sich genähert und umstanden die Gruppe, der Gerichtsdiener sagte zu ihnen: » Weg, weg, macht den Gang frei. « Sie wichen ein wenig zurück, aber nicht bis zu ihren früheren Sitzen. Inzwischen hatte sich der Gefragte gesammelt und antwortete sogar mit einem kleinen Lächeln: » Ich habe vor einem Monat einige Beweisanträge in meiner Sache gemacht und warte auf die Erledigung. « » Sie scheinen sich ja viele Mühe zu geben «, sagte K. » Ja «, sagte der Mann, » es ist ja meine Sache. « » Jeder denkt nicht so wie Sie «, sagte K., » ich zum Beispiel bin auch angeklagt, habe aber, so wahr ich selig werden will, weder einen Beweisantrag gestellt, noch auch sonst irgend etwas Derartiges unternommen. Halten Sie denn das für nötig? « » Ich weiß nicht genau «, sagte der Mann wieder in vollständiger Unsicherheit; er glaubte offenbar, K. mache mit ihm einen Scherz, deshalb hätte er wahrscheinlich am liebsten, aus Furcht, irgendeinen neuen Fehler zu machen, seine frühere Antwort ganz wiederholt, vor K.s ungeduldigem Blick aber sagte er nur: » Was mich betrifft, ich habe Beweisanträge gestellt. « » Sie glauben wohl nicht, daß ich angeklagt bin? « fragte K. » O bitte, gewiß «, sagte der Mann, und trat ein wenig zur Seite, aber in der Antwort war nicht Glaube, sondern nur Angst. » Sie glauben mir also nicht? « fragte K. und faßte ihn, unbewußt durch das demütige Wesen des Mannes aufgefordert, beim Arm, als wolle er ihn zum Glauben zwingen. Aber er wollte ihm nicht Schmerz bereiten, hatte ihn auch nur ganz leicht angegriffen, trotzdem schrie der Mann auf, als habe K. ihn nicht mit zwei Fingern, sondern mit einer glühenden Zange erfaßt. Dieses lächerliche Schreien machte ihn K. endgültig überdrüssig; glaubte man ihm nicht, daß er angeklagt war, so war es desto besser; vielleicht hielt er ihn sogar für einen Richter. Und er faßte ihn nun zum Abschied wirklich fester, stieß ihn auf die Bank zurück und ging weiter. » Die meisten Angeklagten sind so empfindlich «, sagte der Gerichtsdiener. Hinter ihnen sammelten sich jetzt fast alle Wartenden um den Mann, der schon zu schreien aufgehört hatte, und schienen ihn über den Zwischenfall genau auszufragen. K. entgegen kam jetzt ein Wächter, der hauptsächlich an einem Säbel kenntlich war, dessen Scheide, wenigstens der Farbe nach, aus Aluminium bestand. K. staunte darüber und griff sogar mit der Hand hin. Der Wächter, der wegen des Schreiens gekommen war, fragte nach dem Vorgefallenen. Der Gerichtsdiener suchte ihn mit einigen Worten zu beruhigen, aber der Wächter erklärte, doch noch selbst nachsehen zu müssen, salutierte und ging weiter mit sehr eiligen, aber sehr kurzen, wahrscheinlich durch Gicht abgemessenen Schritten. K. kümmerte sich nicht lange um ihn und die Gesellschaft auf dem Gang, besonders da er etwa in der Hälfte des Ganges die Möglichkeit sah, rechts durch eine türlose Öffnung einzubiegen. Er verständigte sich mit dem Gerichtsdiener darüber, ob das der richtige Weg sei, der Gerichtsdiener nickte, und K. bog nun wirklich dort ein. Es war ihm lästig, daß er immer einen oder zwei Schritte vor dem Gerichtsdiener gehen mußte, es konnte wenigstens an diesem Ort den Anschein haben, als ob er verhaftet vorgeführt werde. Er wartete also öfters auf den Gerichtsdiener, aber dieser blieb gleich wieder zurück. Schließlich sagte K., um seinem Unbehagen ein Ende zu machen: » Nun habe ich gesehen, wie es hier aussieht, ich will jetzt weggehen. « » Sie haben noch nicht alles gesehen «, sagte der Gerichtsdiener vollständig unverfänglich. » Ich will nicht alles sehen «, sagte K., der sich übrigens wirklich müde fühlte, » ich will gehen, wie kommt man zum Ausgang? « » Sie haben sich doch nicht schon verirrt? « fragte der Gerichtsdiener erstaunt, » Sie gehen hier bis zur Ecke und dann rechts den Gang hinunter geradeaus zur Tür. « » Kommen Sie mit «, sagte K., » zeigen Sie mir den Weg, ich werde ihn verfehlen, es sind hier so viele Wege. « » Es ist der einzige Weg «, sagte der Gerichtsdiener nun schon vorwurfsvoll, » ich kann nicht wieder mit Ihnen zurückgehen, ich muß doch meine Meldung vorbringen und habe schon viel Zeit durch Sie versäumt. « » Kommen Sie mit! « wiederholte K. jetzt schärfer, als habe er endlich den Gerichtsdiener auf einer Unwahrheit ertappt. » Schreien Sie doch nicht so «, flüsterte der Gerichtsdiener, » es sind ja hier überall Büros. Wenn Sie nicht allein zurückgehen wollen, so gehen Sie noch ein Stückchen mit mir oder warten Sie hier, bis ich meine Meldung erledigt habe, dann will ich ja gern mit Ihnen wieder zurückgehen. « » Nein, nein «, sagte K., » ich werde nicht warten, und Sie müssen jetzt mit mir gehen. « K. hatte sich noch gar nicht in dem Raum umgesehen, in dem er sich befand, erst als jetzt eine der vielen Holztüren, die ringsherum standen, sich öffnete, blickte er hin. Ein Mädchen, das wohl durch K.s lautes Sprechen herbeigerufen war, trat ein und fragte: » Was wünscht der Herr? « Hinter ihr in der Ferne sah man im Halbdunkel noch einen Mann sich nähern. K. blickte den Gerichtsdiener an. Dieser hatte doch gesagt, daß sich niemand um K. kümmern werde, und nun kamen schon zwei, es brauchte nur wenig und die Beamtenschaft wurde auf ihn aufmerksam, würde eine Erklärung seiner Anwesenheit haben wollen. Die einzig verständliche und annehmbare war die, daß er Angeklagter war und das Datum des nächsten Verhörs erfahren wollte, gerade diese Erklärung aber wollte er nicht geben, besonders da sie auch nicht wahrheitsgemäß war, denn er war nur aus Neugierde gekommen oder, was als Erklärung noch unmöglicher war, aus dem Verlangen, festzustellen, daß das Innere dieses Gerichtswesens ebenso widerlich war wie sein Äußeres. Und es schien ja, daß er mit dieser Annahme recht hatte, er wollte nicht weiter eindringen, er war beengt genug von dem, was er bisher gesehen hatte, er war gerade jetzt nicht in der Verfassung, einem höheren Beamten gegenüberzutreten, wie er hinter jeder Tür auftauchen konnte, er wollte weggehen, und zwar mit dem Gerichtsdiener oder allein, wenn es sein mußte. Aber sein stummes Dastehen mußte auffallend sein, und wirklich sahen ihn das Mädchen und der Gerichtsdiener derartig an, als ob in der nächsten Minute irgendeine große Verwandlung mit ihm geschehen müsse, die sie zu beobachten nicht versäumen wollten. Und in der Türöffnung stand der Mann, den K. früher in der Ferne bemerkt hatte, er hielt sich am Deckbalken der niedrigen Tür fest und schaukelte ein wenig auf den Fußspitzen, wie ein ungeduldiger Zuschauer. Das Mädchen aber erkannte doch zuerst, daß das Benehmen K.s in einem leichten Unwohlsein seinen Grund hatte, sie brachte einen Sessel und fragte: » Wollen Sie sich nicht setzen? « K. setzte sich sofort und stützte, um noch besseren Halt zu bekommen, die Ellbogen auf die Lehnen. » Sie haben ein wenig Schwindel, nicht? « fragte sie ihn. Er hatte nun ihr Gesicht nahe vor sich, es hatte den strengen Ausdruck, wie ihn manche Frauen gerade in ihrer schönsten Jugend haben. » Machen Sie sich darüber keine Gedanken «, sagte sie, » das ist hier nichts Außergewöhnliches, fast jeder bekommt einen solchen Anfall, wenn er zum erstenmal herkommt. Sie sind zum erstenmal hier? Nun ja, das ist also nichts Außergewöhnliches. Die Sonne brennt hier auf das Dachgerüst, und das heiße Holz macht die Luft so dumpf und schwer. Der Ort ist deshalb für Büroräumlichkeiten nicht sehr geeignet, so große Vorteile er allerdings sonst bietet. Aber was die Luft betrifft, so ist sie an Tagen großen Parteienverkehrs, und das ist fast jeder Tag, kaum mehr atembar. Wenn Sie dann noch bedenken, daß hier auch vielfach Wäsche zum Trocknen ausgehängt wird – man kann es den Mietern nicht gänzlich untersagen –, so werden Sie sich nicht mehr wundern, daß Ihnen ein wenig übel wurde. Aber man gewöhnt sich schließlich an die Luft sehr gut. Wenn Sie zum zweiten - oder drittenmal herkommen, werden Sie das Drückende hier kaum mehr spüren. Fühlen Sie sich schon besser? « K. antwortete nicht, es war ihm zu peinlich, durch diese plötzliche Schwäche den Leuten hier ausgeliefert zu sein, überdies war ihm, da er jetzt die Ursachen seiner Übelkeit erfahren hatte, nicht besser, sondern noch ein wenig schlechter. Das Mädchen merkte es gleich, nahm, um K. eine Erfrischung zu bereiten, eine Hakenstange, die an der Wand lehnte, und stieß damit eine kleine Luke auf, die gerade über K. angebracht war und ins Freie führte. Aber es fiel so viel Ruß herein, daß das Mädchen die Luke gleich wieder zuziehen und mit ihrem Taschentuch die Hände K.s vom Ruß reinigen mußte, denn K. war zu müde, um das selbst zu besorgen. Er wäre gern hier ruhig sitzengeblieben, bis er sich zum Weggehen genügend gekräftigt hatte, das mußte aber um so früher geschehen, je weniger man sich um ihn kümmern würde. Nun sagte aber überdies das Mädchen: » Hier können Sie nicht bleiben, hier stören wir den Verkehr – « K. fragte mit den Blicken, welchen Verkehr er denn hier störe – » Ich werde Sie, wenn Sie wollen, ins Krankenzimmer führen. Helfen Sie mir, bitte «, sagte sie zu dem Mann in der Tür, der auch gleich näher kam. Aber K. wollte nicht ins Krankenzimmer, gerade das wollte er ja vermeiden, weiter geführt zu werden, je weiter er kam, desto ärger mußte es werden. » Ich kann schon gehen «, sagte er deshalb und stand, durch das bequeme Sitzen verwöhnt, zitternd auf. Dann aber konnte er sich nicht aufrecht halten. » Es geht doch nicht «, sagte er kopfschüttelnd und setzte sich seufzend wieder nieder. Er erinnerte sich an den Gerichtsdiener, der ihn trotz allem leicht hinausführen könnte, aber der schien schon längst weg zu sein, K. sah zwischen dem Mädchen und dem Mann, die vor ihm standen, hindurch, konnte aber den Gerichtsdiener nicht finden. » Ich glaube «, sagte der Mann, der übrigens elegant gekleidet war und besonders durch eine graue Weste auffiel, die in zwei langen, scharfgeschnittenen Spitzen endigte, » das Unwohlsein des Herrn geht auf die Atmosphäre hier zurück, es wird daher am besten und auch ihm am liebsten sein, wenn wir ihn nicht erst ins Krankenzimmer, sondern überhaupt aus den Kanzleien hinausführen. « » Das ist es «, rief K. und fuhr vor lauter Freude fast noch in die Rede des Mannes hinein, » mir wird gewiß sofort besser werden, ich bin auch gar nicht so schwach, nur ein wenig Unterstützung unter den Achseln brauche ich, ich werde Ihnen nicht viel Mühe machen, es ist ja auch kein langer Weg, führen Sie mich nur zur Tür, ich setze mich dann noch ein wenig auf die Stufen und werde gleich erholt sein, ich leide nämlich gar nicht unter solchen Anfällen, es kommt mir selbst überraschend. Ich bin doch auch Beamter und an Büroluft gewöhnt, aber hier scheint es doch zu arg, Sie sagen es selbst. Wollen Sie also die Freundlichkeit haben, mich ein wenig zu führen, ich habe nämlich Schwindel, und es wird mir schlecht, wenn ich allein aufstehe. « Und er hob die Schultern, um es den beiden zu erleichtern, ihm unter die Arme zu greifen. Aber der Mann folgte der Aufforderung nicht, sondern hielt die Hände ruhig in den Hosentaschen und lachte laut. » Sehen Sie «, sagte er zu dem Mädchen, » ich habe also doch das Richtige getroffen. Dem Herrn ist nur hier nicht wohl, nicht im allgemeinen. « Das Mädchen lächelte auch, schlug aber dem Mann leicht mit den Fingerspitzen auf den Arm, als hätte er sich mit K. einen zu starken Spaß erlaubt. » Aber was denken Sie denn «, sagte der Mann noch immer lachend, » ich will ja den Herrn wirklich hinausführen. « » Dann ist es gut «, sagte das Mädchen, indem sie ihren zierlichen Kopf für einen Augenblick neigte. » Messen Sie dem Lachen nicht zuviel Bedeutung zu «, sagte das Mädchen zu K., der, wieder traurig geworden, vor sich hinstarrte und keine Erklärung zu brauchen schien, » dieser Herr – ich darf Sie doch vorstellen? « (der Herr gab mit einer Handbewegung die Erlaubnis) – » dieser Herr also ist der Auskunftgeber. Er gibt den wartenden Parteien alle Auskunft, die sie brauchen, und da unser Gerichtswesen in der Bevölkerung nicht sehr bekannt ist, werden viele Auskünfte verlangt. Er weiß auf alle Fragen eine Antwort, Sie können ihn, wenn Sie einmal Lust dazu haben, daraufhin erproben. Das ist aber nicht sein einziger Vorzug, sein zweiter Vorzug ist die elegante Kleidung. Wir, das heißt die Beamtenschaft, meinten einmal, man müsse den Auskunftgeber, der immerfort, und zwar als erster, mit Parteien verhandelt, des würdigen ersten Eindrucks halber, auch elegant anziehen. Wir anderen sind, wie Sie gleich an mir sehen können, leider sehr schlecht und altmodisch angezogen; es hat auch nicht viel Sinn, für die Kleidung etwas zu verwenden, da wir fast unaufhörlich in den Kanzleien sind, wir schlafen ja auch hier. Aber, wie gesagt, für den Auskunftgeber hielten wir einmal schöne Kleidung für nötig. Da sie aber von unserer Verwaltung, die in dieser Hinsicht etwas sonderbar ist, nicht erhältlich war, machten wir eine Sammlung – auch Parteien steuerten bei – und wir kauften ihm dieses schöne Kleid und noch andere. Alles wäre jetzt vorbereitet, einen guten Eindruck zu machen, aber durch sein Lachen verdirbt er es wieder und erschreckt die Leute. « » So ist es «, sagte der Herr spöttisch, » aber ich verstehe nicht, Fräulein, warum Sie dem Herrn alle unsere Intimitäten erzählen oder besser, aufdrängen, denn er will sie ja gar nicht erfahren. Sehen Sie nur, wie er, offenbar mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, dasitzt. « K. hatte nicht einmal Lust, zu widersprechen, die Absicht des Mädchens mochte eine gute sein, sie war vielleicht darauf gerichtet, ihn zu zerstreuen oder ihm die Möglichkeit zu geben, sich zu sammeln, aber das Mittel war verfehlt. » Ich mußte ihm Ihr Lachen erklären «, sagte das Mädchen. » Es war ja beleidigend. « » Ich glaube, er würde noch ärgere Beleidigungen verzeihen, wenn ich ihn schließlich hinausführe. « K. sagte nichts, sah nicht einmal auf, er duldete es, daß die zwei über ihn wie über eine Sache verhandelten, es war ihm sogar am liebsten. Aber plötzlich fühlte er die Hand des Auskunftgebers an einem Arm und die Hand des Mädchens am anderen. » Also auf, Sie schwacher Mann «, sagte der Auskunftgeber. » Ich danke Ihnen beiden vielmals «, sagte K., freudig überrascht, erhob sich langsam und führte selbst die fremden Hände an die Stellen, an denen er die Stütze am meisten brauchte. » Es sieht so aus «, sagte das Mädchen leise in K.s Ohr, während sie sich dem Gang näherten, » als ob mir besonders viel daran gelegen wäre, den Auskunftgeber in ein gutes Licht zu stellen, aber man mag es glauben, ich will doch die Wahrheit sagen. Er hat kein hartes Herz. Er ist nicht verpflichtet, kranke Parteien hinauszuführen, und tut es doch, wie Sie sehen. Vielleicht ist niemand von uns hartherzig, wir wollten vielleicht alle gern helfen, aber als Gerichtsbeamte bekommen wir leicht den Anschein, als ob wir hartherzig wären und niemandem helfen wollten. Ich leide geradezu darunter. « » Wollen Sie sich nicht hier ein wenig setzen? « fragte der Auskunftgeber, sie waren schon im Gang und gerade vor dem Angeklagten, den K. früher angesprochen hatte. K. schämte sich fast vor ihm, früher war er so aufrecht vor ihm gestanden, jetzt mußten ihn zwei stützen, seinen Hut balancierte der Auskunftgeber auf den gespreizten Fingern, die Frisur war zerstört, die Haare hingen ihm in die schweißbedeckte Stirn. Aber der Angeklagte schien nichts davon zu bemerken, demütig stand er vor dem Auskunftgeber, der über ihn hinwegsah, und suchte nur seine Anwesenheit zu entschuldigen. » Ich weiß «, sagte er, » daß die Erledigung meiner Anträge heute noch nicht gegeben werden kann. Ich bin aber doch gekommen, ich dachte, ich könnte doch hier warten, es ist Sonntag, ich habe ja Zeit und hier störe ich nicht. « » Sie müssen das nicht so sehr entschuldigen «, sagte der Auskunftgeber, » Ihre Sorgsamkeit ist ja ganz lobenswert, Sie nehmen hier zwar unnötigerweise den Platz weg, aber ich will Sie trotzdem, solange es mir nicht lästig wird, durchaus nicht hindern, den Gang Ihrer Angelegenheit genau zu verfolgen. Wenn man Leute gesehen hat, die ihre Pflicht schändlich vernachlässigten, lernt man es, mit Leuten, wie Sie sind, Geduld zu haben. Setzen Sie sich. « » Wie er mit den Parteien zu reden versteht «, flüsterte das Mädchen. K. nickte, fuhr aber gleich auf, als ihn der Auskunftgeber wieder fragte: » Wollen Sie sich nicht hier niedersetzen? « » Nein «, sagte K., » ich will mich nicht ausruhen. « Er hatte das mit möglichster Bestimmtheit gesagt, in Wirklichkeit hätte es ihm sehr wohlgetan, sich niederzusetzen. Er war wie seekrank. Er glaubte auf einem Schiff zu sein, das sich in schwerem Seegang befand. Es war ihm, als stürze das Wasser gegen die Holzwände, als komme aus der Tiefe des Ganges ein Brausen her, wie von überschlagendem Wasser, als schaukle der Gang in der Quere und als würden die wartenden Parteien zu beiden Seiten gesenkt und gehoben. Desto unbegreiflicher war die Ruhe des Mädchens und des Mannes, die ihn führten. Er war ihnen ausgeliefert, ließen sie ihn los, so mußte er hinfallen wie ein Brett. Aus ihren kleinen Augen gingen scharfe Blicke hin und her, ihre gleichmäßigen Schritte fühlte K., ohne sie mitzumachen, denn er wurde fast von Schritt zu Schritt getragen. Endlich merkte er, daß sie zu ihm sprachen, aber er verstand sie nicht, er hörte nur den Lärm, der alles erfüllte und durch den hindurch ein unveränderlicher hoher Ton, wie von einer Sirene, zu klingen schien. » Lauter «, flüsterte er mit gesenktem Kopf und schämte sich, denn er wußte, daß sie laut genug, wenn auch für ihn unverständlich, gesprochen hatten. Da kam endlich, als wäre die Wand vor ihm durchrissen, ein frischer Luftzug ihm entgegen, und er hörte neben sich sagen: » Zuerst will er weg, dann aber kann man ihm hundertmal sagen, daß hier der Ausgang ist, und er rührt sich nicht. « K. merkte, daß er vor der Ausgangstür stand, die das Mädchen geöffnet hatte. Ihm war, als wären alle seine Kräfte mit einemmal zurückgekehrt, um einen Vorgeschmack der Freiheit zu gewinnen, trat er gleich auf eine Treppenstufe und verabschiedete sich von dort aus von seinen Begleitern, die sich zu ihm hinabbeugten. » Vielen Dank «, wiederholte er, drückte beiden wiederholt die Hände und ließ erst ab, als er zu sehen glaubte, daß sie, an die Kanzleiluft gewöhnt, die verhältnismäßig frische Luft, die von der Treppe kam, schlecht ertrugen. Sie konnten kaum antworten, und das Mädchen wäre vielleicht abgestürzt, wenn nicht K. äußerst schnell die Tür geschlossen hätte. K. stand dann noch einen Augenblick still, strich sich mit Hilfe eines Taschenspiegels das Haar zurecht, hob seinen Hut auf, der auf dem nächsten Treppenabsatz lag – der Auskunftgeber hatte ihn wohl hingeworfen – und lief dann die Treppe hinunter, so frisch und in so langen Sprüngen, daß er vor diesem Umschwung fast Angst bekam. Solche Überraschungen hatte ihm sein sonst ganz gefestigter Gesundheitszustand noch nie bereitet. Wollte etwa sein Körper revolutionieren und ihm einen neuen Prozeß bereiten, da er den alten so mühelos ertrug? Er lehnte den Gedanken nicht ganz ab, bei nächster Gelegenheit zu einem Arzt zu gehen, jedenfalls aber wollte er – darin konnte er sich selbst beraten – alle künftigen Sonntagvormittage besser als diesen verwenden. 4 Die Freundin des Fräulein Bürstner In der nächsten Zeit war es K. unmöglich, mit Fräulein Bürstner auch nur wenige Worte zu sprechen. Er versuchte auf die verschiedenste Weise, an sie heranzukommen, sie aber wußte es immer zu verhindern. Er kam gleich nach dem Büro nach Hause, blieb in seinem Zimmer, ohne das Licht anzudrehen, auf dem Kanapee sitzen und beschäftigte sich mit nichts anderem, als das Vorzimmer zu beobachten. Ging etwa das Dienstmädchen vorbei und schloß die Tür des scheinbar leeren Zimmers, so stand er nach einem Weilchen auf und öffnete sie wieder. Des Morgens stand er um eine Stunde früher auf als sonst, um vielleicht Fräulein Bürstner allein treffen zu können, wenn sie ins Büro ging. Aber keiner dieser Versuche gelang. Dann schrieb er ihr einen Brief sowohl ins Büro als auch in die Wohnung, suchte darin nochmals sein Verhalten zu rechtfertigen, bot sich zu jeder Genugtuung an, versprach, niemals die Grenzen zu überschreiten, die sie ihm setzen würde, und bat nur, ihm die Möglichkeit zu geben, einmal mir ihr zu sprechen, besonders da er auch bei Frau Grubach nichts veranlassen könnte, solange er sich nicht vorher mit ihr beraten habe, schließlich teilte er ihr mit, daß er den nächsten Sonntag während des ganzen Tages in seinem Zimmer auf ein Zeichen von ihr warten werde, das ihm die Erfüllung seiner Bitte in Aussicht stellen oder das ihm wenigstens erklären solle, warum sie die Bitte nicht erfüllen könne, obwohl er doch versprochen habe, sich in allem ihr zu fügen. Die Briefe kamen nicht zurück, aber es erfolgte auch keine Antwort. Dagegen gab es Sonntag ein Zeichen, dessen Deutlichkeit genügend war. Gleich früh bemerkte K. durch das Schlüsselloch eine besondere Bewegung im Vorzimmer, die sich bald aufklärte. Eine Lehrerin des Französischen, sie war übrigens eine Deutsche und hieß Montag, ein schwaches, blasses, ein wenig hinkendes Mädchen, das bisher ein eigenes Zimmer bewohnt hatte, übersiedelte in das Zimmer des Fräulein Bürstner. Stundenlang sah man sie durch das Vorzimmer schlürfen. Immer war noch ein Wäschestück oder ein Deckchen oder ein Buch vergessen, das besonders geholt und in die neue Wohnung hinübergetragen werden mußte. Als Frau Grubach K. das Frühstück brachte – sie überließ, seitdem sie K. so erzürnt hatte, auch nicht die geringste Bedienung dem Dienstmädchen –, konnte sich K. nicht zurückhalten, sie zum erstenmal seit fünf Tagen anzusprechen. » Warum ist denn heute ein solcher Lärm im Vorzimmer? « fragte er, während er den Kaffee eingoß, » könnte das nicht eingestellt werden? Muß denn gerade am Sonntag aufgeräumt werden? « Obwohl K. nicht zu Frau Grubach aufsah, bemerkte er doch, daß sie, wie erleichtert, aufatmete. Selbst diese strengen Fragen K.s faßte sie als Verzeihung oder als Beginn der Verzeihung auf. » Es wird nicht aufgeräumt, Herr K. «, sagte sie, » Fräulein Montag übersiedelt nur zu Fräulein Bürstner und schafft ihre Sachen hinüber. « Sie sagte nichts weiter, sondern wartete, wie K. es aufnehmen und ob er ihr gestatten würde, weiterzureden. K. stellte sie aber auf die Probe, rührte nachdenklich den Kaffee mit dem Löffel und schwieg. Dann sah er zu ihr auf und sagte: » Haben Sie schon Ihren früheren Verdacht wegen Fräulein Bürstner aufgegeben? « » Herr K. «, rief Frau Grubach, die nur auf diese Frage gewartet hatte, und hielt K. ihre gefalteten Hände hin. » Sie haben eine gelegentliche Bemerkung letzthin so schwer genommen. Ich habe ja nicht im entferntesten daran gedacht, Sie oder irgend jemand zu kränken. Sie kennen mich doch schon lange genug, Herr K., um davon überzeugt sein zu können. Sie wissen gar nicht, wie ich die letzten Tage gelitten habe! Ich sollte meine Mieter verleumden! Und Sie, Herr K., glaubten es! Und sagten, ich solle Ihnen kündigen! Ihnen kündigen! « Der letzte Ausruf erstickte schon unter Tränen, sie hob die Schürze zum Gesicht und schluchzte laut. » Weinen Sie doch nicht, Frau Grubach «, sagte K. und sah zum Fenster hinaus, er dachte nur an Fräulein Bürstner und daran, daß sie ein fremdes Mädchen in ihr Zimmer aufgenommen hatte. » Weinen Sie doch nicht «, sagte er nochmals, als er sich ins Zimmer zurückwandte und Frau Grubach noch immer weinte. » Es war ja damals auch von mir nicht so schlimm gemeint. Wir haben eben einander gegenseitig mißverstanden. Das kann auch alten Freunden einmal geschehen. « Frau Grubach rückte die Schürze unter die Augen, um zu sehen, ob K. wirklich versöhnt sei. » Nun ja, es ist so «, sagte K. und wagte nun, da, nach dem Verhalten der Frau Grubach zu schließen, der Hauptmann nichts verraten hatte, noch hinzuzufügen: » Glauben Sie denn wirklich, daß ich mich wegen eines fremden Mädchens mit Ihnen verfeinden könnte? « » Das ist es ja eben, Herr K. «, sagte Frau Grubach, es war ihr Unglück, daß sie, sobald sie sich nur irgendwie freier fühlte, gleich etwas Ungeschicktes sagte. » Ich frage mich immerfort: Warum nimmt sich Herr K. so sehr des Fräulein Bürstner an? Warum zankt er ihretwegen mit mir, obwohl er weiß, daß mir jedes böse Wort von ihm den Schlaf nimmt? Ich habe ja über das Fräulein nichts anderes gesagt, als was ich mit eigenen Augen gesehen habe. « K. sagte dazu nichts, er hätte sie mit dem ersten Wort aus dem Zimmer jagen müssen, und das wollte er nicht. Er begnügte sich damit, den Kaffee zu trinken und Frau Grubach ihre Überflüssigkeit fühlen zu lassen. Draußen hörte man wieder den schleppenden Schritt des Fräulein Montag, welche das ganze Vorzimmer durchquerte. » Hören Sie es? « fragte K. und zeigte mit der Hand nach der Tür. » Ja «, sagte Frau Grubach und seufzte, » ich wollte ihr helfen und auch vom Dienstmädchen helfen lassen, aber sie ist eigensinnig, sie will alles selbst übersiedeln. Ich wundere mich über Fräulein Bürstner. Mir ist es oft lästig, daß ich Fräulein Montag in Miete habe, Fräulein Bürstner aber nimmt sie sogar zu sich ins Zimmer. « » Das muß Sie gar nicht kümmern «, sagte K. und zerdrückte die Zuckerreste in der Tasse. » Haben Sie denn dadurch einen Schaden? « » Nein «, sagte Frau Grubach, » an und für sich ist es mir ganz willkommen, ich bekomme dadurch ein Zimmer frei und kann dort meinen Neffen, den Hauptmann, unterbringen. Ich fürchtete schon längst, daß er Sie in den letzten Tagen, während derer ich ihn nebenan im Wohnzimmer wohnen lassen mußte, gestört haben könnte. Er nimmt nicht viel Rücksicht. « » Was für Einfälle! « sagte K. und stand auf, » davon ist ja keine Rede. Sie scheinen mich wohl für überempfindlich zu halten, weil ich diese Wanderungen des Fräulein Montag – jetzt geht sie wieder zurück – nicht vertragen kann. « Frau Grubach kam sich recht machtlos vor. » Soll ich, Herr K., sagen, daß sie den restlichen Teil der Übersiedlung aufschieben soll? Wenn Sie wollen, tue ich es sofort. « » Aber sie soll doch zu Fräulein Bürstner übersiedeln! « sagte K. » Ja «, sagte Frau Grubach, sie verstand nicht ganz, was K. meinte. » Nun also «, sagte K., » dann muß sie doch ihre Sachen hinübertragen. « Frau Grubach nickte nur. Diese stumme Hilflosigkeit, die äußerlich nicht anders aussah als Trotz, reizte K. noch mehr. Er fing an, im Zimmer vom Fenster zur Tür auf und ab zu gehen und nahm dadurch Frau Grubach die Möglichkeit, sich zu entfernen, was sie sonst wahrscheinlich getan hätte. Gerade war K. einmal wieder bis zur Tür gekommen, als es klopfte. Es war das Dienstmädchen, welches meldete, daß Fräulein Montag gern mit Herrn K. ein paar Worte sprechen möchte und daß sie ihn deshalb bitte, ins Eßzimmer zu kommen, wo sie ihn erwarte. K. hörte das Dienstmädchen nachdenklich an, dann wandte er sich mit einem fast höhnischen Blick nach der erschrockenen Frau Grubach um. Dieser Blick schien zu sagen, daß K. diese Einladung des Fräulein Montag schon längst vorausgesehen habe und daß sie auch sehr gut mit der Quälerei zusammenpasse, die er diesen Sonntagvormittag von den Mietern der Frau Grubach erfahren mußte. Er schickte das Dienstmädchen zurück mit der Antwort, daß er sofort komme, ging dann zum Kleiderkasten, um den Rock zu wechseln und hatte als Antwort für Frau Grubach, welche leise über die lästige Person jammerte, nur die Bitte, sie möge das Frühstücksgeschirr schon forttragen. » Sie haben ja fast nichts angerührt «, sagte Frau Grubach. » Ach, tragen Sie es doch weg! « rief K., es war ihm, als sei irgendwie allem Fräulein Montag beigemischt und mache es widerwärtig. Als er durch das Vorzimmer ging, sah er nach der geschlossenen Tür von Fräulein Bürstners Zimmer. Aber er war nicht dorthin eingeladen, sondern in das Eßzimmer, dessen Tür er aufriß, ohne zu klopfen. Es war ein sehr langes, aber schmales, einfenstriges Zimmer. Es war dort nur so viel Platz vorhanden, daß man in den Ecken an der Türseite zwei Schränke schief hatte aufstellen können, während der übrige Raum vollständig von dem langen Speisetisch eingenommen war, der in der Nähe der Tür begann und bis knapp zum großen Fenster reichte, welches dadurch fast unzugänglich geworden war. Der Tisch war bereits gedeckt, und zwar für viele Personen, da am Sonntag fast alle Mieter hier zu Mittag aßen. Als K. eintrat, kam Fräulein Montag vom Fenster her an der einen Seite des Tisches entlang K. entgegen. Sie grüßten einander stumm. Dann sagte Fräulein Montag, wie immer den Kopf ungewöhnlich aufgerichtet: » Ich weiß nicht, ob Sie mich kennen. « K. sah sie mit zusammengezogenen Augen an. » Gewiß «, sagte er, » Sie wohnen doch schon längere Zeit bei Frau Grubach. « » Sie kümmern sich aber, wie ich glaube, nicht viel um die Pension «, sagte Fräulein Montag. » Nein «, sagte K. » Wollen Sie sich nicht setzen? « sagte Fräulein Montag. Sie zogen beide schweigend zwei Sessel am äußersten Ende des Tisches hervor und setzten sich einander gegenüber. Aber Fräulein Montag stand gleich wieder auf, denn sie hatte ihr Handtäschchen auf dem Fensterbrett liegengelassen und ging es holen; sie schleifte durch das ganze Zimmer. Als sie, das Handtäschchen leicht schwenkend, wieder zurückkam, sagte sie: » Ich möchte nur im Auftrag meiner Freundin ein paar Worte mit Ihnen sprechen. Sie wollte selbst kommen, aber sie fühlt sich heute ein wenig unwohl. Sie möchten sie entschuldigen und mich statt ihrer anhören. Sie hätte ihnen auch nichts anderes sagen können, als ich Ihnen sagen werde. Im Gegenteil, ich glaube, ich kann Ihnen sogar mehr sagen, da ich doch verhältnismäßig unbeteiligt bin. Glauben Sie nicht auch? « » Was wäre denn zu sagen? « antwortete K., der dessen müde war, die Augen des Fräulein Montag fortwährend auf seine Lippe gerichtet zu sehen. Sie maßte sich dadurch eine Herrschaft schon darüber an, was er erst sagen wollte. » Fräulein Bürstner will mir offenbar die persönliche Aussprache, um die ich sie gebeten habe, nicht bewilligen. « » Das ist es «, sagte Fräulein Montag, » oder vielmehr, so ist es gar nicht, Sie drücken es sonderbar scharf aus. Im allgemeinen werden doch Aussprachen weder bewilligt, noch geschieht das Gegenteil. Aber es kann geschehen, daß man Aussprachen für unnötig hält, und so ist es eben hier. Jetzt, nach Ihrer Bemerkung, kann ich ja offen reden. Sie haben meine Freundin schriftlich oder mündlich um eine Unterredung gebeten. Nun weiß aber meine Freundin, so muß ich wenigstens annehmen, was diese Unterredung betreffen soll, und ist deshalb aus Gründen, die ich nicht kenne, überzeugt, daß es niemandem Nutzen bringen würde, wenn die Unterredung wirklich zustande käme. Im übrigen erzählte sie mir erst gestern und nur ganz flüchtig davon, sie sagte hierbei, daß auch Ihnen jedenfalls nicht viel an der Unterredung liegen könne, denn Sie wären nur durch einen Zufall auf einen derartigen Gedanken gekommen und würden selbst auch ohne besondere Erklärung, wenn nicht schon jetzt, so doch sehr bald die Sinnlosigkeit des Ganzen erkennen. Ich antwortete darauf, daß das richtig sein mag, daß ich es aber zur vollständigen Klarstellung doch für vorteilhaft hielte, Ihnen eine ausdrückliche Antwort zukommen zu lassen. Ich bot mich an, diese Aufgabe zu übernehmen, nach einigem Zögern gab meine Freundin mir nach. Ich hoffe, nun aber auch in Ihrem Sinne gehandelt zu haben; denn selbst die kleinste Unsicherheit in der geringfügigsten Sache ist doch immer quälend, und wenn man sie, wie in diesem Falle, leicht beseitigen kann, so soll es doch besser sofort geschehen. « » Ich danke Ihnen «, sagte K. sofort, stand langsam auf, sah Fräulein Montag an, dann über den Tisch hin, dann aus dem Fenster – das gegenüberliegende Haus stand in der Sonne – und ging zur Tür. Fräulein Montag folgte ihm ein paar Schritte, als vertraue sie ihm nicht ganz. Vor der Tür mußten aber beide zurück weichen, denn sie öffnete sich, und der Hauptmann Lanz trat ein. K. sah ihn zum erstenmal aus der Nähe. Er war ein großer, etwa vierzigjähriger Mann mit braungebranntem, fleischigem Gesicht. Er machte eine leichte Verbeugung, die auch K. galt, ging dann zu Fräulein Montag und küßte ihr ehrerbietig die Hand. Er war sehr gewandt in seinen Bewegungen. Seine Höflichkeit gegen Fräulein Montag stach auffallend von der Behandlung ab, die sie von K. erfahren hatte. Trotzdem schien Fräulein Montag K. nicht böse zu sein, denn sie wollte ihn sogar, wie K. zu bemerken glaubte, dem Hauptmann vorstellen. Aber K. wollte nicht vorgestellt werden, er wäre nicht imstande gewesen, weder dem Hauptmann noch Fräulein Montag gegenüber irgendwie freundlich zu sein, der Handkuß hatte sie für ihn zu einer Gruppe verbunden, die ihn unter dem Anschein äußerster Harmlosigkeit und Uneigennützigkeit von Fräulein Bürstner abhalten wollte. K. glaubte jedoch, nicht nur das zu erkennen, er erkannte auch, daß Fräulein Montag ein gutes, allerdings zweischneidiges Mittel gewählt hatte. Sie übertrieb die Bedeutung der Beziehung zwischen Fräulein Bürstner und K., sie übertrieb vor allem die Bedeutung der erbetenen Aussprache und versuchte, es gleichzeitig so zu wenden, als ob es K. sei, der alles übertreibe. Sie sollte sich täuschen, K. wollte nichts übertreiben, er wußte, daß Fräulein Bürstner ein kleines Schreibmaschinenfräulein war, das ihm nicht lange Widerstand leisten sollte. Hierbei zog er absichtlich gar nicht in Berechnung, was er von Frau Grubach über Fräulein Bürstner erfahren hatte. Das alles überlegte er, während er kaum grüßend das Zimmer verließ. Er wollte gleich in sein Zimmer gehen, aber ein kleines Lachen des Fräulein Montag, das er hinter sich aus dem Eßzimmer hörte, brachte ihn auf den Gedanken, daß er vielleicht beiden, dem Hauptmann wie Fräulein Montag, eine Überraschung bereiten könnte. Er sah sich um und horchte, ob aus irgendeinem der umliegenden Zimmer eine Störung zu erwarten wäre, es war überall still, nur die Unterhaltung aus dem Eßzimmer war zu hören und aus dem Gang, der zur Küche führte, die Stimme der Frau Grubach. Die Gelegenheit schien günstig, K. ging zur Tür von Fräulein Bürstners Zimmer und klopfte leise. Da sich nichts rührte, klopfte er nochmals, aber es erfolgte noch immer keine Antwort. Schlief sie? Oder war sie wirklich unwohl? Oder verleugnete sie sich nur deshalb, weil sie ahnte, daß es nur K. sein konnte, der so leise klopfte? K. nahm an, daß sie sich verleugne, und klopfte stärker, öffnete schließlich, da das Klopfen keinen Erfolg hatte, vorsichtig und nicht ohne das Gefühl, etwas Unrechtes und überdies Nutzloses zu tun, die Tür. Im Zimmer war niemand. Es erinnerte übrigens kaum mehr an das Zimmer, wie es K. gekannt hatte. An der Wand waren nun zwei Betten hintereinander aufgestellt, drei Sessel in der Nähe der Tür waren mit Kleidern und Wäsche überhäuft, ein Schrank stand offen. Fräulein Bürstner war wahrscheinlich fortgegangen, während Fräulein Montag im Eßzimmer auf K. eingeredet hatte. K. war dadurch nicht sehr bestürzt, er hatte kaum mehr erwartet, Fräulein Bürstner so leicht zu treffen, er hatte diesen Versuch fast nur aus Trotz gegen Fräulein Montag gemacht. Um so peinlicher war es ihm aber, als er, während er die Tür wieder schloß, in der offenen Tür des Eßzimmers Fräulein Montag und den Hauptmann sich unterhalten sah. Sie standen dort vielleicht schon, seitdem K. die Tür geöffnet hatte, sie vermieden jeden Anschein, als ob sie K. etwa beobachteten, sie unterhielten sich leise und verfolgten K.s Bewegungen mit den Blicken nur so, wie man während eines Gesprächs zerstreut umherblickt. Aber auf K. lagen diese Blicke doch schwer, er beeilte sich, an der Wand entlang in sein Zimmer zu kommen. 5 Der Prügler Als K. an einem der nächsten Abende den Korridor passierte, der sein Büro von der Haupttreppe trennte – er ging diesmal fast als der letzte nach Hause, nur in der Expedition arbeiteten noch zwei Diener im kleinen Lichtfeld einer Glühlampe –, hörte er hinter einer Tür, hinter der er immer nur eine Rumpelkammer vermutet hatte, ohne sie jemals selbst gesehen zu haben, Seufzer ausstoßen. Er blieb erstaunt stehen und horchte noch einmal auf, um festzustellen, ob er sich nicht irrte – es wurde ein Weilchen still, dann waren es aber doch wieder Seufzer. – Zuerst wollte er einen der Diener holen, man konnte vielleicht einen Zeugen brauchen, dann aber faßte ihn eine derart unbezähmbare Neugierde, daß er die Tür förmlich aufriß. Es war, wie er richtig vermutet hatte, eine Rumpelkammer. Unbrauchbare, alte Drucksorten, umgeworfene leere irdene Tintenflaschen lagen hinter der Schwelle. In der Kammer selbst aber standen drei Männer, gebückt in dem niedrigen Raum. Eine auf einem Regal festgemachte Kerze gab ihnen Licht. » Was treibt ihr hier? « fragte K., sich vor Aufregung überstürzend, aber nicht laut. Der eine Mann, der die anderen offenbar beherrschte und zuerst den Blick auf sich lenkte, stak in einer Art dunkler Lederkleidung, die den Hals bis tief zur Brust und die ganzen Arme nackt ließ. Er antwortete nicht. Aber die zwei anderen riefen: » Herr! Wir sollen geprügelt werden, weil du dich beim Untersuchungsrichter über uns beklagt hast. « Und nun erst erkannte K., daß es wirklich die Wächter Franz und Willem waren, und daß der dritte eine Rute in der Hand hielt, um sie zu prügeln. » Nun «, sagte K. und starrte sie an, » ich habe mich nicht beklagt, ich habe nur gesagt, wie es sich in meiner Wohnung zugetragen hat. Und einwandfrei habt ihr euch ja nicht benommen. « » Herr «, sagte Willem, während Franz sich hinter ihm vor dem dritten offenbar zu sichern suchte, » wenn Ihr wüßtet, wie schlecht wir bezahlt sind, Ihr würdet besser über uns urteilen. Ich habe eine Familie zu ernähren, und Franz hier wollte heiraten, man sucht sich zu bereichern, wie es geht, durch bloße Arbeit gelingt es nicht, selbst durch die angestrengteste. Euere feine Wäsche hat mich verlockt, es ist natürlich den Wächtern verboten, so zu handeln, es war unrecht, aber Tradition ist es, daß die Wäsche den Wächtern gehört, es ist immer so gewesen, glaubt es mir; es ist ja auch verständlich, was bedeuten denn noch solche Dinge für den, welcher so unglücklich ist, verhaftet zu werden? Bringt er es dann allerdings öffentlich zur Sprache, dann muß die Strafe erfolgen. « » Was ihr jetzt sagt, wußte ich nicht, ich habe auch keineswegs eure Bestrafung verlangt, mir ging es um ein Prinzip. « » Franz «, wandte sich Willem zum anderen Wächter, » sagte ich dir nicht, daß der Herr unsere Bestrafung nicht verlangt hat? Jetzt hörst du, daß er nicht einmal gewußt hat, daß wir bestraft werden müssen. « » Laß dich nicht durch solche Reden rühren «, sagte der dritte zu K., » die Strafe ist ebenso gerecht als unvermeidlich. « » Höre nicht auf ihn «, sagte Willem und unterbrach sich nur, um die Hand, über die er einen Rutenhieb bekommen hatte, schnell an den Mund zu führen, » wir werden nur gestraft, weil du uns angezeigt hast. Sonst wäre uns nichts geschehen, selbst wenn man erfahren hätte, was wir getan haben. Kann man das Gerechtigkeit nennen? Wir zwei, insbesondere aber ich, hatten uns als Wächter durch lange Zeit sehr bewährt – du selbst mußt eingestehen, daß wir, vom Gesichtspunkt der Behörde gesehen, gut gewacht haben – wir hatten Aussicht, vorwärtszukommen und wären gewiß bald auch Prügler geworden wie dieser, der eben das Glück hatte, von niemandem angezeigt worden zu sein, denn eine solche Anzeige kommt wirklich nur sehr selten vor. Und jetzt, Herr, ist alles verloren, unsere Laufbahn beendet, wir werden noch viel untergeordnetere Arbeiten leisten müssen, als es der Wachdienst ist, und überdies bekommen wir jetzt diese schrecklich schmerzhaften Prügel. « » Kann denn die Rute solche Schmerzen machen? « fragte K. und prüfte die Rute, die der Prügler vor ihm schwang. » Wir werden uns ja ganz nackt ausziehen müssen «, sagte Willem. » Ach so «, sagte K. und sah den Prügler genau an, er war braun gebrannt wie ein Matrose und hatte ein wildes, frisches Gesicht. » Gibt es keine Möglichkeit, den beiden die Prügel zu ersparen? « fragte er ihn. » Nein «, sagte der Prügler und schüttelte lächelnd den Kopf. » Zieht euch aus! « befahl er den Wächtern. Und zu K. sagte er: » Du mußt ihnen nicht alles glauben, sie sind durch die Angst vor den Prügeln schon ein wenig schwachsinnig geworden. Was dieser hier, zum Beispiel « – er zeigte auf Willem – » über seine mögliche Laufbahn erzählt hat, ist geradezu lächerlich. Sieh an, wie fett er ist – die ersten Rutenstreiche werden überhaupt im Fett verlorengehen. – Weißt du, wodurch er so fett geworden ist? Er hat die Gewohnheit, allen Verhafteten das Frühstück aufzuessen. Hat er nicht auch dein Frühstück aufgegessen? Nun, ich sagte es ja. Aber ein Mann mit einem solchen Bauch kann nie und nimmermehr Prügler werden, das ist ganz ausgeschlossen. « » Es gibt auch solche Prügler «, behauptete Willem, der gerade seinen Hosengürtel löste. » Nein «, sagte der Prügler und strich ihm mit der Rute derartig über den Hals, daß er zusammenzuckte, » du sollst nicht zuhören, sondern dich ausziehen. « » Ich würde dich gut belohnen, wenn du sie laufen läßt «, sagte K. und zog, ohne den Prügler nochmals anzusehen – solche Geschäfte werden beiderseits mit niedergeschlagenen Augen am besten abgewickelt – seine Brieftasche hervor. » Du willst wohl dann auch mich anzeigen «, sagte der Prügler, » und auch noch mir Prügel verschaffen. Nein, nein! « » Sei doch vernünftig «, sagte K., » wenn ich gewollt hätte, daß diese beiden bestraft werden, würde ich sie doch jetzt nicht loskaufen wollen. Ich könnte einfach die Tür hier zuschlagen, nichts weiter sehen und hören wollen und nach Hause gehen. Nun tue ich das aber nicht, vielmehr liegt mir ernstlich daran, sie zu befreien; hätte ich geahnt, daß sie bestraft werden sollen oder auch nur bestraft werden können, hätte ich ihre Namen nie genannt. Ich halte sie nämlich gar nicht für schuldig, schuldig ist die Organisation, schuldig sind die hohen Beamten. « » So ist es! « riefen die Wächter und bekamen sofort einen Hieb über ihren schon entkleideten Rücken. » Hättest du hier unter deiner Rute einen hohen Richter «, sagte K. und drückte, während er sprach, die Rute, die sich schon wieder erheben wollte, nieder, » ich würde dich wahrhaftig nicht hindern, loszuschlagen, im Gegenteil, ich würde dir noch Geld geben, damit du dich für die gute Sache kräftigst. « » Was du sagst, klingt ja glaubwürdig «, sagte der Prügler, » aber ich lasse mich nicht bestechen. Ich bin zum Prügeln angestellt, also prügle ich. « Der Wächter Franz, der vielleicht in Erwartung eines guten Ausgangs des Eingreifens von K. bisher ziemlich zurückhaltend gewesen war, trat jetzt, nur noch mit den Hosen bekleidet, zur Tür, hing sich niederkniend an K.s Arm und flüsterte: » Wenn du für uns beide Schonung nicht durchsetzen kannst, so versuche wenigstens, mich zu befreien. Willem ist älter als ich, in jeder Hinsicht weniger empfindlich, auch hat er schon einmal vor ein paar Jahren eine leichte Prügelstrafe bekommen, ich aber bin noch nicht entehrt und bin doch zu meiner Handlungsweise nur durch Willem gebracht worden, der im Guten und Schlechten mein Lehrer ist. Unten vor der Bank wartet meine arme Braut auf den Ausgang, ich schäme mich ja so erbärmlich. « Er trocknete mit K.s Rock sein von Tränen ganz überlaufenes Gesicht. » Ich warte nicht mehr «, sagte der Prügler, faßte die Rute mit beiden Händen und hieb auf Franz ein, während Willem in einem Winkel kauerte und heimlich zusah, ohne eine Kopfwendung zu wagen. Da erhob sich der Schrei, den Franz ausstieß, ungeteilt und unveränderlich, er schien nicht von einem Menschen, sondern von einem gemarterten Instrument zu stammen, der ganze Korridor tönte von ihm, das ganze Haus mußte es hören. » Schrei nicht «, rief K. er konnte sich nicht zurückhalten, und während er gespannt in die Richtung sah, aus der die Diener kommen mußten, stieß er an Franz, nicht stark, aber doch stark genug, daß der Besinnungslose niederfiel und im Krampf mit den Händen den Boden absuchte; den Schlägen entging er aber nicht, die Rute fand ihn auch auf der Erde; während er sich unter ihr wälzte, schwang sich ihre Spitze regelmäßig auf und ab. Und schon erschien in der Ferne ein Diener und ein paar Schritte hinter ihm ein zweiter. K. hatte schnell die Tür zugeworfen, war zu einem der Hoffenster getreten und öffnete es. Das Schreien hatte vollständig aufgehört. Um die Diener nicht herankommen zu lassen, rief er: » Ich bin es! « » Guten Abend, Herr Prokurist! « rief es zurück. » Ist etwas geschehen? « » Nein, nein «, antwortete K., » es schreit nur ein Hund auf dem Hof. « Als die Diener sich doch nicht rührten, fügte er hinzu: » Sie können bei Ihrer Arbeit bleiben. « Um sich in kein Gespräch mit den Dienern einlassen zu müssen, beugte er sich aus dem Fenster. Als er nach einem Weilchen wieder in den Korridor sah, waren sie schon weg. K. aber blieb nun beim Fenster, in die Rumpelkammer wagte er nicht zu gehen und nach Hause gehen wollte er auch nicht. Es war ein kleiner viereckiger Hof, in den er hinuntersah, ringsherum waren Büroräume untergebracht, alle Fenster waren jetzt schon dunkel, nur die obersten fingen einen Widerschein des Mondes auf. K. suchte angestrengt mit den Blicken in das Dunkel eines Hofwinkels einzudringen, in dem einige Handkarren ineinandergefahren waren. Es quälte ihn, daß es ihm nicht gelungen war, das Prügeln zu verhindern, aber es war nicht seine Schuld, daß es nicht gelungen war, hätte Franz nicht geschrien – gewiß, es mußte sehr weh getan haben, aber in einem entscheidenden Augenblick muß man sich beherrschen – hätte er nicht geschrien, so hätte K., wenigstens sehr wahrscheinlich, noch ein Mittel gefunden, den Prügler zu überreden. Wenn die ganze unterste Beamtenschaft Gesindel war, warum hätte gerade der Prügler, der das unmenschlichste Amt hatte, eine Ausnahme machen sollen, K. hatte auch gut beobachtet, wie ihm beim Anblick der Banknote die Augen geleuchtet hatten, er hatte mit dem Prügeln offenbar nur deshalb Ernst gemacht, um die Bestechungssumme noch ein wenig zu erhöhen. Und K. hätte nicht gespart, es lag ihm wirklich daran, die Wächter zu befreien; wenn er nun schon angefangen hatte, die Verderbnis dieses Gerichtswesens zu bekämpfen, so war es selbstverständlich, daß er auch von dieser Seite eingriff. Aber in dem Augenblick, wo Franz zu schreien angefangen hatte, war natürlich alles zu Ende. K. konnte nicht zulassen, daß die Diener und vielleicht noch alle möglichen Leute kämen und ihn in Unterhandlungen mit der Gesellschaft in der Rumpelkammer überraschten. Diese Aufopferung konnte wirklich niemand von K. verlangen. Wenn er das zu tun beabsichtigt hätte, so wäre es ja fast einfacher gewesen, K. hätte sich selbst ausgezogen und dem Prügler als Ersatz für die Wächter angeboten. Übrigens hätte der Prügler diese Vertretung gewiß nicht angenommen, da er dadurch, ohne einen Vorteil zu gewinnen, dennoch seine Pflicht schwer verletzt hätte, und wahrscheinlich doppelt verletzt hätte, denn K. mußte wohl, solange er im Verfahren stand, für alle Angestellten des Gerichts unverletzlich sein. Allerdings konnten hier auch besondere Bestimmungen gelten. Jedenfalls hatte K. nichts anderes tun können, als die Tür zuschlagen, obwohl dadurch auch jetzt noch für K. durchaus nicht jede Gefahr beseitigt blieb. Daß er noch zuletzt Franz einen Stoß gegeben hatte, war bedauerlich und nur durch seine Aufregung zu entschuldigen. In der Ferne hörte er die Schritte der Diener; um ihnen nicht auffällig zu werden, schloß er das Fenster und ging in der Richtung zur Haupttreppe. Bei der Tür zur Rumpelkammer blieb er ein wenig stehen und horchte. Es war ganz still. Der Mann konnte die Wächter totgeprügelt haben, sie waren ja ganz in seine Macht gegeben. K. hatte schon die Hand nach der Klinke ausgestreckt, zog sie dann aber wieder zurück. Helfen konnte er niemandem mehr, und die Diener mußten gleich kommen; er gelobte sich aber, die Sache noch zur Sprache zu bringen und die wirklich Schuldigen, die hohen Beamten, von denen sich ihm noch keiner zu zeigen gewagt hatte, soweit es in seinen Kräften war, gebührend zu bestrafen. Als er die Freitreppe der Bank hinunterging, beobachtete er sorgfältig alle Passanten, aber selbst in der weiteren Umgebung war kein Mädchen zu sehen, das auf jemanden gewartet hätte. Die Bemerkung Franzens, daß seine Braut auf ihn warte, erwies sich als eine allerdings verzeihliche Lüge, die nur den Zweck gehabt hatte, größeres Mitleid zu erwecken. Auch noch am nächsten Tage kamen K. die Wächter nicht aus dem Sinn; er war bei der Arbeit zerstreut und mußte, um sie zu bewältigen, noch ein wenig länger im Büro bleiben als am Tag vorher. Als er auf dem Nachhausewege wieder an der Rumpelkammer vorbeikam, öffnete er sie wie aus Gewohnheit. Vor dem, was er statt des erwarteten Dunkels erblickte, wußte er sich nicht zu fassen. Alles war unverändert, so wie er es am Abend vorher beim Öffnen der Tür gefunden hatte. Die Drucksorten und Tintenflaschen gleich hinter der Schwelle, der Prügler mit der Rute, die noch vollständig ausgezogenen Wächter, die Kerze auf dem Regal, und die Wächter begannen zu klagen und riefen: » Herr! « Sofort warf K. die Tür zu und schlug mit den Fäusten gegen sie, als sei sie dann fester verschlossen. Fast weinend lief er zu den Dienern, die ruhig an den Kopiermaschinen arbeiteten und erstaunt in ihrer Arbeit innehielten. » Räumt doch endlich die Rumpelkammer aus! « rief er. » Wir versinken ja im Schmutz! « Die Diener waren bereit, es am nächsten Tag zu tun, K. nickte, jetzt spät am Abend konnte er sie nicht mehr zu der Arbeit zwingen, wie er es eigentlich beabsichtigt hatte. Er setzte sich ein wenig, um die Diener ein Weilchen lang in der Nähe zu behalten, warf einige Kopien durcheinander, wodurch er den Anschein zu erwecken glaubte, daß er sie überprüfe, und ging dann, da er einsah, daß die Diener nicht wagen würden, gleichzeitig mit ihm wegzugehen, müde und gedankenlos nach Hause. 6 Der Onkel, Leni Eines Nachmittags – K. war gerade vor dem Postabschluß sehr beschäftigt – drängte sich zwischen zwei Dienern, die Schriftstücke hineintrugen, K.s Onkel Karl, ein kleiner Grundbesitzer vom Lande, ins Zimmer. K. erschrak bei dem Anblick weniger, als er schon vor längerer Zeit bei der Vorstellung vom Kommen des Onkels erschrocken war. Der Onkel mußte kommen, das stand bei K. schon etwa einen Monat lang fest. Schon damals hatte er ihn zu sehen geglaubt, wie er, ein wenig gebückt, den eingedrückten Panamahut in der Linken, die Rechte schon von weitem ihm entgegenstreckte und sie mit rücksichtsloser Eile über den Schreibtisch hinreichte, alles umstoßend, was ihm im Wege war. Der Onkel befand sich immer in Eile, denn er war von dem unglücklichen Gedanken verfolgt, bei seinem immer nur eintägigen Aufenthalt in der Hauptstadt müsse er alles erledigen können, was er sich vorgenommen hatte, und dürfte überdies auch kein gelegentlich sich darbietendes Gespräch oder Geschäft oder Vergnügen sich entgehen lassen. Dabei mußte ihm K., der ihm als seinem gewesenen Vormund besonders verpflichtet war, in allem möglichen behilflich sein und ihn außerdem bei sich übernachten lassen. » Das Gespenst vom Lande « pflegte er ihn zu nennen. Gleich nach der Begrüßung – sich in den Fauteuil zu setzen, wozu ihn K. einlud, hatte er keine Zeit – bat er K. um ein kurzes Gespräch unter vier Augen. » Es ist notwendig «, sagte er, mühselig schluckend, » zu meiner Beruhigung ist es notwendig. « K. schickte sofort die Diener aus dem Zimmer, mit der Weisung, niemand einzulassen. » Was habe ich gehört, Josef? « rief der Onkel, als sie allein waren, setzte sich auf den Tisch und stopfte unter sich, ohne hinzusehen, verschiedene Papiere, um besser zu sitzen. K. schwieg, er wußte, was kommen würde, aber, plötzlich von der anstrengenden Arbeit entspannt, wie er war, gab er sich zunächst einer angenehmen Mattigkeit hin und sah durch das Fenster auf die gegenüberliegende Straßenseite, von der von seinem Sitz aus nur ein kleiner, dreieckiger Ausschnitt zu sehen war, ein Stück leerer Häusermauer zwischen zwei Geschäftsauslagen. » Du schaust aus dem Fenster! « rief der Onkel mit erhobenen Armen, » um Himmels willen, Josef, antworte mir doch! Ist es wahr, kann es denn wahr sein? « » Lieber Onkel «, sagte K. und riß sich von seiner Zerstreutheit los, » ich weiß ja gar nicht, was du von mir willst. « » Josef «, sagte der Onkel warnend, » die Wahrheit hast du immer gesagt, soviel ich weiß. Soll ich deine letzten Worte als schlimmes Zeichen auffassen? « » Ich ahne ja, was du willst «, sagte K. folgsam, » du hast wahrscheinlich von meinem Prozeß gehört. « » So ist es «. antwortete der Onkel, langsam nickend, » ich habe von deinem Prozeß gehört. « » Von wem denn? « fragte K. » Erna hat es mir geschrieben «, sagte der Onkel, » sie hat ja keinen Verkehr mit dir, du kümmerst dich leider nicht viel um sie, trotzdem hat sie es erfahren. Heute habe ich den Brief bekommen und bin natürlich sofort hergefahren. Aus keinem anderen Grund, aber es scheint ein genügender Grund zu sein. Ich kann dir die Briefstelle, die dich betrifft, vorlesen. « Er zog den Brief aus der Brieftasche. » Hier ist es. Sie schreibt: › Josef habe ich schon lange nicht gesehen, vorige Woche war ich einmal in der Bank, aber Josef war so beschäftigt, daß ich nicht vorgelassen wurde; ich habe fast eine Stunde gewartet, mußte dann aber nach Hause, weil ich Klavierstunde hatte. Ich hätte gern mit ihm gesprochen, vielleicht wird sich nächstens eine Gelegenheit finden. Zu meinem Namenstag hat er mir eine große Schachtel Schokolade geschickt, es war sehr lieb und aufmerksam. Ich hatte vergessen, es Euch damals zu schreiben, erst jetzt, da Ihr mich fragt, erinnere ich mich daran. Schokolade, müßt Ihr wissen, verschwindet nämlich in der Pension sofort, kaum ist man zum Bewußtsein dessen gekommen, daß man mit Schokolade beschenkt worden ist, ist sie auch schon weg. Aber was Josef betrifft, wollte ich Euch noch etwas sagen. Wie erwähnt, wurde ich in der Bank nicht zu ihm vorgelassen, weil er gerade mit einem Herrn verhandelte. Nachdem ich eine Zeitlang ruhig gewartet hatte, fragte ich einen Diener, ob die Verhandlung noch lange dauern werde. Er sagte, das dürfte wohl sein, denn es handle sich wahrscheinlich um den Prozeß, der gegen den Herrn Prokuristen geführt werde. Ich fragte, was denn das für ein Prozeß sei, ob er sich nicht irre, er aber sagte, er irre sich nicht, es sei ein Prozeß, und zwar ein schwerer Prozeß, mehr aber wisse er nicht. Er selbst möchte dem Herrn Prokuristen gerne helfen, denn dieser sei ein guter und gerechter Herr, aber er wisse nicht, wie er es anfangen sollte, und er möchte nur wünschen, daß sich einflußreiche Herren seiner annehmen würden. Dies werde auch sicher geschehen, und es werde schließlich ein gutes Ende nehmen, vorläufig aber stehe es, wie er aus der Laune des Herrn Prokuristen entnehmen könne, gar nicht gut. Ich legte diesen Reden natürlich nicht viel Bedeutung bei, suchte auch den einfältigen Diener zu beruhigen, verbot ihm, anderen gegenüber davon zu sprechen, und halte das Ganze für ein Geschwätz. Trotzdem wäre es vielleicht gut, wenn Du, liebster Vater, bei Deinem nächsten Besuch der Sache nachgehen wolltest, es wird Dir leicht sein, Genaueres zu erfahren und, wenn es wirklich nötig sein sollte, durch Deine großen, einflußreichen Bekanntschaften einzugreifen. Sollte es aber nicht nötig sein, was ja das wahrscheinlichste ist, so wird es wenigstens Deiner Tochter bald Gelegenheit geben, Dich zu umarmen, was sie freuen würde. ‹ – Ein gutes Kind «, sagte der Onkel, als er die Vorlesung beendet hatte, und wischte einige Tränen aus den Augen fort. K. nickte, er hatte infolge der verschiedenen Störungen der letzten Zeit vollständig Erna vergessen, sogar ihren Geburtstag hatte er vergessen, und die Geschichte von der Schokolade war offenbar nur zu dem Zweck erfunden, um ihn vor Onkel und Tante in Schutz zu nehmen. Es war sehr rührend, und mit den Theaterkarten, die er ihr von jetzt ab regelmäßig schicken wollte, gewiß nicht genügend belohnt, aber zu Besuchen in der Pension und zu Unterhaltungen mit einer kleinen achtzehnjährigen Gymnasiastin fühlte er sich jetzt nicht geeignet. » Und was sagst du jetzt? « fragte der Onkel, der durch den Brief alle Eile und Aufregung vergessen hatte und ihn noch einmal zu lesen schien. » Ja, Onkel «, sagte K., » es ist wahr. « » Wahr? « rief der Onkel. » Was ist wahr? Wie kann es denn wahr sein? Was für ein Prozeß? Doch nicht ein Strafprozeß? « » Ein Strafprozeß «, antwortete K. » Und du sitzt ruhig hier und hast einen Strafprozeß auf dem Halse? « rief der Onkel, der immer lauter wurde. » Je ruhiger ich bin, desto besser ist es für den Ausgang «, sagte K. müde, » fürchte nichts. « » Das kann mich nicht beruhigen! « rief der Onkel, » Josef, lieber Josef, denke an dich, an deine Verwandten, an unsern guten Namen! Du warst bisher unsere Ehre, du darfst nicht unsere Schande werden. Deine Haltung «, er sah K. mit schief geneigtem Kopfe an, » gefallt mir nicht, so verhält sich kein unschuldig Angeklagter, der noch bei Kräften ist. Sag mir nur schnell, worum es sich handelt, damit ich dir helfen kann. Es handelt sich natürlich um die Bank? « » Nein «, sagte K. und stand auf, » du sprichst aber zu laut, lieber Onkel, der Diener steht wahrscheinlich an der Tür und horcht. Das ist mir unangenehm. Wir wollen lieber weggehen. Ich werde dir dann alle Fragen, so gut es geht, beantworten. Ich weiß sehr gut, daß ich der Familie Rechenschaft schuldig bin. « » Richtig! « schrie der Onkel, » sehr richtig, beeile dich nur, Josef, beeile dich! « » Ich muß nur noch einige Aufträge geben «, sagte K. und berief telephonisch seinen Vertreter zu sich, der in wenigen Augenblicken eintrat. Der Onkel, in seiner Aufregung, zeigte ihm mit der Hand, daß K. ihn habe rufen lassen, woran auch sonst kein Zweifel gewesen wäre. K., der vor dem Schreibtisch stand, erklärte dem jungen Mann, der kühl, aber aufmerksam zuhörte, mit leiser Stimme unter Zuhilfenahme verschiedener Schriftstücke, was in seiner Abwesenheit heute noch erledigt werden müsse. Der Onkel störte, indem er zuerst mit großen Augen und nervösem Lippenbeißen dabeistand, ohne allerdings zuzuhören, aber der Anschein dessen war schon störend genug. Dann aber ging er im Zimmer auf und ab und blieb hie und da vor dem Fenster oder vor einem Bild stehen, wobei er immer in verschiedene Ausrufe ausbrach, wie: » Mir ist es vollständig unbegreiflich! « oder » Jetzt sagt mir nur, was soll denn daraus werden! « Der junge Mann tat, als bemerke er nichts davon, hörte ruhig K.s Aufträge bis zu Ende an, notierte sich auch einiges und ging, nachdem er sich vor K. wie auch vor dem Onkel verneigt hatte, der ihm aber gerade den Rücken zukehrte, aus dem Fenster sah und mit ausgestreckten Händen die Vorhänge zusammenknüllte. Die Tür hatte sich noch kaum geschlossen, als der Onkel ausrief: » Endlich ist der Hampelmann weggegangen, jetzt können doch auch wir gehen. Endlich! « Es gab leider kein Mittel, den Onkel zu bewegen, in der Vorhalle, wo einige Beamte und Diener herumstanden und die gerade auch der Direktor - Stellvertreter kreuzte, die Fragen wegen des Prozesses zu unterlassen. » Also, Josef «, begann der Onkel, während er die Verbeugungen der Umstehenden durch leichtes Salutieren beantwortete, » jetzt sag mir offen, was es für ein Prozeß ist. « K. machte einige nichtssagende Bemerkungen, lachte auch ein wenig, und erst auf der Treppe erklärte er dem Onkel, daß er vor den Leuten nicht habe offen reden wollen. » Richtig «, sagte der Onkel, » aber jetzt rede. « Mit geneigtem Kopf, eine Zigarre in kurzen, eiligen Zügen rauchend, hörte er zu. » Vor allem, Onkel «, sagte K., » handelt es sich gar nicht um einen Prozeß vor dem gewöhnlichen Gericht. « » Das ist schlimm «, sagte der Onkel. » Wie? « sagte K. und sah den Onkel an. » Daß das schlimm ist, meine ich «, wiederholte der Onkel. Sie standen auf der Freitreppe, die zur Straße führte; da der Portier zu horchen schien, zog K. den Onkel hinunter; der lebhafte Straßenverkehr nahm sie auf. Der Onkel, der sich in K. eingehängt hatte, fragte nicht mehr so dringend nach dem Prozeß, sie gingen sogar eine Zeitlang schweigend weiter. » Wie ist es aber geschehen? « fragte endlich der Onkel, so plötzlich stehenbleibend, daß die hinter ihm gehenden Leute erschreckt auswichen. » Solche Dinge kommen doch nicht plötzlich, sie bereiten sich seit langem vor, es müssen Anzeichen dessen gewesen sein, warum hast du mir nicht geschrieben? Du weißt, daß ich für dich alles tue, ich bin ja gewissermaßen noch dein Vormund und war bis heute stolz darauf. Ich werde dir natürlich auch jetzt noch helfen, nur ist es jetzt, wenn der Prozeß schon im Gange ist, sehr schwer. Am besten wäre es jedenfalls, wenn du dir jetzt einen kleinen Urlaub nimmst und zu uns aufs Land kommst. Du bist auch ein wenig abgemagert, jetzt merke ich es. Auf dem Land wirst du dich kräftigen, das wird gut sein, es stehen dir ja gewiß Anstrengungen bevor. Außerdem aber wirst du dadurch dem Gericht gewissermaßen entzogen sein. Hier haben sie alle möglichen Machtmittel, die sie notwendigerweise automatisch auch dir gegenüber anwenden; auf das Land müßten sie aber erst Organe delegieren oder nur brieflich, telegraphisch, telephonisch auf dich einzuwirken suchen. Das schwächt natürlich die Wirkung ab, befreit dich zwar nicht, aber läßt dich aufatmen. « » Sie könnten mir ja verbieten, wegzufahren «, sagte K., den die Rede des Onkels ein wenig in ihren Gedankengang gezogen hatte. » Ich glaube nicht, daß sie das tun werden «, sagte der Onkel nachdenklich, » so groß ist der Verlust an Macht nicht, den sie durch deine Abreise erleiden. « » Ich dachte «, sagte K. und faßte den Onkel unterm Arm, um ihn am Stehenbleiben hindern zu können, » daß du dem Ganzen noch weniger Bedeutung beimessen würdest als ich, und jetzt nimmst du es selbst so schwer. « » Josef «, rief der Onkel und wollte sich ihm entwinden, um stehenbleiben zu können, aber K. ließ ihn nicht, » du bist verwandelt, du hattest doch immer ein so richtiges Auffassungsvermögen, und gerade jetzt verläßt es dich? Willst du denn den Prozeß verlieren? Weißt du, was das bedeutet? Das bedeutet, daß du einfach gestrichen wirst. Und daß die ganze Verwandtschaft mitgerissen oder wenigstens bis auf den Boden gedemütigt wird. Josef, nimm dich doch zusammen. Deine Gleichgültigkeit bringt mich um den Verstand. Wenn man dich ansieht, möchte man fast dem Sprichwort glauben: › Einen solchen Prozeß haben, heißt ihn schon verloren haben ‹. « » Lieber Onkel «, sagte K., » die Aufregung ist so unnütz, sie ist es auf deiner Seite und wäre es auch auf meiner. Mit Aufregung gewinnt man die Prozesse nicht, laß auch meine praktischen Erfahrungen ein wenig gelten, so wie ich deine, selbst wenn sie mich überraschen, immer und auch jetzt sehr achte. Da du sagst, daß auch die Familie durch den Prozeß in Mitleidenschaft gezogen würde – was ich für meinen Teil durchaus nicht begreifen kann, das ist aber Nebensache –, so will dir gerne in allem folgen. Nur den Landaufenthalt halte ich selbst in deinem Sinne nicht für vorteilhaft, denn das würde Flucht und Schuldbewußtsein bedeuten. Überdies bin ich hier zwar mehr verfolgt, kann aber auch selbst die Sache mehr betreiben. « » Richtig «, sagte der Onkel in einem Ton, als kämen sie jetzt endlich einander näher, » ich machte den Vorschlag nur, weil ich, wenn du hier bliebst, die Sache von deiner Gleichgültigkeit gefährdet sah und es für besser hielt, wenn ich statt deiner für dich arbeitete. Willst du es aber mit aller Kraft selbst betreiben, so ist es natürlich weit besser. « » Darin wären wir also einig «, sagte K. » Und hast du jetzt einen Vorschlag dafür, was ich zunächst machen soll? « » Ich muß mir natürlich die Sache noch überlegen «, sagte der Onkel, » du mußt bedenken, daß ich jetzt schon zwanzig Jahre fast ununterbrochen auf dem Lande bin, dabei läßt der Spürsinn in diesen Richtungen nach. Verschiedene wichtige Verbindungen mit Persönlichkeiten, die sich hier vielleicht besser auskennen, haben sich von selbst gelockert. Ich bin auf dem Land ein wenig verlassen, das weißt du ja. Selbst merkt man es eigentlich erst bei solchen Gelegenheiten. Zum Teil kam mir deine Sache auch unerwartet, wenn ich auch merkwürdigerweise nach Ernas Brief schon etwas Derartiges ahnte und es heute bei deinem Anblick fast mit Bestimmtheit wußte. Aber das ist gleichgültig, das Wichtigste ist jetzt, keine Zeit zu verlieren. « Schon während seiner Rede hatte er, auf den Fußspitzen stehend, einem Automobil gewinkt und zog jetzt, während er gleichzeitig dem Wagenlenker eine Adresse zurief, K. hinter sich in den Wagen. » Wir fahren jetzt zum Advokaten Huld «, sagte er, » er war mein Schulkollege. Du kennst den Namen gewiß auch? Nicht? Das ist aber merkwürdig. Er hat doch als Verteidiger und Armenadvokat einen bedeutenden Ruf. Ich aber habe besonders zu ihm als Menschen großes Vertrauen. « » Mir ist alles recht, was du unternimmst «, sagte K., obwohl ihm die eilige und dringliche Art, mit der der Onkel die Angelegenheit behandelte, Unbehagen verursachte. Es war nicht sehr erfreulich, als Angeklagter zu einem Armenadvokaten zu fahren. » Ich wußte nicht «, sagte er, » daß man in einer solchen Sache auch einen Advokaten zuziehen könne. « » Aber natürlich «, sagte der Onkel, » das ist ja selbstverständlich. Warum denn nicht? Und nun erzähle mir, damit ich über die Sache genau unterrichtet bin, alles, was bisher geschehen ist. « K. begann sofort zu erzählen, ohne irgend etwas zu verschweigen, seine vollständige Offenheit war der einzige Protest, den er sich gegen des Onkels Ansicht, der Prozeß sei eine große Schande, erlauben konnte. Fräulein Bürstners Namen erwähnte er nur einmal und flüchtig, aber das beeinträchtigte nicht die Offenheit, denn Fräulein Bürstner stand mit dem Prozeß in keiner Verbindung. Während er erzählte, sah er aus dem Fenster und beobachtete, wie sie sich gerade jener Vorstadt näherten, in der die Gerichtskanzleien waren, er machte den Onkel darauf aufmerksam, der aber das Zusammentreffen nicht besonders auffallend fand. Der Wagen hielt vor einem dunklen Haus. Der Onkel läutete gleich im Parterre bei der ersten Tür; während sie warteten, fletschte er lächelnd seine großen Zähne und flüsterte: » Acht Uhr, eine ungewöhnliche Zeit für Parteienbesuche. Huld nimmt es mir aber nicht übel. « Im Guckfenster der Tür erschienen zwei große, schwarze Augen, sahen ein Weilchen die zwei Gäste an und verschwanden; die Tür öffnete sich aber nicht. Der Onkel und K. bestätigten einander gegenseitig die Tatsache, die zwei Augen gesehen zu haben. » Ein neues Stubenmädchen, das sich vor Fremden fürchtet «, sagte der Onkel und klopfte nochmals. Wieder erschienen die Augen, man konnte sie jetzt fast für traurig halten, vielleicht war das aber auch nur eine Täuschung, hervorgerufen durch die offene Gasflamme, die nahe über den Köpfen stark zischend brannte, aber wenig Licht gab. » Öffnen Sie «, rief der Onkel und hieb mit der Faust gegen die Tür, » es sind Freunde des Herrn Advokaten! « » Der Herr Advokat ist krank «, flüsterte es hinter ihnen. In einer Tür am andern Ende des kleinen Ganges stand ein Herr im Schlafrock und machte mit äußerst leiser Stimme diese Mitteilung. Der Onkel, der schon wegen des langen Wartens wütend war, wandte sich mit einem Ruck um, rief: » Krank? Sie sagen, er ist krank? « und ging fast drohend, als sei der Herr die Krankheit, auf ihn zu. » Man hat schon geöffnet «, sagte der Herr, zeigte auf die Tür des Advokaten, raffte seinen Schlafrock zusammen und verschwand. Die Tür war wirklich geöffnet worden, ein junges Mädchen – K. erkannte die dunklen, ein wenig hervorgewälzten Augen wieder – stand in langer, weißer Schürze im Vorzimmer und hielt eine Kerze in der Hand. » Nächstens öffnen Sie früher! « sagte der Onkel statt einer Begrüßung, während das Mädchen einen kleinen Knicks machte. » Komm, Josef «, sagte er dann zu K., der sich langsam an dem Mädchen vorüberschob. » Der Herr Advokat ist krank «, sagte das Mädchen, da der Onkel, ohne sich aufzuhalten, auf eine Tür zueilte. K. staunte das Mädchen noch an, während es sich schon umgedreht hatte, um die Wohnungstür wieder zu versperren, es hatte ein puppenförmiges gerundetes Gesicht, nicht nur die bleichen Wangen und das Kinn verliefen rund, auch die Schläfen und die Stirnränder. » Josef! « rief der Onkel wieder, und das Mädchen fragte er: » Es ist das Herzleiden? « » Ich glaube wohl «, sagte das Mädchen, es hatte Zeit gefunden, mit der Kerze voranzugehen und die Zimmertür zu öffnen. In einem Winkel des Zimmers, wohin das Kerzenlicht noch nicht drang, erhob sich im Bett ein Gesicht mit langem Bart. » Leni, wer kommt denn? « fragte der Advokat, der, durch die Kerze geblendet, die Gäste nicht erkannte. » Albert, dein alter Freund ist es «, sagte der Onkel. » Ach, Albert «, sagte der Advokat und ließ sich auf die Kissen zurückfallen, als bedürfe es diesem Besuch gegenüber keiner Verstellung. » Steht es wirklich so schlecht? « fragte der Onkel und setzte sich auf den Bettrand. » Ich glaube es nicht. Es ist ein Anfall deines Herzleidens und wird vorübergehen wie die früheren. « » Möglich «, sagte der Advokat leise, » es ist aber ärger, als es jemals gewesen ist. Ich atme schwer, schlafe gar nicht und verliere täglich an Kraft. « » So «, sagte der Onkel und drückte den Panamahut mit seiner großen Hand fest aufs Knie. » Das sind schlechte Nachrichten. Hast du übrigens die richtige Pflege? Es ist auch so traurig hier, so dunkel. Es ist schon lange her, seit ich zum letztenmal hier war, damals schien es mir freundlicher. Auch dein kleines Fräulein hier scheint nicht sehr lustig, oder sie verstellt sich. « Das Mädchen stand noch immer mit der Kerze nahe bei der Tür; soweit ihr unbestimmter Blick erkennen ließ, sah sie eher K. an als den Onkel, selbst als dieser jetzt von ihr sprach. K. lehnte an einem Sessel, den er in die Nähe des Mädchens geschoben hatte. » Wenn man so krank ist wie ich «, sagte der Advokat, » muß man Ruhe haben. Mir ist es nicht traurig. « Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: » Und Leni pflegt mich gut, sie ist brav. « Den Onkel konnte das aber nicht überzeugen, er war sichtlich gegen die Pflegerin voreingenommen, und wenn er auch dem Kranken nichts entgegnete, so verfolgte er doch die Pflegerin mit strengen Blicken, als sie jetzt zum Bett hinging, die Kerze auf das Nachttischchen stellte, sich über den Kranken hinbeugte und beim Ordnen der Kissen mit ihm flüsterte. Er vergaß fast die Rücksicht auf den Kranken, stand auf, ging hinter der Pflegerin hin und her, und K. hätte es nicht gewundert, wenn er sie hinten an den Röcken erfaßt und vom Bett fortgezogen hätte. K. selbst sah allem ruhig zu, die Krankheit des Advokaten war ihm sogar nicht ganz unwillkommen, dem Eifer, den der Onkel für seine Sache entwickelt hatte, hatte er sich nicht entgegenstellen können, die Ablenkung, die dieser Eifer jetzt ohne sein Zutun erfuhr, nahm er gerne hin. Da sagte der Onkel, vielleicht nur in der Absicht, die Pflegerin zu beleidigen: » Fräulein, bitte, lassen Sie uns ein Weilchen allein, ich habe mit meinem Freund eine persönliche Angelegenheit zu besprechen. « Die Pflegerin, die noch weit über den Kranken hingebeugt war und gerade das Leintuch an der Wand glättete, wendete nur den Kopf und sagte sehr ruhig, was einen auffallenden Unterschied zu den vor Wut stockenden und dann wieder überfließenden Reden des Onkels bildete: » Sie sehen, der Herr ist so krank, er kann keine Angelegenheiten besprechen. « Sie hatte die Worte des Onkels wahrscheinlich nur aus Bequemlichkeit wiederholt, immerhin konnte es selbst von einem Unbeteiligten als spöttisch aufgefaßt werden, der Onkel aber fuhr natürlich wie ein Gestochener auf. » Du Verdammte «, sagte er im ersten Gurgeln der Aufregung noch ziemlich unverständlich, K. erschrak, obwohl er etwas Ähnliches erwartet hatte, und lief auf den Onkel zu, mit der bestimmten Absicht, ihm mit beiden Händen den Mund zu schließen. Glücklicherweise erhob sich aber hinter dem Mädchen der Kranke, der Onkel machte ein finsteres Gesicht, als schlucke er etwas Abscheuliches hinunter, und sagte dann ruhiger: » Wir haben natürlich auch noch den Verstand nicht verloren; wäre das, was ich verlange, nicht möglich, würde ich es nicht verlangen. Bitte, gehen Sie jetzt! « Die Pflegerin stand aufgerichtet am Bett, dem Onkel voll zugewendet, mit der einen Hand streichelte sie, wie K. zu bemerken glaubte, die Hand des Advokaten. » Du kannst vor Leni alles sagen «, sagte der Kranke, zweifellos im Ton einer dringenden Bitte. » Es betrifft mich nicht «, sagte der Onkel, » es ist nicht mein Geheimnis. « Und er drehte sich um, als gedenke er in keine Verhandlungen mehr einzugehen, gebe aber noch eine kleine Bedenkzeit. » Wen betrifft es denn? « fragte der Advokat mit erlöschender Stimme und legte sich wieder zurück. » Meinen Neffen «, sagte der Onkel, » ich habe ihn auch mitgebracht. « Und er stellte vor: » Prokurist Josef K. « » Oh «, sagte der Kranke viel lebhafter und streckte K. die Hand entgegen, » verzeihen Sie, ich habe Sie gar nicht bemerkt. Geh, Leni «, sagte er dann zu der Pflegerin, die sich auch gar nicht mehr wehrte, und reichte ihr die Hand, als gelte es einen Abschied für lange Zeit. » Du bist also «, sagte er endlich zum Onkel, der, auch versöhnt, nähergetreten war, » nicht gekommen, mir einen Krankenbesuch zu machen, sondern du kommst in Geschäften. « Es war, als hätte die Vorstellung eines Krankenbesuchs den Advokaten bisher gelähmt, so gekräftigt sah er jetzt aus, blieb ständig auf einem Ellbogen aufgestützt, was ziemlich anstrengend sein mußte, und zog immer wieder an einem Bartstrahn in der Mitte seines Bartes. » Du siehst schon viel gesünder aus «, sagte der Onkel, » seit diese Hexe draußen ist. « Er unterbrach sich, flüsterte: » Ich wette, daß sie horcht! « und er sprang zur Tür. Aber hinter der Tür war niemand, der Onkel kam zurück, nicht enttäuscht, denn ihr Nichthorchen erschien ihm als eine noch größere Bosheit, wohl aber verbittert: » Du verkennst sie «, sagte der Advokat, ohne die Pflegerin weiter in Schutz zu nehmen; vielleicht wollte er damit ausdrücken, daß sie nicht schutzbedürftig sei. Aber in viel teilnehmenderem Tone fuhr er fort: » Was die Angelegenheit deines Herrn Neffen betrifft, so würde ich mich allerdings glücklich schätzen, wenn meine Kraft für diese äußerst schwierige Aufgabe ausreichen könnte; ich fürchte sehr, daß sie nicht ausreichen wird, jedenfalls will ich nichts unversucht lassen; wenn ich nicht ausreiche, könnte man ja noch jemanden anderen beiziehen. Um aufrichtig zu sein, interessiert mich die Sache zu sehr, als daß ich es über mich bringen könnte, auf jede Beteiligung zu verzichten. Hält es mein Herz nicht aus, so wird es doch wenigstens hier eine würdige Gelegenheit finden, gänzlich zu versagen. « K. glaubte, kein Wort dieser ganzen Rede zu verstehen, er sah den Onkel an, um dort eine Erklärung zu finden, aber dieser saß, mit der Kerze in der Hand, auf dem Nachttischchen, von dem bereits eine Arzneimittelflasche auf den Teppich gerollt war, nickte zu allem, was der Advokat sagte, war mit allem einverstanden und sah hie und da auf K. mit der Aufforderung zu gleichem Einverständnis hin. Hatte vielleicht der Onkel schon früher dem Advokaten von dem Prozeß erzählt? Aber das war unmöglich, alles, was vorhergegangen war, sprach dagegen. » Ich verstehe nicht – «, sagte er deshalb. » Ja, habe vielleicht ich Sie mißverstanden? « fragte der Advokat ebenso erstaunt und verlegen wie K. » Ich war vielleicht voreilig. Worüber wollten Sie denn mit mir sprechen? Ich dachte, es handle sich um Ihren Prozeß? « » Natürlich «, sagte der Onkel und fragte dann K.: » Was willst du denn? « » Ja, aber woher wissen Sie denn etwas über mich und meinen Prozeß? « fragte K. » Ach so «, sagte der Advokat lächelnd, » Ich bin doch Advokat, ich verkehre in Gerichtskreisen, man spricht über verschiedene Prozesse, und auffallendere, besonders wenn es den Neffen eines Freundes betrifft, behält man im Gedächtnis. Das ist doch nichts Merkwürdiges. « » Was willst du denn? « fragte der Onkel K. nochmals. » Du bist so unruhig. « » Sie verkehren in diesen Gerichtskreisen? « fragte K. » Ja «, sagte der Advokat. » Du fragst wie ein Kind «, sagte der Onkel. » Mit wem sollte ich denn verkehren, wenn nicht mit Leuten meines Faches? « fügte der Advokat hinzu. Es klang so unwiderleglich, daß K. gar nicht antwortete. » Sie arbeiten doch bei dem Gericht im Justizpalast, und nicht bei dem auf dem Dachboden «, hatte er sagen wollen, konnte sich aber nicht überwinden, es wirklich zu sagen. » Sie müssen doch bedenken «, fuhr der Advokat fort, in einem Tone, als erkläre er etwas Selbstverständliches überflüssigerweise und nebenbei, » Sie müssen doch bedenken, daß ich aus einem solchen Verkehr auch große Vorteile für meine Klientel ziehe, und zwar in vielfacher Hinsicht, man darf nicht einmal immer davon reden. Natürlich bin ich jetzt infolge meiner Krankheit ein wenig behindert, aber ich bekomme trotzdem Besuch von guten Freunden vom Gericht und erfahre doch einiges. Erfahre vielleicht mehr als manche, die in bester Gesundheit den ganzen Tag bei Gericht verbringen. So habe ich zum Beispiel gerade jetzt einen lieben Besuch. « Und er zeigte in eine dunkle Zimmerecke. » Wo denn? « fragte K. in der ersten Überraschung fast grob. Er sah unsicher herum; das Licht der kleinen Kerze drang bis zur gegenüberliegenden Wand bei weitem nicht. Und wirklich begann sich dort in der Ecke etwas zu rühren. Im Licht der Kerze, die der Onkel jetzt hochhielt, sah man dort, bei einem kleinen Tischchen, einen älteren Herrn sitzen. Er hatte wohl gar nicht geatmet, daß er so lange unbemerkt geblieben war. Jetzt stand er umständlich auf, offenbar unzufrieden damit, daß man auf ihn aufmerksam gemacht hatte. Es war, als wolle er mit den Händen, die er wie kurze Flügel bewegte, alle Vorstellungen und Begrüßungen abwehren, als wolle er auf keinen Fall die anderen durch seine Anwesenheit stören und als bitte er dringend wieder um die Versetzung ins Dunkel und um das Vergessen seiner Anwesenheit. Das konnte man ihm nun aber nicht mehr zugestehen. » Ihr habt uns nämlich überrascht «, sagte der Advokat zur Erklärung und winkte dabei dem Herrn aufmunternd zu, näherzukommen, was dieser langsam, zögernd herumblickend und doch mit einer gewissen Würde tat, » der Herr Kanzleidirektor – ach so, Verzeihung, ich habe nicht vorgestellt – hier mein Freund Albert K., hier sein Neffe, Prokurist Josef K., und hier der Herr Kanzleidirektor – der Herr Kanzleidirektor also war so freundlich, mich zu besuchen. Den Wert eines solchen Besuches kann eigentlich nur der Eingeweihte würdigen, welcher weiß, wie der Herr Kanzleidirektor mit Arbeit überhäuft ist. Nun, er kam aber trotzdem, wir unterhielten uns friedlich, soweit meine Schwäche es erlaubte, wir hatten zwar Leni nicht verboten, Besuche einzulassen, denn es waren keine zu erwarten, aber unsere Meinung war doch, daß wir allein bleiben sollten, dann aber kamen deine Fausthiebe, Albert, der Herr Kanzleidirektor rückte mit Sessel und Tisch in den Winkel, nun aber zeigt sich, daß wir möglicherweise, das heißt, wenn der Wunsch danach besteht, eine gemeinsame Angelegenheit zu besprechen haben und sehr gut wieder zusammenrücken können. – Herr Kanzleidirektor «, sagte er mit Kopfneigen und unterwürfigem Lächeln und zeigte auf einen Lehnstuhl in der Nähe des Bettes. » Ich kann leider nur noch ein paar Minuten bleiben «, sagte der Kanzleidirektor freundlich, setzte sich breit in den Lehnstuhl und sah auf die Uhr, » die Geschäfte rufen mich. Jedenfalls will ich nicht die Gelegenheit vorübergehen lassen, einen Freund meines Freundes kennenzulernen. « Er neigte den Kopf leicht gegen den Onkel, der von der neuen Bekanntschaft sehr befriedigt schien, aber infolge seiner Natur Gefühle der Ergebenheit nicht ausdrücken konnte und die Worte des Kanzleidirektors mit verlegenem, aber lautem Lachen begleitete. Ein häßlicher Anblick! K. konnte ruhig alles beobachten, denn um ihn kümmerte sich niemand, der Kanzleidirektor nahm, wie es seine Gewohnheit schien, da er nun schon einmal hervorgezogen war, die Herrschaft über das Gespräch an sich, der Advokat, dessen erste Schwäche vielleicht nur dazu hatte dienen sollen, den neuen Besuch zu vertreiben, hörte aufmerksam, die Hand am Ohre zu, der Onkel als Kerzenträger – er balancierte die Kerze auf seinem Schenkel, der Advokat sah öfter besorgt hin – war bald frei von Verlegenheit und nur noch entzückt, sowohl von der Art der Rede des Kanzleidirektors als auch von den sanften, wellenförmigen Handbewegungen, mit denen er sie begleitete. K., der am Bettpfosten lehnte, wurde vom Kanzleidirektor vielleicht sogar mit Absicht vollständig vernachlässigt und diente den alten Herren nur als Zuhörer. Übrigens wußte er kaum, wovon die Rede war und dachte bald an die Pflegerin und an die schlechte Behandlung, die sie vom Onkel erfahren hatte, bald daran, ob er den Kanzleidirektor nicht schon einmal gesehen hatte, vielleicht sogar in der Versammlung bei seiner ersten Untersuchung. Wenn er sich auch vielleicht täuschte, so hätte sich doch der Kanzleidirektor den Versammlungsteilnehmern in der ersten Reihe, den alten Herren mit den schütteren Bärten, vorzüglich eingefügt. Da ließ ein Lärm aus dem Vorzimmer, wie von zerbrechendem Porzellan, alle aufhorchen. » Ich will nachsehen, was geschehen ist «, sagte K. und ging langsam hinaus, als gebe er den anderen noch Gelegenheit, ihn zurückzuhalten. Kaum war er ins Vorzimmer getreten und wollte sich im Dunkel zurechtfinden, als sich auf die Hand, mit der er die Tür noch festhielt, eine kleine Hand legte, viel kleiner als K.s Hand, und die Tür leise schloß. Es war die Pflegerin, die hier gewartet hatte. » Es ist nichts geschehen «, flüsterte sie, » ich habe nur einen Teller gegen die Mauer geworfen, um Sie herauszuholen. « In seiner Befangenheit sagte K.: » Ich habe auch an Sie gedacht. « » Desto besser «, sagte die Pflegerin, » kommen Sie. « Nach ein paar Schritten kamen sie zu einer Tür aus mattem Glas, welche die Pflegerin vor K. öffnete. » Treten Sie doch ein «, sagte sie. Es war jedenfalls das Arbeitszimmer des Advokaten; soweit man im Mondlicht sehen konnte, das jetzt nur einen kleinen, viereckigen Teil des Fußbodens an jedem der drei großen Fenster erhellte, war es mit schweren, alten Möbelstücken ausgestattet. » Hierher «, sagte die Pflegerin und zeigte auf eine dunkle Truhe mit holzgeschnitzter Lehne. Noch als er sich gesetzt hatte, sah sich K. im Zimmer um, es war ein hohes, großes Zimmer, die Kundschaft des Armenadvokaten mußte sich hier verloren vorkommen. K. glaubte, die kleinen Schritte zu sehen, mit denen die Besucher zu dem gewaltigen Schreibtisch vorrückten. Dann aber vergaß er dies und hatte nur noch Augen für die Pflegerin, die ganz nahe neben ihm saß und ihn fast an die Seitenlehne drückte. » Ich dachte «, sagte sie, » Sie würden von selbst zu mir herauskommen, ohne daß ich Sie erst rufen müßte. Es war doch merkwürdig. Zuerst sahen Sie mich gleich beim Eintritt ununterbrochen an und dann ließen Sie mich warten. Nennen Sie mich übrigens Leni «, fügte sie noch rasch und unvermittelt zu, als solle kein Augenblick dieser Aussprache versäumt werden. » Gern «, sagte K., » Was aber die Merkwürdigkeit betrifft, Leni, so ist sie leicht zu erklären. Erstens mußte ich doch das Geschwätz der alten Herren anhören und konnte nicht grundlos weglaufen, zweitens aber bin ich nicht frech, sondern eher schüchtern, und auch Sie, Leni, sahen wahrhaftig nicht so aus, als ob Sie in einem Sprung zu gewinnen wären. « » Das ist es nicht «, sagte Leni, legte den Arm über die Lehne und sah K. an, » aber ich gefiel Ihnen nicht und gefalle Ihnen auch wahrscheinlich jetzt nicht. « » Gefallen wäre ja nicht viel «, sagte K. ausweichend. » Oh! « sagte sie lächelnd und gewann durch K.s Bemerkung und diesen kleinen Ausruf eine gewisse Überlegenheit. Deshalb schwieg K. ein Weilchen. Da er sich an das Dunkel im Zimmer schon gewöhnt hatte, konnte er verschiedene Einzelheiten der Einrichtung unterscheiden. Besonders fiel ihm ein großes Bild auf, das rechts von der Tür hing, er beugte sich vor, um es besser zu sehen. Es stellte einen Mann im Richtertalar dar; er saß auf einem hohen Thronsessel, dessen Vergoldung vielfach aus dem Bilde hervorstach. Das Ungewöhnliche war, daß dieser Richter nicht in Ruhe und Würde dort saß, sondern den linken Arm fest an Rücken - und Seitenlehne drückte, den rechten Arm aber völlig frei hatte und nur mit der Hand die Seitenlehne umfaßte, als wolle er im nächsten Augenblick mit einer heftigen und vielleicht empörten Wendung aufspringen, um etwas Entscheidendes zu sagen oder gar das Urteil zu verkünden. Der Angeklagte war wohl zu Füßen der Treppe zu denken, deren oberste, mit einem gelben Teppich bedeckte Stufen noch auf dem Bilde zu sehen waren. » Vielleicht ist das mein Richter «, sagte K. und zeigte mit einem Finger auf das Bild. » Ich kenne ihn «, sagte Leni und sah auch zum Bilde auf, » er kommt öfters hierher. Das Bild stammt aus seiner Jugend, er kann aber niemals dem Bilde auch nur ähnlich gewesen sein, denn er ist fast winzig klein. Trotzdem hat er sich auf dem Bild so in die Länge ziehen lassen, denn er ist unsinnig eitel, wie alle hier. Aber auch ich bin eitel und sehr unzufrieden damit, daß ich Ihnen gar nicht gefalle. « Auf die letzte Bemerkung antwortete K. nur damit, daß er Leni umfaßte und an sich zog, sie lehnte still den Kopf an seine Schulter. Zu dem Übrigen aber sagte er: » Was für einen Rang hat er? « » Er ist Untersuchungsrichter «, sagte sie, ergriff K.s Hand, mit der er sie umfaßt hielt, und spielte mit seinen Fingern. » Wieder nur Untersuchungsrichter «, sagte K. enttäuscht, » die hohen Beamten verstecken sich. Aber er sitzt doch auf einem Thronsessel. « » Das ist alles Erfindung «, sagte Leni, das Gesicht über K.s Hand gebeugt, » in Wirklichkeit sitzt er auf einem Küchensessel, auf dem eine alte Pferdedecke zusammengelegt ist. Aber müssen Sie denn immerfort an Ihren Prozeß denken? « fügte sie langsam hinzu. » Nein, durchaus nicht «, sagte K., » ich denke wahrscheinlich sogar zu wenig an ihn. « » Das ist nicht der Fehler, den Sie machen «, sagte Leni, » Sie sind zu unnachgiebig, so habe ich es gehört. « » Wer hat das gesagt? « fragte K., erfühlte ihren Körper an seiner Brust und sah auf ihr reiches, dunkles, fest gedrehtes Harr hinab. » Ich würde zuviel verraten, wenn ich das sagte «, antwortete Leni. » Fragen Sie, bitte, nicht nach Namen, stellen Sie aber Ihren Fehler ab, seien Sie nicht mehr so unnachgiebig, gegen dieses Gericht kann man sich ja nicht wehren, man muß das Geständnis machen. Machen Sie doch bei nächster Gelegenheit das Geständnis. Erst dann ist die Möglichkeit zu entschlüpfen gegeben, erst dann. Jedoch selbst das ist ohne fremde Hilfe nicht möglich, wegen dieser Hilfe aber müssen Sie sich nicht ängstigen, die will ich Ihnen selbst leisten. « » Sie verstehen viel von diesem Gericht und von den Betrügereien, die hier nötig sind «, sagte K. und hob sie, da sie sich allzu stark an ihn drängte, auf seinen Schoß. » So ist es gut «, sagte sie und richtete sich auf seinem Schoß ein, indem sie den Rock glättete und die Bluse zurechtzog. Dann hing sie sich mit beiden Händen an seinen Hals, lehnte sich zurück und sah ihn lange an. » Und wenn ich das Geständnis nicht mache, dann können Sir mir nicht helfen? « fragte K. versuchsweise. Ich werbe Helferinnen, dachte er fast verwundert, zuerst Fräulein Bürstner, dann die Frau des Gerichtsdieners und endlich diese kleine Pflegerin, die ein unbegreifliches Bedürfnis nach mir zu haben scheint. Wie sie auf meinem Schoß sitzt, als sei es ihr einzig richtiger Platz! » Nein «, antwortete Leni und schüttelte langsam den Kopf, » dann kann ich Ihnen nicht helfen. Aber Sie wollen ja meine Hilfe gar nicht, es liegt Ihnen nichts daran, Sie sind eigensinnig und lassen sich nicht überzeugen. « » Haben Sie eine Geliebte? « fragte sie nach einem Weilchen. » Nein «, sagte K. » O doch «, sagte sie. » Ja wirklich «, sagte K., » denken Sie nur, ich habe sie verleugnet und trage doch sogar ihre Photographie bei mir. « Auf ihre Bitten zeigte er ihr eine Photographie Elsas, zusammengekrümmt auf seinem Schoß, studierte sie das Bild. Es war eine Momentphotographie, Elsa war nach einem Wirbeltanz aufgenommen, wie sie ihn in dem Weinlokal gern tanzte, ihr Rock flog noch im Faltenwurf der Drehung um sie her, die Hände hatte sie auf die festen Hüften gelegt und sah mit straffem Hals lachend zur Seite; wem ihr Lachen galt, konnte man aus dem Bild nicht erkennen. » Sie ist stark geschnürt «, sagte Leni und zeigte auf die Stelle, wo dies ihrer Meinung nach zu sehen war. » Sie gefällt mir nicht, sie ist unbeholfen und roh. Vielleicht ist sie aber Ihnen gegenüber sanft und freundlich, darauf könnte man nach dem Bilde schließen. So große, starke Mädchen wissen oft nichts anderes, als sanft und freundlich zu sein. Würde sie sich aber für Sie opfern können? « » Nein «, sagte K., » sie ist weder sanft und freundlich, noch würde sie sich für mich opfern können. Auch habe ich bisher weder das eine noch das andere von ihr verlangt. Ja, ich habe noch nicht einmal das Bild so genau angesehen wie Sie. « » Es liegt Ihnen also gar nicht viel an ihr «, sagte Leni, » sie ist also gar nicht Ihre Geliebte. « » Doch «, sagte K. » Ich nehme mein Wort nicht zurück. « » Mag sie also jetzt Ihre Geliebte sein «, sagte Leni, » Sie würden sie aber nicht sehr vermissen, wenn Sie sie verlören oder für jemand anderen, zum Beispiel für mich, eintauschten. « » Gewiß «, sagte K. lächelnd, » das wäre denkbar, aber sie hat einen großen Vorteil Ihnen gegenüber, sie weiß nichts von meinem Prozeß, und selbst wenn sie etwas davon wüßte, würde sie nicht daran denken. Sie würde mich nicht zur Nachgiebigkeit zu überreden suchen. « » Das ist kein Vorteil «, sagte Leni. » Wenn sie keine sonstigen Vorteile hat, verliere ich nicht den Mut. Hat sie irgendeinen körperlichen Fehler? « » Einen körperlichen Fehler? « fragte K. » Ja «, sagte Leni, » ich habe nämlich einen solchen kleinen Fehler, sehen Sie. « Sie spannte den Mittelund Ringfinger ihrer rechten Hand auseinander, zwischen denen das Verbindungshäutchen fast bis zum obersten Gelenk der kurzen Finger reichte. K. merkte im Dunkel nicht gleich, was sie ihm zeigen wollte, sie führte deshalb seine Hand hin, damit er es abtaste. » Was für ein Naturspiel «, sagte K. und fügte, als er die ganze Hand überblickt hatte, hinzu: » Was für eine hübsche Kralle! « Mit einer Art Stolz sah Leni zu, wie K. staunend immer wieder ihre zwei Finger auseinanderzog und zusammenlegte, bis er sie schließlich flüchtig küßte und losließ. » Oh! « rief sie aber sofort, » Sie haben mich geküßt! « Eilig, mit offenem Mund erkletterte sie mit den Knien seinen Schoß. K. sah fast bestürzt zu ihr auf, jetzt, da sie ihm so nahe war, ging ein bitterer, aufreizender Geruch wie von Pfeffer von ihr aus, sie nahm seinen Kopf an sich, beugte sich über ihn hinweg und biß und küßte seinen Hals, biß selbst in seine Haare. » Sie haben mich eingetauscht! « rief sie von Zeit zu Zeit, » sehen Sie, nun haben Sie mich eingetauscht! « Da glitt ihr Knie aus, mit einem kleinen Schrei fiel sie fast auf den Teppich, K. umfaßte sie, um sie noch zu halten, und wurde zu ihr hinabgezogen. » Jetzt gehörst du mir «, sagte sie. » Hier hast du den Hausschlüssel, komm, wann du willst «, waren ihre letzten Worte, und ein zielloser Kuß traf ihn noch im Weggehen auf den Rücken. Als er aus dem Haustor trat, fiel ein leichter Regen, er wollte in die Mitte der Straße gehen, um vielleicht Leni noch beim Fenster erblicken zu können, da stürzte aus einem Automobil, das vor dem Hause wartete und das K. in seiner Zerstreutheit gar nicht bemerkt hatte, der Onkel, faßte ihn bei den Armen und stieß ihn gegen das Haustor, als wolle er ihn dort festnageln. » Junge «, rief er, » wie konntest du nur das tun! Du hast deiner Sache, die auf gutem Wege war, schrecklich geschadet. Verkriechst dich mit einem kleinen, schmutzigen Ding, das überdies offensichtlich die Geliebte des Advokaten ist, und bleibst stundenlang weg. Suchst nicht einmal einen Vorwand, verheimlichst nichts, nein, bist ganz offen, läufst zu ihr und bleibst bei ihr. Und unterdessen sitzen wir beisammen, der Onkel, der sich für dich abmüht, der Advokat, der für dich gewonnen werden soll, der Kanzleidirektor vor allem, dieser große Herr, der deine Sache in ihrem jetzigen Stadium geradezu beherrscht. Wir wollen beraten, wie dir zu helfen wäre, ich muß den Advokaten vorsichtig behandeln, dieser wieder den Kanzleidirektor, und du hättest doch allen Grund, mich wenigstens zu unterstützen. Statt dessen bleibst du fort. Schließlich läßt es sich nicht verheimlichen, nun, es sind höfliche, gewandte Männer, sie sprechen nicht davon, sie schonen mich, schließlich können aber auch sie sich nicht mehr überwinden, und da sie von der Sache nicht reden können, verstummen sie. Wir sind minutenlang schweigend dagesessen und haben gehorcht, ob du nicht doch endlich kämest. Alles vergebens. Endlich steht der Kanzleidirektor, der viel länger geblieben ist, als er ursprünglich wollte, auf, verabschiedet sich, bedauert mich sichtlich, ohne mir helfen zu können, wartet in unbegreiflicher Liebenswürdigkeit noch eine Zeitlang in der Tür, dann geht er. Ich war natürlich glücklich, daß er weg war, mir war schon die Luft zum Atmen ausgegangen. Auf den kranken Advokaten hat alles noch stärker eingewirkt, er konnte, der gute Mann, gar nicht sprechen, als ich mich von ihm verabschiedete. Du hast wahrscheinlich zu seinem vollständigen Zusammenbrechen beigetragen und beschleunigst so den Tod eines Mannes, auf den du angewiesen bist. Und mich, deinen Onkel, läßt du hier im Regen – fühle nur, ich bin ganz durchnäßt – stundenlang warten und mich in Sorgen abquälen. « 7 Advokat, Fabrikant, Maler An einem Wintervormittag – draußen fiel Schnee im trüben Licht – saß K., trotz der frühen Stunde schon äußerst müde, in seinem Büro. Um sich wenigstens vor den unteren Beamten zu schützen, hatte er dem Diener den Auftrag gegeben, niemanden von ihnen einzulassen, da er mit einer größeren Arbeit beschäftigt sei. Aber statt zu arbeiten, drehte er sich in seinem Sessel, verschob langsam einige Gegenstände auf dem Tisch, ließ dann aber, ohne es zu wissen, den ganzen Arm ausgestreckt auf der Tischplatte liegen und blieb mit gesenktem Kopf unbeweglich sitzen. Der Gedanke an den Prozeß verließ ihn nicht mehr. Öfters schon hatte er überlegt, ob es nicht gut wäre, eine Verteidigungsschrift auszuarbeiten und bei Gericht einzureichen. Er wollte darin eine kurze Lebensbeschreibung vorlegen und bei jedem irgendwie wichtigeren Ereignis erklären, aus welchen Gründen er so gehandelt hatte, ob diese Handlungsweise nach seinem gegenwärtigen Urteil zu verwerfen oder zu billigen war und welche Gründe er für dieses oder jenes anführen konnte. Die Vorteile einer solchen Verteidigungsschrift gegenüber der bloßen Verteidigung durch den übrigens auch sonst nicht einwandfreien Advokaten waren zweifellos. K. wußte ja gar nicht, was der Advokat unternahm; viel war es jedenfalls nicht, schon einen Monat lang hatte er ihn nicht mehr zu sich berufen, und auch bei keiner der früheren Besprechungen hatte K. den Eindruck gehabt, daß dieser Mann viel für ihn erreichen könne. Vor allem hatte er ihn fast gar nicht ausgefragt. Und hier war doch so viel zu fragen. Fragen war die Hauptsache. K. hatte das Gefühl, als ob er selbst alle hier nötigen Fragen stellen könnte. Der Advokat dagegen, statt zu fragen, erzählte selbst oder saß ihm stumm gegenüber, beugte sich, wahrscheinlich wegen seines schwachen Gehörs, ein wenig über den Schreibtisch vor, zog an einem Bartstrahn innerhalb seines Bartes und blickte auf den Teppich nieder, vielleicht gerade auf die Stelle, wo K. mit Leni gelegen war. Hier und da gab er K. einige leere Ermahnungen, wie man sie Kindern gibt. Ebenso nutzlose wie langweilige Reden, die K. in der Schlußabrechnung mit keinem Heller zu bezahlen gedachte. Nachdem der Advokat ihn genügend gedemütigt zu haben glaubte, fing er gewöhnlich an, ihn wieder ein wenig aufzumuntern. Er habe schon, erzählte er dann, viele ähnliche Prozesse ganz oder teilweise gewonnen. Prozesse, die, wenn auch in Wirklichkeit vielleicht nicht so schwierig wie dieser, äußerlich noch hoffnungsloser waren. Ein Verzeichnis dieser Prozesse habe er hier in der Schublade – hierbei klopfte er an irgendeine Lade des Tisches –, die Schriften könne er leider nicht zeigen, da es sich um Amtsgeheimnisse handle. Trotzdem komme jetzt natürlich die große Erfahrung, die er durch alle diese Prozesse erworben habe, K. zugute. Er habe natürlich sofort zu arbeiten begonnen, und die erste Eingabe sei schon fast fertiggestellt. Sie sei sehr wichtig, weil der erste Eindruck, den die Verteidigung mache, oft die ganze Richtung des Verfahrens bestimme. Leider, darauf müsse er K. allerdings aufmerksam machen, geschehe es manchmal, daß die ersten Eingaben bei Gericht gar nicht gelesen würden. Man lege sie einfach zu den Akten und weise darauf hin, daß vorläufig die Einvernahme und Beobachtung des Angeklagten wichtiger sei als alles Geschriebene. Man fügt, wenn der Petent dringlich wird, hinzu, daß man vor der Entscheidung, sobald alles Material gesammelt ist, im Zusammenhang natürlich, alle Akten, also auch diese erste Eingabe, überprüfen wird. Leider sei aber auch dies meistens nicht richtig, die erste Eingabe werde gewöhnlich verlegt oder gehe gänzlich verloren, und selbst wenn sie bis zum Ende erhalten bleibt, werde sie, wie der Advokat allerdings nur gerüchtweise erfahren hat, kaum gelesen. Das alles sei bedauerlich, aber nicht ganz ohne Berechtigung. K. möge doch nicht außer acht lassen, daß das Verfahren nicht öffentlich sei, es kann, wenn das Gericht es für nötig hält, öffentlich werden, das Gesetz aber schreibt Öffentlichkeit nicht vor. Infolgedessen sind auch die Schriften des Gerichts, vor allem die Anklageschrift, dem Angeklagten und seiner Verteidigung unzugänglich, man weiß daher im allgemeinen nicht oder wenigstens nicht genau, wogegen sich die erste Eingabe zu richten hat, sie kann daher eigentlich nur zufälligerweise etwas enthalten, was für die Sache von Bedeutung ist. Wirklich zutreffende und beweisführende Eingaben kann man erst später ausarbeiten, wenn im Laufe der Einvernahmen des Angeklagten die einzelnen Anklagepunkte und ihre Begründung deutlicher hervortreten oder erraten werden können. Unter diesen Verhältnissen ist natürlich die Verteidigung in einer sehr ungünstigen und schwierigen Lage. Aber auch das ist beabsichtigt. Die Verteidigung ist nämlich durch das Gesetz nicht eigentlich gestattet, sondern nur geduldet, und selbst darüber, ob aus der betreffenden Gesetzesstelle wenigstens Duldung herausgelesen werden soll, besteht Streit. Es gibt daher strenggenommen gar keine vom Gericht anerkannten Advokaten, alle, die vor diesem Gericht als Advokaten auftreten, sind im Grunde nur Winkeladvokaten. Das wirkt natürlich auf den ganzen Stand sehr entwürdigend ein, und wenn K. nächstens einmal in die Gerichtskanzleien gehen werde, könne er sich ja, um auch das einmal gesehen zu haben, das Advokatenzimmer ansehen. Er werde vor der Gesellschaft, die dort beisammen sei, vermutlich erschrecken. Schon die ihnen zugewiesene enge, niedrige Kammer zeige die Verachtung, die das Gericht für diese Leute hat. Licht bekommt die Kammer nur durch eine kleine Luke, die so hochgelegen ist, daß man, wenn man hinausschauen will, wo einem übrigens der Rauch eines knapp davor gelegenen Kamins in die Nase fährt und das Gesicht schwärzt, erst einen Kollegen suchen muß, der einen auf den Rücken nimmt. Im Fußboden dieser Kammer – um nur noch ein Beispiel für diese Zustände anzuführen – ist nun schon seit mehr als einem Jahr ein Loch, nicht so groß, daß ein Mensch durchfallen könnte, aber groß genug, daß man mit einem Bein ganz einsinkt. Das Advokatenzimmer liegt auf dem zweiten Dachboden; sinkt also einer ein, so hängt das Bein in den ersten Dachboden hinunter, und zwar gerade in den Gang, wo die Parteien warten. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man in Advokatenkreisen solche Verhältnisse schändlich nennt. Beschwerden an die Verwaltung haben nicht den geringsten Erfolg, wohl aber ist es den Advokaten auf das strengste verboten, irgend etwas in dem Zimmer auf eigene Kosten ändern zu lassen. Aber auch diese Behandlung der Advokaten hat ihre Begründung. Man will die Verteidigung möglichst ausschalten, alles soll auf den Angeklagten selbst gestellt sein. Kein schlechter Standpunkt im Grunde, nichts wäre aber verfehlter, als daraus zu folgern, daß bei diesem Gericht die Advokaten für den Angeklagten unnötig sind. Im Gegenteil, bei keinem anderen Gericht sind sie so notwendig wie bei diesem. Das Verfahren ist nämlich im allgemeinen nicht nur vor der Öffentlichkeit geheim, sondern auch vor dem Angeklagten. Natürlich nur soweit dies möglich ist, es ist aber in sehr weitem Ausmaß möglich. Auch der Angeklagte hat nämlich keinen Einblick in die Gerichtsschriften, und aus den Verhören auf die ihnen zugrunde liegenden Schriften zu schließen, ist sehr schwierig, insbesondere aber für den Angeklagten, der doch befangen ist und alle möglichen Sorgen hat, die ihn zerstreuen. Hier greift nun die Verteidigung ein. Bei den Verhören dürfen im allgemeinen Verteidiger nicht anwesend sein, sie müssen daher nach den Verhören, und zwar möglichst noch an der Tür des Untersuchungszimmers, den Angeklagten über das Verhör ausforschen und diesen oft schon sehr verwischten Berichten das für die Verteidigung Taugliche entnehmen. Aber das Wichtigste ist dies nicht, denn viel kann man auf diese Weise nicht erfahren, wenn natürlich auch hier wie überall ein tüchtiger Mann mehr erfährt als andere. Das Wichtigste bleiben trotzdem die persönlichen Beziehungen des Advokaten, in ihnen liegt der Hauptwert der Verteidigung. Nun habe ja wohl K. schon seinen eigenen Erlebnissen entnommen, daß die allerunterste Organisation des Gerichtes nicht ganz vollkommen ist, pflichtvergessene und bestechliche Angestellte aufweist, wodurch gewissermaßen die strenge Abschließung des Gerichtes Lücken bekommt. Hier nun drängt sich die Mehrzahl der Advokaten ein, hier wird bestochen und ausgehorcht, ja es kamen, wenigstens in früherer Zeit, sogar Fälle von Aktendiebstählen vor. Es ist nicht zu leugnen, daß auf diese Weise für den Augenblick einige sogar überraschend günstige Resultate für den Angeklagten sich erzielen lassen, damit stolzieren auch diese kleinen Advokaten herum und locken neue Kundschaft an, aber für den weiteren Fortgang des Prozesses bedeutet es entweder nichts oder nichts Gutes. Wirklichen Wert aber haben nur ehrliche persönliche Beziehungen, und zwar mit höheren Beamten, womit natürlich nur höhere Beamten der unteren Grade gemeint sind. Nur dadurch kann der Fortgang des Prozesses, wenn auch zunächst nur unmerklich, später aber immer deutlicher beeinflußt werden. Das können natürlich nur wenige Advokaten, und hier sei die Wahl K.s sehr günstig gewesen. Nur noch vielleicht ein oder zwei Advokaten könnten sich mit ähnlichen Beziehungen ausweisen wie Dr. Huld. Diese kümmern sich allerdings um die Gesellschaft im Advokatenzimmer nicht und haben auch nichts mit ihr zu tun. Um so enger sei aber die Verbindung mit den Gerichtsbeamten. Es sei nicht einmal immer nötig, daß Dr. Huld zu Gericht gehe, in den Vorzimmern der Untersuchungsrichter auf ihr zufälliges Erscheinen warte und je nach ihrer Laune einen meist nur scheinbaren Erfolg erziele oder auch nicht einmal diesen. Nein, K. habe es ja selbst gesehen, die Beamten, und darunter recht hohe, kommen selbst, geben bereitwillig Auskunft, offene oder wenigstens leicht deutbare, besprechen den nächsten Fortgang der Prozesse, ja sie lassen sich sogar in einzelnen Fällen überzeugen und nehmen die fremde Ansicht gern an. Allerdings dürfe man ihnen gerade in dieser letzten Hinsicht nicht allzusehr vertrauen, so bestimmt sie ihre neue, für die Verteidigung günstige Absicht auch aussprechen, gehen sie doch vielleicht geradewegs in ihre Kanzlei und geben für den nächsten Tag einen Gerichtsbeschluß, der gerade das Entgegengesetzte enthält und vielleicht für den Angeklagten noch viel strenger ist als ihre erste Absicht, von der sie gänzlich abgekommen zu sein behaupteten. Dagegen könne man sich natürlich nicht wehren, denn das, was sie zwischen vier Augen gesagt haben, ist eben auch nur zwischen vier Augen gesagt und lasse keine öffentliche Folgerung zu, selbst wenn die Verteidigung nicht auch sonst bestrebt sein müßte, sich die Gunst der Herren zu erhalten. Andererseits sei es allerdings auch richtig, daß die Herren nicht etwa nur aus Menschenliebe oder aus freundschaftlichen Gefühlen sich mit der Verteidigung, natürlich nur mit einer sachverständigen Verteidigung, in Verbindung setzen, sie sind vielmehr in gewisser Hinsicht auch auf sie angewiesen. Hier mache sich eben der Nachteil einer Gerichtsorganisation geltend, die selbst in ihren Anfängen das geheime Gericht festsetzt. Den Beamten fehlt der Zusammenhang mit der Bevölkerung, für die gewöhnlichen, mittleren Prozesse sind sie gut ausgerüstet, ein solcher Prozeß rollt fast von selbst auf seiner Bahn ab und braucht nur hier und da einen Anstoß, gegenüber den ganz einfachen Fällen aber, wie auch gegenüber den besonders schwierigen sind sie oft ratlos, sie haben, weil sie fortwährend, Tag und Nacht, in ihr Gesetz eingezwängt sind, nicht den richtigen Sinn für menschliche Beziehungen, und das entbehren sie in solchen Fällen schwer. Dann kommen sie zum Advokaten um Rat, und hinter ihnen trägt ein Diener die Akten, die sonst so geheim sind. An diesem Fenster hätte man manche Herren, von denen man es am wenigsten erwarten würde, antreffen können, wie sie geradezu trostlos auf die Gasse hinaussahen, während der Advokat an seinem Tisch die Akten studierte, um ihnen einen guten Rat geben zu können. Übrigens könne man gerade bei solchen Gelegenheiten sehen, wie ungemein ernst die Herren ihren Beruf nehmen und wie sie über Hindernisse, die sie ihrer Natur nach nicht bewältigen können, in große Verzweiflung geraten. Ihre Stellung sei auch sonst nicht leicht, man dürfe ihnen nicht Unrecht tun und ihre Stellung nicht für leicht ansehen. Die Rangordnung und Steigerung des Gerichtes sei unendlich und selbst für den Eingeweihten nicht absehbar. Das Verfahren vor den Gerichtshöfen sei aber im allgemeinen auch für die unteren Beamten geheim, sie können daher die Angelegenheiten, die sie bearbeiten, in ihrem ferneren Weitergang kaum jemals vollständig verfolgen, die Gerichtssache erscheint also in ihrem Gesichtskreis, ohne daß sie oft wissen, woher sie kommt, und sie geht weiter, ohne daß sie erfahren, wohin. Die Belehrung also, die man aus dem Studium der einzelnen Prozeßstadien, der schließlichen Entscheidung und ihrer Gründe schöpfen kann, entgeht diesen Beamten. Sie dürfen sich nur mit jenem Teil des Prozesses befassen, der vom Gesetz für sie abgegrenzt ist, und wissen von dem Weiteren, also von den Ergebnissen ihrer eigenen Arbeit, meist weniger als die Verteidigung, die doch in der Regel fast bis zum Schluß des Prozesses mit dem Angeklagten in Verbindung bleibt. Auch in dieser Richtung also können sie von der Verteidigung manches Wertvolle erfahren. Wundere sich K. noch, wenn er alles dieses im Auge behalte, über die Gereiztheit der Beamten, die sich manchmal den Parteien gegenüber in – jeder mache diese Erfahrung – beleidigender Weise äußert. Alle Beamten seien gereizt, selbst wenn sie ruhig scheinen. Natürlich haben die kleinen Advokaten besonders viel darunter zu leiden. Man erzählt zum Beispiel folgende Geschichte, die sehr den Anschein der Wahrheit hat. Ein alter Beamter, ein guter, stiller Herr, hatte eine schwierige Gerichtssache, welche besonders durch die Eingaben des Advokaten verwickelt worden war, einen Tag und eine Nacht ununterbrochen studiert – diese Beamten sind tatsächlich fleißig, wie niemand sonst. – Gegen Morgen nun, nach vierundzwanzigstündiger, wahrscheinlich nicht sehr ergiebiger Arbeit, ging er zur Eingangstür, stellte sich dort in Hinterhalt und warf jeden Advokaten, der eintreten wollte, die Treppe hinunter. Die Advokaten sammelten sich unten auf dem Treppenabsatz und berieten, was sie tun sollten; einerseits haben sie keinen eigentlichen Anspruch darauf, eingelassen zu werden, können daher rechtlich gegen den Beamten kaum etwas unternehmen und müssen sich, wie schon erwähnt, auch hüten, die Beamtenschaft gegen sich aufzubringen. Andererseits aber ist jeder nicht bei Gericht verbrachte Tag für sie verloren, und es lag ihnen also viel daran einzudringen. Schließlich einigten sie sich darauf, daß sie den alten Herrn ermüden wollten. Immer wieder wurde ein Advokat ausgeschickt, der die Treppe hinauflief und sich dann unter möglichstem, allerdings passivem Widerstand hinunterwerfen ließ, wo er dann von den Kollegen aufgefangen wurde. Das dauerte etwa eine Stunde, dann wurde der alte Herr, er war ja auch von der Nachtarbeit schon erschöpft, wirklich müde und ging in seine Kanzlei zurück. Die unten wollten es erst gar nicht glauben und schickten zuerst einen aus, der hinter der Tür nachsehen sollte, ob dort wirklich leer war. Dann erst zogen sie ein und wagten wahrscheinlich nicht einmal zu murren. Denn den Advokaten – und selbst der Kleinste kann doch die Verhältnisse wenigstens zum Teil übersehen – liegt es vollständig ferne, bei Gericht irgendwelche Verbesserungen einführen oder durchsetzen zu wollen, während – und dies ist sehr bezeichnend – fast jeder Angeklagte, selbst ganz einfältige Leute, gleich beim allerersten Eintritt in den Prozeß an Verbesserungsvorschläge zu denken anfangen und damit oft Zeit und Kraft verschwenden, die anders viel besser verwendet werden könnten. Das einzig Richtige sei es, sich mit den vorhandenen Verhältnissen abzufinden. Selbst wenn es möglich wäre, Einzelheiten zu verbessern – es ist aber ein unsinniger Aberglaube –, hätte man bestenfalls für künftige Fälle etwas erreicht, sich selbst aber unermeßlich dadurch geschadet, daß man die besondere Aufmerksamkeit der immer rachsüchtigen Beamtenschaft erregt hat. Nur keine Aufmerksamkeit erregen! Sich ruhig verhalten, selbst wenn es einem noch so sehr gegen den Sinn geht! Einzusehen versuchen, daß dieser große Gerichtsorganismus gewissermaßen ewig in der Schwebe bleibt und daß man zwar, wenn man auf seinem Platz selbständig etwas ändert, den Boden unter den Füßen sich wegnimmt und selbst abstürzen kann, während der große Organismus sich selbst für die kleine Störung leicht an einer anderen Stelle – alles ist doch in Verbindung – Ersatz schafft und unverändert bleibt, wenn er nicht etwa, was sogar wahrscheinlich ist, noch geschlossener, noch aufmerksamer, noch strenger, noch böser wird. Man überlasse doch die Arbeit dem Advokaten, statt sie zu stören. Vorwürfe nützen ja nicht viel, besonders wenn man ihre Ursachen in ihrer ganzen Bedeutung nicht begreiflich machen kann, aber gesagt müsse es doch werden, wieviel K. seiner Sache durch das Verhalten gegenüber dem Kanzleidirektor geschadet habe. Dieser einflußreiche Mann sei aus der Liste jener, bei denen man für K. etwas unternehmen könne, schon fast zu streichen. Selbst flüchtige Erwähnungen des Prozesses überhöre er mit deutlicher Absicht. In manchem seien ja die Beamten wie Kinder. Oft können sie durch Harmlosigkeiten, unter die allerdings K.s Verhalten leider nicht gehöre, derartig verletzt werden, daß sie selbst mit guten Freunden zu reden aufhören, sich von ihnen abwenden, wenn sie ihnen begegnen, und ihnen in allem möglichen entgegenarbeiten. Dann aber einmal, überraschenderweise ohne besonderen Grund, lassen sie sich durch einen kleinen Scherz, den man nur deshalb wagt, weil alles aussichtslos scheint, zum Lachen bringen und sind versöhnt. Es sei eben gleichzeitig schwer und leicht, sich mit ihnen zu verhalten, Grundsätze dafür gibt es kaum. Manchmal sei es zum Verwundern, daß ein einziges Durchschnittsleben dafür hinreiche, um so viel zu erfassen, daß man hier mit einigem Erfolg arbeiten könne. Es kommen allerdings trübe Stunden, wie sie ja jeder hat, wo man glaubt, nicht das geringste erzielt zu haben, wo es einem scheint, als hätten nur die von Anfang an für einen guten Ausgang bestimmten Prozesse ein gutes Ende genommen, wie es auch ohne Mithilfe geschehen wäre, während alle anderen verlorengegangen sind, trotz allem Nebenherlaufen, aller Mühe, allen kleinen, scheinbaren Erfolgen, über die man solche Freude hatte. Dann scheint einem allerdings nichts mehr sicher, und man würde auf bestimmte Fragen hin nicht einmal zu leugnen wagen, daß man ihrem Wesen nach gut verlaufende Prozesse gerade durch die Mithilfe auf Abwege gebracht hat. Auch das ist ja eine Art Selbstvertrauen, aber es ist das einzige, das dann übrigbleibt. Solchen Anfällen – es sind natürlich nur Anfälle, nichts weiter – sind Advokaten besonders dann ausgesetzt, wenn ihnen ein Prozeß, den sie weit genug und zufriedenstellend geführt haben, plötzlich aus der Hand genommen wird. Das ist wohl das Ärgste, das einem Advokaten geschehen kann. Nicht etwa durch den Angeklagten wird ihnen der Prozeß entzogen, das geschieht wohl niemals, ein Angeklagter, der einmal einen bestimmten Advokaten genommen hat, muß bei ihm bleiben, geschehe was immer. Wie könnte er sich überhaupt, wenn er einmal Hilfe in Anspruch genommen hat, allein noch erhalten? Das geschieht also nicht, wohl aber geschieht es manchmal, daß der Prozeß eine Richtung nimmt, wo der Advokat nicht mehr mitkommen darf. Der Prozeß und der Angeklagte und alles wird dem Advokaten einfach entzogen; dann können auch die besten Beziehungen zu den Beamten nicht mehr helfen, denn sie selbst wissen nichts. Der Prozeß ist eben in ein Stadium getreten, wo keine Hilfe mehr geleistet werden darf, wo ihn unzugängliche Gerichtshöfe bearbeiten, wo auch der Angeklagte für den Advokaten nicht mehr erreichbar ist. Man kommt dann eines Tages nach Hause und findet auf seinem Tisch alle die vielen Eingaben, die man mit allem Fleiß und mit den schönsten Hoffnungen in dieser Sache gemacht hat, sie sind zurückgestellt worden, da sie in das neue Prozeßstadium nicht übertragen werden dürfen, es sind wertlose Fetzen. Dabei muß der Prozeß noch nicht verloren sein, durchaus nicht, wenigstens liegt kein entscheidender Grund für diese Annahme vor, man weiß bloß nichts mehr von dem Prozeß und wird auch nichts mehr von ihm erfahren. Nun sind ja solche Fälle glücklicherweise Ausnahmen, und selbst wenn K.s Prozeß ein solcher Fall sein sollte, sei er doch vorläufig noch weit von solchem Stadium entfernt. Hier sei aber noch reichliche Gelegenheit für Advokatenarbeit gegeben, und daß sie ausgenützt werde, dessen dürfe K. sicher sein. Die Eingabe sei, wie erwähnt, noch nicht überreicht, das eile aber auch nicht, viel wichtiger seien die einleitenden Besprechungen mit maßgebenden Beamten, und die hätten schon stattgefunden. Mit verschiedenem Erfolg, wie offen zugestanden werden soll. Es sei viel besser, vorläufig Einzelheiten nicht zu verraten, durch die K. nur ungünstig beeinflußt und allzu hoffnungsfreudig oder allzu ängstlich gemacht werden könnte, nur so viel sei gesagt, daß sich einzelne sehr günstig ausgesprochen und sich auch sehr bereitwillig gezeigt haben, während andere sich weniger günstig geäußert, aber doch ihre Mithilfe keineswegs verweigert haben. Das Ergebnis sei also im ganzen sehr erfreulich, nur dürfe man daraus keine besonderen Schlüsse ziehen, da alle Vorverhandlungen ähnlich beginnen und durchaus erst die weitere Entwicklung den Wert dieser Vorverhandlungen zeigt. Jedenfalls sei noch nichts verloren, und wenn es noch gelingen sollte, den Kanzleidirektor trotz allem zu gewinnen – es sei schon verschiedenes zu diesem Zweck eingeleitet –, dann sei das Ganze – wie die Chirurgen sagen – eine reine Wunde, und man könne getrost das Folgende erwarten. In solchen und ähnlichen Reden war der Advokat unerschöpflich. Sie wiederholten sich bei jedem Besuch. Immer gab es Fortschritte, niemals aber konnte die Art dieser Fortschritte mitgeteilt werden. Immerfort wurde an der ersten Eingabe gearbeitet, aber sie wurde nicht fertig, was sich meistens beim nächsten Besuch als großer Vorteil herausstellte, da die letzte Zeit, was man nicht hätte voraussehen können, für die Übergabe sehr ungünstig gewesen wäre. Bemerkte K. manchmal, ganz ermattet von den Reden, daß es doch, selbst unter Berücksichtigung aller Schwierigkeiten, sehr langsam vorwärtsgehe, wurde ihm entgegnet, es gehe gar nicht langsam vorwärts, wohl aber wäre man schon viel weiter, wenn K. sich rechtzeitig an den Advokaten gewendet hätte. Das hatte er aber leider versäumt, und diese Versäumnis werde auch noch weitere Nachteile bringen, nicht nur zeitliche. Die einzige wohltätige Unterbrechung dieser Besuche war Leni, die es immer so einzurichten wußte, daß sie dem Advokaten in Anwesenheit K.s den Tee brachte. Dann stand sie hinter K., sah scheinbar zu, wie der Advokat, mit einer Art Gier tief zur Tasse hinabgebeugt, den Tee eingoß und trank, und ließ im geheimen ihre Hand von K. erfassen. Es herrschte völliges Schweigen. Der Advokat trank. K. drückte Lenis Hand, und Leni wagte es manchmal, K.s Haare sanft zu streicheln. » Du bist noch hier? « fragte der Advokat, nachdem er fertig war. » Ich wollte das Geschirr wegnehmen «, sagte Leni, es gab noch einen letzten Händedruck, der Advokat wischte sich den Mund und begann mit neuer Kraft auf K. einzureden. War es Trost oder Verzweiflung, was der Advokat erreichen wollte? K. wußte es nicht, wohl aber hielt er es für feststehend, daß seine Verteidigung nicht in guten Händen war. Es mochte ja alles richtig sein, was der Advokat erzählte, wenn es auch durchsichtig war, daß er sich möglichst in den Vordergrund stellen wollte und wahrscheinlich noch niemals einen so großen Prozeß geführt hatte, wie es K.s Prozeß seiner Meinung nach war. Verdächtig aber blieben die unaufhörlich hervorgehobenen persönlichen Beziehungen zu den Beamten. Mußten sie denn ausschließlich zu K.s Nutzen ausgebeutet werden? Der Advokat vergaß nie zu bemerken, daß es sich nur um niedrige Beamte handelte, also um Beamte in sehr abhängiger Stellung, für deren Fortkommen gewisse Wendungen der Prozesse wahrscheinlich von Bedeutung sein konnten. Benützten sie vielleicht den Advokaten dazu, um solche für den Angeklagten natürlich immer ungünstige Wendungen zu erzielen? Vielleicht taten sie das nicht in jedem Prozeß, gewiß, das war nicht wahrscheinlich, es gab dann wohl wieder Prozesse, in deren Verlauf sie dem Advokaten für seine Dienste Vorteile einräumten, denn es mußte ihnen ja auch daran gelegen sein, seinen Ruf ungeschädigt zu erhalten. Verhielt es sich aber wirklich so, in welcher Weise würden sie bei K.s Prozeß eingreifen, der, wie der Advokat erklärte, ein sehr schwieriger, also wichtiger Prozeß war und gleich anfangs bei Gericht große Aufmerksamkeit erregt hatte? Es konnte nicht sehr zweifelhaft sein, was sie tun würden. Anzeichen dessen konnte man ja schon darin sehen, daß die erste Eingabe noch immer nicht überreicht war, obwohl der Prozeß schon Monate dauerte und daß sich alles, den Angaben des Advokaten nach, in den Anfängen befand, was natürlich sehr geeignet war, den Angeklagten einzuschläfern und hilflos zu erhalten, um ihn dann plötzlich mit der Entscheidung zu überfallen oder wenigstens mit der Bekanntmachung, daß die zu seinen Ungunsten abgeschlossene Untersuchung an die höheren Behörden weitergegeben werde. Es war unbedingt nötig, daß K. selbst eingriff. Gerade in Zuständen großer Müdigkeit, wie an diesem Wintervormittag, wo ihm alles willenlos durch den Kopf zog, war diese Überzeugung unabweisbar. Die Verachtung, die er früher für den Prozeß gehabt hatte, galt nicht mehr. Wäre er allein in der Welt gewesen, hätte er den Prozeß leicht mißachten können, wenn es allerdings auch sicher war, daß dann der Prozeß überhaupt nicht entstanden wäre. Jetzt aber hatte ihn der Onkel schon zum Advokaten gezogen, Familienrücksichten sprachen mit; seine Stellung war nicht mehr vollständig unabhängig von dem Verlauf des Prozesses, er selbst hatte unvorsichtigerweise mit einer gewissen unerklärlichen Genugtuung vor Bekannten den Prozeß erwähnt, andere hatten auf unbekannte Weise davon erfahren, das Verhältnis zu Fräulein Bürstner schien entsprechend dem Prozeß zu schwanken – kurz, er hatte kaum mehr die Wahl, den Prozeß anzunehmen oder abzulehnen, er stand mitten darin und mußte sich wehren. War er müde, dann war es schlimm. Zu übertriebener Sorge war allerdings vorläufig kein Grund. Er hatte es verstanden, sich in der Bank in verhältnismäßig kurzer Zeit zu seiner hohen Stellung emporzuarbeiten und sich, von allen anerkannt, in dieser Stellung zu erhalten, er mußte jetzt nur diese Fähigkeiten, die ihm das ermöglicht hatten, ein wenig dem Prozeß zuwenden, und es war kein Zweifel, daß es gut ausgehen müßte. Vor allem war es, wenn etwas erreicht werden sollte, notwendig, jeden Gedanken an eine mögliche Schuld von vornherein abzulehnen. Es gab keine Schuld. Der Prozeß war nichts anderes als ein großes Geschäft, wie er es schon oft mit Vorteil für die Bank abgeschlossen hatte, ein Geschäft, innerhalb dessen, wie das die Regel war, verschiedene Gefahren lauerten, die eben abgewehrt werden mußten. Zu diesem Zwecke durfte man allerdings nicht mit Gedanken an irgendeine Schuld spielen, sondern den Gedanken an den eigenen Vorteil möglichst festhalten. Von diesem Gesichtspunkt aus war es auch unvermeidlich, dem Advokaten die Vertretung sehr bald, am besten noch an diesem Abend, zu entziehen. Es war zwar nach seinen Erzählungen etwas Unerhörtes und wahrscheinlich sehr Beleidigendes, aber K. konnte nicht dulden, daß seinen Anstrengungen in dem Prozeß Hindernisse begegneten, die vielleicht von seinem eigenen Advokaten veranlaßt waren. War aber einmal der Advokat abgeschüttelt, dann mußte die Eingabe sofort überreicht und womöglich jeden Tag darauf gedrängt werden, daß man sie berücksichtige. Zu diesem Zwecke würde es natürlich nicht genügen, daß K. wie die anderen im Gang saß und den Hut unter die Bank stellte. Er selbst oder die Frauen oder andere Boten mußten Tag für Tag die Beamten überlaufen und sie zwingen, statt durch das Gitter auf den Gang zu schauen, sich zu ihrem Tisch zu setzen und K.s Eingabe zu studieren. Von diesen Anstrengungen dürfte man nicht ablassen, alles müßte organisiert und überwacht werden, das Gericht sollte einmal auf einen Angeklagten stoßen, der sein Recht zu wahren verstand. Wenn sich aber auch K. dies alles durchzuführen getraute, die Schwierigkeit der Abfassung der Eingabe war überwältigend. Früher, etwa noch vor einer Woche, hatte er nur mit einem Gefühl der Scham daran denken können, daß er einmal genötigt sein könnte, eine solche Eingabe selbst zu machen; daß dies auch schwierig sein konnte, daran hatte er gar nicht gedacht. Er erinnerte sich, wie er einmal an einem Vormittag, als er gerade mit Arbeit überhäuft war, plötzlich alles zur Seite geschoben und den Schreibblock vorgenommen hatte, um versuchsweise den Gedankengang einer derartigen Eingabe zu entwerfen und ihn vielleicht dem schwerfälligen Advokaten zur Verfügung zu stellen, und wie gerade in diesem Augenblick die Tür des Direktionszimmers sich öffnete und der Direktor - Stellvertreter mit großem Gelächter eintrat. Es war für K. damals sehr peinlich gewesen, obwohl der Direktor - Stellvertreter natürlich nicht über die Eingabe gelacht hatte, von der er nichts wußte, sondern über einen Börsenwitz, den er eben gehört hatte, einen Witz, der zum Verständnis eine Zeichnung erforderte, die nun der Direktor - Stellvertreter, über K.s Tisch gebeugt, mit K.s Bleistift, den er ihm aus der Hand nahm, auf dem Schreibblock ausführte, der für die Eingabe bestimmt gewesen war. Heute wußte K. nichts mehr von Scham, die Eingabe mußte gemacht werden. Wenn er im Büro keine Zeit für sie fand, was sehr wahrscheinlich war, dann mußte er sie zu Hause in den Nächten machen. Würden auch die Nächte nicht genügen, dann mußte er einen Urlaub nehmen. Nur nicht auf halbem Wege stehenbleiben, das war nicht nur in Geschäften, sondern immer und überall das Unsinnigste. Die Eingabe bedeutete freilich eine fast endlose Arbeit. Man mußte keinen sehr ängstlichen Charakter haben und konnte doch leicht zu dem Glauben kommen, daß es unmöglich war, die Eingabe jemals fertigzustellen. Nicht aus Faulheit oder Hinterlist, die den Advokaten allein an der Fertigstellung hindern konnten, sondern weil in Unkenntnis der vorhandenen Anklage und gar ihrer möglichen Erweiterungen das ganze Leben in den kleinsten Handlungen und Ereignissen in die Erinnerung zurückgebracht, dargestellt und von allen Seiten überprüft werden mußte. Und wie traurig war eine solche Arbeit überdies. Sie war vielleicht geeignet, einmal nach der Pensionierung den kindisch gewordenen Geist zu beschäftigen und ihm zu helfen, die langen Tage hinzubringen. Aber jetzt, wo K. alle Gedanken zu seiner Arbeit brauchte, wo jede Stunde, da er noch im Aufstieg war und schon für den Direktor - Stellvertreter eine Drohung bedeutete, mit größter Schnelligkeit verging und wo er die kurzen Abende und Nächte als junger Mensch genießen wollte, jetzt sollte er mit der Verfassung dieser Eingabe beginnen. Wieder ging sein Denken in Klagen aus. Fast unwillkürlich, nur um dem ein Ende zu machen, tastete er mit dem Finger nach dem Knopf der elektrischen Glocke, die ins Vorzimmer führte. Während er ihn niederdrückte, blickte er zur Uhr auf. Es war elf Uhr, zwei Stunden, eine lange, kostbare Zeit, hatte er verträumt und war natürlich noch matter als vorher. Immerhin war die Zeit nicht verloren, er hatte Entschlüsse gefaßt, die wertvoll sein konnten. Die Diener brachten außer verschiedener Post zwei Visitenkarten von Herren, die schon längere Zeit auf K. warteten. Es waren gerade sehr wichtige Kundschaften der Bank, die man eigentlich auf keinen Fall hätte warten lassen sollen. Warum kamen sie zu so ungelegener Zeit, und warum, so schienen wieder die Herren hinter der geschlossenen Tür zu fragen, verwendete der fleißige K. für Privatangelegenheiten die beste Geschäftszeit? Müde von dem Vorhergegangenen und müde das Folgende erwartend, stand K. auf, um den ersten zu empfangen. Es war ein kleiner, munterer Herr, ein Fabrikant, den K. gut kannte. Er bedauerte, K. in wichtiger Arbeit gestört zu haben, und K. bedauerte seinerseits, daß er den Fabrikanten so lange hatte warten lassen. Schon dieses Bedauern aber sprach er in derartig mechanischer Weise und mit fast falscher Betonung aus, daß der Fabrikant, wenn er nicht ganz von der Geschäftssache eingenommen gewesen wäre, es hätte bemerken müssen. Statt dessen zog er eilig Rechnungen und Tabellen aus allen Taschen, breitete sie vor K. aus, erklärte verschiedene Posten, verbesserte einen kleinen Rechenfehler, der ihm sogar bei diesem flüchtigen Überblick aufgefallen war, erinnerte K. an ein ähnliches Geschäft, das er mit ihm vor etwa einem Jahr abgeschlossen hatte, erwähnte nebenbei, daß sich diesmal eine andere Bank unter größten Opfern um das Geschäft bewerbe, und verstummte schließlich, um nun K.s Meinung zu erfahren. K. hatte auch tatsächlich im Anfang die Rede des Fabrikanten gut verfolgt, der Gedanke an das wichtige Geschäft hatte dann auch ihn ergriffen, nur leider nicht für die Dauer, er war bald vom Zuhören abgekommen, hatte dann noch ein Weilchen zu den lauteren Ausrufen des Fabrikanten mit dem Kopf genickt, hatte aber schließlich auch das unterlassen und sich darauf eingeschränkt, den kahlen, auf die Papiere hinabgebeugten Kopf anzusehen und sich zu fragen, wann der Fabrikant endlich erkennen werde, daß seine ganze Rede nutzlos sei. Als er nun verstummte, glaubte K. zuerst wirklich, es geschehe dies deshalb, um ihm Gelegenheit zu dem Eingeständnis zu geben, daß er nicht fähig sei, zuzuhören. Nur mit Bedauern merkte er aber an dem gespannten Blick des offenbar auf alle Entgegnungen gefaßten Fabrikanten, daß die geschäftliche Besprechung fortgesetzt werden müsse. Er neigte also den Kopf wie vor einem Befehl und begann mit dem Bleistift langsam über den Papieren hin - und herzufahren, hier und da hielt er inne und starrte eine Ziffer an. Der Fabrikant vermutete Einwände, vielleicht waren die Ziffern wirklich nicht feststehend, vielleicht waren sie nicht das Entscheidende, jedenfalls bedeckte der Fabrikant die Papiere mit der Hand und begann von neuem, ganz nahe an K. heranrückend, eine allgemeine Darstellung des Geschäftes. » Es ist schwierig «, sagte K., rümpfte die Lippen und sank, da die Papiere, das einzig Faßbare, verdeckt waren, haltlos gegen die Seitenlehne. Er blickte sogar nur schwach auf, als sich die Tür des Direktionszimmers öffnete und dort, nicht ganz deutlich, etwa wie hinter einem Gazeschleier, der Direktor - Stellvertreter erschien. K. dachte nicht weiter darüber nach, sondern verfolgte nur die unmittelbare Wirkung, die für ihn sehr erfreulich war. Denn sofort hüpfte der Fabrikant vom Sessel auf und eilte dem Direktor - Stellvertreter entgegen, K. aber hätte ihn noch zehnmal flinker machen wollen, denn er fürchtete, der Direktor - Stellvertreter könnte wieder verschwinden. Es war unnütze Furcht, die Herren trafen einander, reichten einander die Hände und gingen gemeinsam auf K.s Schreibtisch zu. Der Fabrikant beklagte sich, daß er beim Prokuristen so wenig Neigung für das Geschäft gefunden habe, und zeigte auf K., der sich unter dem Blick des Direktor - Stellvertreters wieder über die Papiere beugte. Als dann die beiden sich an den Schreibtisch lehnten und der Fabrikant sich daran machte, nun den Direktor - Stellvertreter für sich zu erobern, war es K., als werde über seinem Kopf von zwei Männern, deren Größe er sich übertrieben vorstellte, über ihn selbst verhandelt. Langsam suchte er mit vorsichtig aufwärts gedrehten Augen zu erfahren, was sich oben ereignete, nahm vom Schreibtisch, ohne hinzusehen, eines der Papiere, legte es auf die flache Hand und hob es allmählich, während er selbst aufstand, zu den Herren hinauf. Er dachte hierbei an nichts Bestimmtes, sondern handelte nur in dem Gefühl, daß er sich so verhalten müßte, wenn er einmal die große Eingabe fertiggestellt hätte, die ihn gänzlich entlasten sollte. Der Direktor - Stellvertreter, der sich an dem Gespräch mit aller Aufmerksamkeit beteiligte, sah nur flüchtig auf das Papier, überlas gar nicht, was dort stand, denn was dem Prokuristen wichtig war, war ihm unwichtig, nahm es aus K.s Hand, sagte: » Danke, ich weiß schon alles « und legte es ruhig wieder auf den Tisch zurück. K. sah ihn verbittert von der Seite an. Der Direktor - Stellvertreter aber merkte es gar nicht oder wurde, wenn er es merkte, dadurch nur aufgemuntert, lachte öfters laut auf, brachte einmal durch eine schlagfertige Entgegnung den Fabrikanten in deutliche Verlegenheit, aus der er ihn aber sofort riß, indem er sich selbst einen Einwand machte, und lud ihn schließlich ein, in sein Büro hinüberzukommen, wo sie die Angelegenheit zu Ende führen könnten. » Es ist eine sehr wichtige Sache «, sagte er zu dem Fabrikanten, » ich sehe das vollständig ein. Und dem Herrn Prokuristen « – selbst bei dieser Bemerkung redete er eigentlich nur zum Fabrikanten – » wird es gewiß lieb sein, wenn wir es ihm abnehmen. Die Sache verlangt ruhige Überlegung. Er aber scheint heute sehr überlastet zu sein, auch warten ja einige Leute im Vorzimmer schon stundenlang auf ihn. « K. hatte gerade noch genügend Fassung, sich vom Direktor - Stellvertreter wegzudrehen und sein freundliches, aber starres Lächeln nur dem Fabrikanten zuzuwenden, sonst griff er gar nicht ein, stützte sich, ein wenig vorgebeugt, mit beiden Händen auf den Schreibtisch wie ein Kommis hinter dem Pult und sah zu, wie die zwei Herren unter weiteren Reden die Papiere vom Tisch nahmen und im Direktionszimmer verschwanden. In der Tür drehte sich noch der Fabrikant um, sagte, er verabschiede sich noch nicht, sondern werde natürlich dem Herrn Prokuristen über den Erfolg der Besprechung berichten, auch habe er ihm noch eine andere kleine Mitteilung zu machen. Endlich war K. allein. Er dachte gar nicht daran, irgendeine andere Partei vorzulassen, und nur undeutlich kam ihm zu Bewußtsein, wie angenehm es sei, daß die Leute draußen in dem Glauben waren, er verhandle noch mit dem Fabrikanten und es könne aus diesem Grunde niemand, nicht einmal der Diener, bei ihm eintreten. Er ging zum Fenster, setzte sich auf die Brüstung, hielt sich mit der Hand an der Klinke fest und sah auf den Platz hinaus. Der Schnee fiel noch immer, es hatte sich noch gar nicht aufgehellt. Lange saß er so, ohne zu wissen, was ihm eigentlich Sorgen machte, nur von Zeit zu Zeit blickte er ein wenig erschreckt über die Schulter hinweg zur Vorzimmertür, wo er irrtümlicherweise ein Geräusch zu hören geglaubt hatte. Da aber niemand kam, wurde er ruhiger, ging zum Waschtisch, wusch sich mit kaltem Wasser und kehrte mit freierem Kopf zu seinem Fensterplatz zurück. Der Entschluß, seine Verteidigung selbst in die Hand zu nehmen, stellte sich ihm schwerwiegender dar, als er ursprünglich angenommen hatte. Solange er die Verteidigung auf den Advokaten überwälzt hatte, war er doch noch vom Prozeß im Grunde wenig betroffen gewesen, er hatte ihn von der Ferne beobachtet und hatte unmittelbar von ihm kaum erreicht werden können, er hatte nachsehen können, wann er wollte, wie seine Sache stand, aber er hatte auch den Kopf wieder zurückziehen können, wann er wollte. Jetzt hingegen, wenn er seine Verteidigung selbst führen würde, mußte er sich – wenigstens für den Augenblick – ganz und gar dem Gericht aussetzen, der Erfolg dessen sollte ja für später seine vollständige und endgültige Befreiung sein, aber um diese zu erreichen, mußte er sich vorläufig jedenfalls in viel größere Gefahr begeben als bisher. Hätte er daran zweifeln wollen, so hätte ihn das heutige Beisammensein mit dem Direktor - Stellvertreter und dem Fabrikanten hinreichend vom Gegenteil überzeugen können. Wie war er doch dagesessen, schon vom bloßen Entschluß, sich selbst zu verteidigen, gänzlich benommen? Wie sollte es aber später werden? Was für Tage standen ihm bevor! Würde er den Weg finden, der durch alles hindurch zum guten Ende führte? Bedeutete nicht eine sorgfältige Verteidigung – und alles andere war sinnlos –, bedeutete nicht eine sorgfältige Verteidigung gleichzeitig die Notwendigkeit, sich von allem anderen möglichst abzuschließen? Würde er das glücklich überstehen? Und wie sollte ihm die Durchführung dessen in der Bank gelingen? Es handelte sich ja nicht nur um die Eingabe, für die ein Urlaub vielleicht genügt hätte, obwohl die Bitte um einen Urlaub gerade jetzt ein großes Wagnis gewesen wäre, es handelte sich doch um einen ganzen Prozeß, dessen Dauer unabsehbar war. Was für ein Hindernis war plötzlich in K.s Laufbahn geworfen worden! Und jetzt sollte er für die Bank arbeiten? – Er sah auf den Schreibtisch hin. – Jetzt sollte er Parteien vorlassen und mit ihnen verhandeln? Während sein Prozeß weiterrollte, während oben auf dem Dachboden die Gerichtsbeamten über den Schriften dieses Prozesses saßen, sollte er die Geschäfte der Bank besorgen? Sah es nicht aus wie eine Folter, die, vom Gericht anerkannt, mit dem Prozeß zusammenhing und ihn begleitete? Und würde man etwa in der Bank bei der Beurteilung seiner Arbeit seine besondere Lage berücksichtigen? Niemand und niemals. Ganz unbekannt war ja sein Prozeß nicht, wenn es auch noch nicht ganz klar war, wer davon wußte und wieviel. Bis zum Direktor - Stellvertreter aber war das Gerücht hoffentlich noch nicht gedrungen, sonst hätte man schon deutlich sehen müssen, wie er es ohne jede Kollegialität und Menschlichkeit gegen K. ausnützen würde. Und der Direktor? Gewiß, er war K. gut gesinnt, und er hätte wahrscheinlich, sobald er vom Prozeß erfahren hätte, soweit es an ihm lag, manche Erleichterungen für K. schaffen wollen, aber er wäre damit gewiß nicht durchgedrungen, denn er unterlag jetzt, da das Gegengewicht, das K. bisher gebildet hatte, schwächer zu werden anfing, immer mehr dem Einfluß des Direktor - Stellvertreters, der außerdem auch den leidenden Zustand des Direktors zur Stärkung der eigenen Macht ausnützte. Was hatte also K. zu erhoffen? Vielleicht schwächte er durch solche Überlegungen seine Widerstandskraft, aber es war doch auch notwendig, sich selbst nicht zu täuschen und alles so klar zu sehen, als es augenblicklich möglich war. Ohne besonderen Grund, nur um vorläufig noch nicht zum Schreibtisch zurückkehren zu müssen, öffnete er das Fenster. Es ließ sich nur schwer öffnen, er mußte mit beiden Händen die Klinke drehen. Dann zog durch das Fenster in dessen ganzer Breite und Höhe der mit Rauch vermischte Nebel in das Zimmer und füllte es mit einem leichten Brandgeruch. Auch einige Schneeflocken wurden hereingeweht. » Ein häßlicher Herbst «, sagte hinter K. der Fabrikant, der vom Direktor - Stellvertreter kommend unbemerkt ins Zimmer getreten war. K. nickte und sah unruhig auf die Aktentasche des Fabrikanten, aus der dieser nun wohl die Papiere herausziehen würde, um K. das Ergebnis der Verhandlungen mit dem Direktor - Stellvertreter mitzuteilen. Der Fabrikant aber folgte K.s Blick, klopfte auf seine Tasche und sagte, ohne sie zu öffnen: » Sie wollen hören, wie es ausgefallen ist. Ich trage schon fast den Geschäftsabschluß in der Tasche. Ein reizender Mensch, Ihr Direktor - Stellvertreter, aber durchaus nicht ungefährlich. « Er lachte, schüttelte K.s Hand und wollte auch ihn zum Lachen bringen. Aber K. schien es nun wieder verdächtig, daß ihm der Fabrikant die Papier nicht zeigen wollte, und er fand an der Bemerkung des Fabrikanten nichts zum Lachen. » Herr Prokurist «, sagte der Fabrikant, » Sie leiden wohl unter dem Wetter? Sie sehen heute so bedrückt aus. « » Ja «, sagte K. und griff mit der Hand an die Schläfe, » Kopfschmerzen, Familiensorgen. « » Sehr richtig «, sagte der Fabrikant, der ein eiliger Mensch war und niemanden ruhig anhören konnte, » jeder hat sein Kreuz zu tragen. « Unwillkürlich hatte K. einen Schritt gegen die Tür gemacht, als wolle er den Fabrikanten hinausbegleiten, dieser aber sagte: » Ich hätte, Herr Prokurist, noch eine kleine Mitteilung für Sie. Ich fürchte sehr, daß ich Sie gerade heute damit vielleicht belästige, aber ich war schon zweimal in der letzten Zeit bei Ihnen und habe es jedesmal vergessen. Schiebe ich es aber noch weiterhin auf, verliert es wahrscheinlich vollständig seinen Zweck. Das wäre aber schade, denn im Grunde ist meine Mitteilung vielleicht doch nicht wertlos. « Ehe K. Zeit hatte zu antworten, trat der Fabrikant nahe an ihn heran, klopfte mit dem Fingerknöchel leicht an seine Brust und sagte leise: » Sie haben einen Prozeß, nicht wahr? « K. trat zurück und rief sofort: » Das hat Ihnen der Direktor - Stellvertreter gesagt! « » Ach nein «, sagte der Fabrikant, » woher sollte denn der Direktor - Stellvertreter es wissen? « » Und Sie? « fragte K. schon viel gefaßter. » Ich erfahre hie und da etwas von dem Gericht «, sagte der Fabrikant, » das betrifft eben die Mitteilung, die ich Ihnen machen wollte. « » So viel Leute sind mit dem Gericht in Verbindung! « sagte K. mit gesenktem Kopf und führte den Fabrikanten zum Schreibtisch. Sie setzten sich wieder wie früher und der Fabrikant sagte: » Es ist leider nicht sehr viel, was ich Ihnen mitteilen kann. Aber in solchen Dingen soll man nicht das geringste vernachlässigen. Außerdem drängt es mich aber, Ihnen irgendwie zu helfen, und sei meine Hilfe noch so bescheiden. Wir waren doch bisher gute Geschäftsfreunde, nicht? Nun also. « K. wollte sich wegen seines Verhaltens bei der heutigen Besprechung entschuldigen, aber der Fabrikant duldete keine Unterbrechung, schob die Aktentasche hoch unter die Achsel, um zu zeigen, daß er Eile habe, und fuhr fort: » Von Ihrem Prozeß weiß ich durch einen gewissen Titorelli. Es ist ein Maler, Titorelli ist nur sein Künstlername, seinen wirklichen Namen kenne ich gar nicht einmal. Er kommt schon seit Jahren von Zeit zu Zeit in mein Büro und bringt kleine Bilder mit, für die ich ihm – er ist fast ein Bettler – immer eine Art Almosen gebe. Es sind übrigens hübsche Bilder, Heidelandschaften und dergleichen. Diese Verkäufe – wir hatten uns schon beide daran gewöhnt – gingen ganz glatt vor sich. Einmal aber wiederholten sich diese Besuche doch zu oft, ich machte ihm Vorwürfe, wir kamen ins Gespräch, es interessierte mich, wie er sich allein durch Malen erhalten könne, und ich erfuhr nun zu meinem Staunen, daß seine Haupteinnahmequelle das Porträtmalen sei. › Er arbeite für das Gericht ‹, sagte er. › Für welches Gericht ‹? fragte ich. Und nun erzählte er mir von dem Gericht. Sie werden sich wohl am besten vorstellen können, wie erstaunt ich über diese Erzählungen war. Seitdem höre ich bei jedem seiner Besuche irgendwelche Neuigkeiten vom Gericht und bekomme so allmählich einen gewissen Einblick in die Sache. Allerdings ist Titorelli geschwätzig, und ich muß ihn oft abwehren, nicht nur, weil er gewiß auch lügt, sondern vor allem, weil ein Geschäftsmann wie ich, der unter den eigenen Geschäftssorgen fast zusammenbricht, sich nicht noch viel um fremde Dinge kümmern kann. Aber das nur nebenbei. Vielleicht – so dachte ich jetzt – kann Ihnen Titorelli ein wenig behilflich sein, er kennt viele Richter, und wenn er selbst auch keinen großen Einfluß haben sollte, so kann er Ihnen doch Ratschläge geben, wie man verschiedenen einflußreichen Leuten beikommen kann. Und wenn auch diese Ratschläge an und für sich nicht entscheidend sein sollten, so werden sie doch, meiner Meinung nach, in Ihrem Besitz von großer Bedeutung sein. Sie sind ja fast ein Advokat. Ich pflege immer zu sagen: Prokurist K. ist fast ein Advokat. Oh, ich habe keine Sorgen wegen Ihres Prozesses. Wollen Sie nun aber zu Titorelli gehen? Auf meine Empfehlung hin wird er gewiß alles tun, was ihm möglich ist. Ich denke wirklich, Sie sollten hingehen. Es muß natürlich nicht heute sein, einmal, gelegentlich. Allerdings sind Sie – das will ich noch sagen – dadurch, daß ich Ihnen diesen Rat gebe, nicht im geringsten verpflichtet, auch wirklich zu Titorelli hinzugehen. Nein, wenn Sie Titorelli entbehren zu können glauben, ist es gewiß besser, ihn ganz beiseite zu lassen. Vielleicht haben Sie schon einen ganz genauen Plan, und Titorelli könnte ihn stören. Nein, dann gehen Sie natürlich auf keinen Fall hin! Es kostet gewiß auch Überwindung, sich von einem solchen Burschen Ratschläge geben zu lassen. Nun, wie Sie wollen. Hier ist das Empfehlungsschreiben und hier die Adresse. « Enttäuscht nahm K. den Brief und steckte ihn in die Tasche. Selbst im günstigsten Falle war der Vorteil, den ihm die Empfehlung bringen konnte, unverhältnismäßig kleiner als der Schaden, der darin lag, daß der Fabrikant von seinem Prozeß wußte und daß der Maler die Nachricht weiterverbreitete. Er konnte sich kaum dazu zwingen, dem Fabrikanten, der schon auf dem Weg zur Tür war, mit ein paar Worten zu danken. » Ich werde hingehen «, sagte er, als er sich bei der Tür vom Fabrikanten verabschiedete, » oder ihm, da ich jetzt sehr beschäftigt bin, schreiben, er möge einmal zu mir ins Büro kommen. « » Ich wußte ja «, sagte der Fabrikant, » daß Sie den besten Ausweg finden würden. Allerdings dachte ich, daß Sie es lieber vermeiden wollen, Leute wie diesen Titorelli in die Bank einzuladen, um mit ihm hier über den Prozeß zu sprechen. Es ist auch nicht immer vorteilhaft, Briefe an solche Leute aus der Hand zu geben. Aber Sie haben gewiß alles durchgedacht und wissen, was Sie tun dürfen. « K. nickte und begleitete den Fabrikanten noch durch das Vorzimmer. Aber trotz äußerlicher Ruhe war er über sich sehr erschrocken; daß er Titorelli schreiben würde, hatte er eigentlich nur gesagt, um dem Fabrikanten irgendwie zu zeigen, daß er die Empfehlung zu schätzen wisse und die Möglichkeiten, mit Titorelli zusammenzukommen, sofort überlege, aber wenn er Titorellis Beistand für wertvoll angesehen hätte, hätte er auch nicht gezögert, ihm wirklich zu schreiben. Die Gefahren aber, die das zur Folge haben könnte, hatte er erst durch die Bemerkung des Fabrikanten erkannt. Konnte er sich auf seinen eigenen Verstand tatsächlich schon so wenig verlassen? Wenn es möglich war, daß er einen fragwürdigen Menschen durch einen deutlichen Brief in die Bank einlud, um von ihm, nur durch eine Tür vom Direktor - Stellvertreter getrennt, Ratschläge wegen seines Prozesses zu erbitten, war es dann nicht möglich und sogar sehr wahrscheinlich, daß er auch andere Gefahren übersah oder in sie hineinrannte? Nicht immer stand jemand neben ihm, um ihn zu warnen. Und gerade jetzt, wo er mit gesammelten Kräften auftreten sollte, mußten derartige, ihm bisher fremde Zweifel an seiner eigenen Wachsamkeit auftreten! Sollten die Schwierigkeiten, die er bei Ausführung seiner Büroarbeit fühlte, nun auch im Prozeß beginnen? Jetzt allerdings begriff er es gar nicht mehr, wie es möglich gewesen war, daß er an Titorelli hatte schreiben und ihn in die Bank einladen wollen. Er schüttelte noch den Kopf darüber, als der Diener an seine Seite trat und ihn auf drei Herren aufmerksam machte, die hier im Vorzimmer auf einer Bank saßen. Sie warteten schon lange darauf, zu K. vorgelassen zu werden. Jetzt, da der Diener mit K. sprach, waren sie aufgestanden, und jeder wollte eine günstige Gelegenheit ausnützen, um sich vor den anderen an K. heranzumachen. Da man von seiten der Bank so rücksichtslos war, sie hier im Wartezimmer ihre Zeit verlieren zu lassen, wollten auch sie keine Rücksicht mehr üben. » Herr Prokurist «, sagte schon der eine. Aber K. hatte sich vom Diener den Winterrock bringen lassen und sagte, während er ihn mit Hilfe des Dieners anzog, allen dreien: » Verzeihen Sie, meine Herren, ich habe augenblicklich leider keine Zeit, Sie zu empfangen. Ich bitte Sie sehr um Verzeihung, aber ich habe einen dringenden Geschäftsgang zu erledigen und muß sofort weggehen. Sie haben ja selbst gesehen, wie lange ich jetzt aufgehalten wurde. Wären Sie so freundlich, morgen oder wann immer wiederzukommen? Oder wollen wir die Sachen vielleicht telephonisch besprechen? Oder wollen Sie mir vielleicht jetzt kurz sagen, worum es sich handelt, und ich gebe Ihnen dann eine ausführliche schriftliche Antwort. Am besten wäre es allerdings, Sie kämen nächstens. « Diese Vorschläge K.s brachten die Herren, die nun vollständig nutzlos gewartet haben sollten, in solches Staunen, daß sie einander stumm ansahen. » Wir sind also einig? « fragte K., der sich nach dem Diener umgewendet hatte, der ihm nun auch den Hut brachte. Durch die offene Tür von K.s Zimmer sah man, wie sich draußen der Schneefall sehr verstärkt hatte. K. schlug daher den Mantelkragen in die Höhe und knöpfte ihn hoch unter dem Halse zu. Da trat gerade aus dem Nebenzimmer der Direktor - Stellvertreter, sah lächelnd K. im Winterrock mit den Herren verhandeln und fragte: » Sie gehen jetzt weg, Herr Prokurist? « » Ja «, sagte K. und richtete sich auf, » ich habe einen Geschäftsgang zu machen. « Aber der Direktor - Stellvertreter hatte sich schon den Herren zugewendet. » Und die Herren? « fragte er. » Ich glaube, sie warten schon lange. « » Wir haben uns schon geeinigt «, sagte K. Aber nun ließen sich die Herren nicht mehr halten, umringten K. und erklärten, daß sie nicht stundenlang gewartet hätten, wenn ihre Angelegenheiten nicht wichtig wären und nicht jetzt, und zwar ausführlich und unter vier Augen, besprochen werden müßten. Der Direktor - Stellvertreter hörte ihnen ein Weilchen zu, betrachtete auch K., der den Hut in der Hand hielt und ihn stellenweise von Staub reinigte, und sagte dann: » Meine Herren, es gibt ja einen sehr einfachen Ausweg. Wenn Sie mit mir vorlieb nehmen wollen, übernehme ich sehr gerne die Verhandlungen statt des Herren Prokuristen. Ihre Angelegenheiten müssen natürlich sofort besprochen werden. Wir sind Geschäftsleute wie Sie und wissen die Zeit von Geschäftsleuten richtig zu bewerten. Wollen Sie hier eintreten? « Und er öffnete die Tür, die zu dem Vorzimmer seines Büros führte. Wie sich doch der Direktor - Stellvertreter alles anzueignen verstand, was K. jetzt notgedrungen aufgeben mußte! Gab aber K. nicht mehr auf, als unbedingt nötig war? Während er mit unbestimmten und, wie er sich eingestehen mußte, sehr geringen Hoffnungen zu einem unbekannten Maler lief, erlitt hier sein Ansehen eine unheilbare Schädigung. Es wäre wahrscheinlich viel besser gewesen, den Winterrock wieder auszuziehen und wenigstens die zwei Herren, die ja nebenan doch noch warten mußten, für sich zurückzugewinnen. K. hätte es vielleicht auch versucht, wenn er nicht jetzt in seinem Zimmer den Direktor - Stellvertreter erblickt hätte, wie er im Bücherständer, als wäre es sein eigener, etwas suchte. Als K. sich erregt der Tür näherte, rief er: » Ach, Sie sind noch nicht weggegangen! « Er wandte ihm sein Gesicht zu, dessen viele straffe Falten nicht Alter, sondern Kraft zu beweisen schienen, und fing sofort wieder zu suchen an. » Ich suche eine Vertragsabschrift «, sagte er, » die sich, wie der Vertreter der Firma behauptet, bei Ihnen befinden soll. Wollen Sie mir nicht suchen helfen? « K. machte einen Schritt, aber der Direktor - Stellvertreter sagte: » Danke, ich habe es schon gefunden «, und kehrte mit einem großen Paket Schriften, das nicht nur die Vertragsabschrift, sondern gewiß noch vieles andere enthielt, wieder in sein Zimmer zurück. » Jetzt bin ich ihm nicht gewachsen «, sagte sich K., » wenn aber meine persönlichen Schwierigkeiten einmal beseitigt sein werden, dann soll er wahrhaftig der erste sein, der es zu fühlen bekommt, und zwar möglichst bitter. « Durch diesen Gedanken ein wenig beruhigt, gab K. dem Diener, der schon lange die Tür zum Korridor für ihn offenhielt, den Auftrag, dem Direktor gelegentlich die Meldung zu machen, daß er sich auf einem Geschäftsgang befinde, und verließ, fast glücklich darüber, sich eine Zeitlang vollständiger seiner Sache widmen zu können, die Bank. Er fuhr sofort zum Maler, der in einer Vorstadt wohnte, die jener, in welcher sich die Gerichtskanzleien befanden, vollständig entgegengesetzt war. Es war eine noch ärmere Gegend, die Häuser noch dunkler, die Gassen voll Schmutz, der auf dem zerflossenen Schnee langsam umhertrieb. Im Hause, in dem der Maler wohnte, war nur ein Flügel des großen Tores geöffnet, in den anderen aber war unten in der Mauer eine Lücke gebrochen, aus der gerade, als sich K. näherte, eine widerliche, gelbe, rauchende Flüssigkeit herausschoß, vor der sich einige Ratten in den nahen Kanal flüchteten. Unten an der Treppe lag ein kleines Kind bäuchlings auf der Erde und weinte, aber man hörte es kaum infolge des alles übertönenden Lärms, der aus einer Klempnerwerkstätte auf der anderen Seite des Torganges kam. Die Tür der Werkstätte war offen, drei Gehilfen standen im Halbkreis um irgendein Werkstück, auf das sie mit den Hämmern schlugen. Eine große Platte Weißblech, die an der Wand hing, warf ein bleiches Licht, das zwischen zwei Gehilfen eindrang und die Gesichter und Arbeitsschürzen erhellte. K. hatte für alles nur einen flüchtigen Blick, er wollte möglichst rasch hier fertig werden, nur den Maler mit ein paar Worten ausforschen und sofort wieder in die Bank zurückgehen. Wenn er hier nur den kleinsten Erfolg hatte, sollte das auf seine heutige Arbeit in der Bank noch eine gute Wirkung ausüben. Im dritten Stockwerk mußte er seinen Schritt mäßigen, er war ganz außer Atem, die Treppen, ebenso wie die Stockwerke, waren übermäßig hoch, und der Maler sollte ganz oben in einer Dachkammer wohnen. Auch war die Luft sehr drückend, es gab keinen Treppenhof, die enge Treppe war auf beiden Seiten von Mauern eingeschlossen, in denen nur hier und da fast ganz oben kleine Fenster angebracht waren. Gerade als K. ein wenig stehenblieb, liefen ein paar kleine Mädchen aus einer Wohnung heraus und eilten lachend die Treppe weiter hinauf. K. folgte ihnen langsam, holte eines der Mädchen ein, das gestolpert und hinter den anderen zurückgeblieben war, und fragte es, während sie nebeneinander weiterstiegen: » Wohnt hier ein Maler Titorelli? « Das Mädchen, ein kaum dreizehnjähriges, etwas buckliges Mädchen, stieß ihn darauf mit dem Ellbogen an und sah von der Seite zu ihm auf. Weder ihre Jugend noch ihr Körperfehler hatte verhindern können, daß sie schon ganz verdorben war. Sie lächelte nicht einmal, sondern sah K. ernst mit scharfem, aufforderndem Blicke an. K. tat, als hätte er ihr Benehmen nicht bemerkt, und fragte: » Kennst du den Maler Titorelli? « Sie nickte und fragte ihrerseits: » Was wollen Sie von ihm? « K. schien es vorteilhaft, sich noch schnell ein wenig über Titorelli zu unterrichten: » Ich will mich von ihm malen lassen «, sagte er. » Malen lassen? « fragte sie, öffnete übermäßig den Mund, schlug leicht mit der Hand gegen K., als hätte er etwas außerordentlich Überraschendes oder Ungeschicktes gesagt, hob mit beiden Händen ihr ohnedies sehr kurzes Röckchen und lief, so schnell sie konnte, hinter den andern Mädchen her, deren Geschrei schon undeutlich in der Höhe sich verlor. Bei der nächsten Wendung der Treppe aber traf K. schon wieder alle Mädchen. Sie waren offenbar von der Buckligen von K.s Absicht verständigt worden und erwarteten ihn. Sie standen zu beiden Seiten der Treppe, drückten sich an die Mauer, damit K. bequem zwischen ihnen durchkomme, und glätteten mit der Hand ihre Schürzen. Alle Gesichter, wie auch diese Spalierbildung, stellten eine Mischung von Kindlichkeit und Verworfenheit dar. Oben, an der Spitze der Mädchen, die sich jetzt hinter K. lachend zusammenschlossen, war die Bucklige, welche die Führung übernahm. K. hatte es ihr zu verdanken, daß er gleich den richtigen Weg fand. Er wollte nämlich geradeaus weitersteigen, sie aber zeigte ihm, daß er eine Abzweigung der Treppe wählen müsse, um zu Titorelli zu kommen. Die Treppe, die zu ihm führte, war besonders schmal, sehr lang, ohne Biegung, in ihrer ganzen Länge zu übersehen und oben unmittelbar vor Titorellis Tür abgeschlossen. Diese Tür, die durch ein kleines, schief über ihr eingesetztes Oberlichtfenster im Gegensatz zur übrigen Treppe verhältnismäßig hell beleuchtet wurde, war aus nicht übertünchten Balken zusammengesetzt, auf die der Name Titorelli mit roter Farbe in breiten Pinselstrichen gemalt war. K. war mit seinem Gefolge noch kaum in der Mitte der Treppe, als oben, offenbar veranlaßt durch das Geräusch der vielen Schritte, die Tür ein wenig geöffnet wurde und ein wahrscheinlich nur mit einem Nachthemd bekleideter Mann in der Türspalte erschien. » Oh! « rief er, als er die Menge kommen sah, und verschwand. Die Bucklige klatschte vor Freude in die Hände, und die übrigen Mädchen drängten hinter K., um ihn schneller vorwärtszutreiben. Sie waren aber noch nicht einmal hinaufgekommen, als oben der Maler die Tür gänzlich aufriß und mit einer tiefen Verbeugung K. einlud, einzutreten. Die Mädchen dagegen wehrte er ab, er wollte keine von ihnen einlassen, sosehr sie baten und sosehr sie versuchten, wenn schon nicht mit seiner Erlaubnis, so gegen seinen Willen einzudringen. Nur der Buckligen gelang es, unter seinem ausgestreckten Arm durchzuschlüpfen, aber der Maler jagte hinter ihr her, packte sie bei den Röcken, wirbelte sie einmal um sich herum und setzte sie dann vor die Tür bei den anderen Mädchen ab, die es, während der Maler seinen Posten verlassen hatte, doch nicht gewagt hatten, die Schwelle zu überschreiten. K. wußte nicht, wie er das Ganze beurteilen sollte, es hatte nämlich den Anschein, als ob alles in freundschaftlichem Einvernehmen geschehe. Die Mädchen bei der Tür streckten, eines hinter dem anderen, die Hälse in die Höhe, riefen dem Maler verschiedene scherzhaft gemeinte Worte zu, die K. nicht verstand, und auch der Maler lachte, während die Bucklige in seiner Hand fast flog. Dann schloß er die Tür, verbeugte sich nochmals vor K., reichte ihm die Hand und sagte, sich vorstellend: » Kunstmaler Titorelli. « K. zeigte auf die Tür, hinter der die Mädchen flüsterten, und sagte: » Sie scheinen im Hause sehr beliebt zu sein. « » Ach, die Fratzen! « sagte der Maler und suchte vergebens sein Nachthemd am Halse zuzuknöpfen. Er war im übrigen bloßfüßig und nur noch mit einer breiten, gelblichen Leinenhose bekleidet, die mit einem Riemen festgemacht war, dessen langes Ende frei hin und her schlug. » Diese Fratzen sind mir eine wahre Last «, fuhr er fort, während er vom Nachthemd, dessen letzter Knopf gerade abgerissen war, abließ, einen Sessel holte und K. zum Niedersetzen nötigte. » Ich habe eine von ihnen – sie ist heute nicht einmal dabei – einmal gemalt, und seitdem verfolgen mich alle. Wenn ich selbst hier bin, kommen sie nur herein, wenn ich es erlaube, bin ich aber einmal weg, dann ist immer zumindest eine da. Sie haben sich einen Schlüssel zu meiner Tür machen lassen, den sie untereinander verleihen. Man kann sich kaum vorstellen, wie lästig das ist. Ich komme zum Beispiel mit einer Dame, die ich malen soll, nach Hause, öffne die Tür mit meinem Schlüssel und finde etwa die Bucklige dort beim Tischchen, wie sie sich mit dem Pinsel die Lippen rot färbt, während ihre kleinen Geschwister, die sie zu beaufsichtigen hat, sich herumtreiben und das Zimmer in allen Ecken verunreinigen. Oder ich komme, wie es mir erst gestern geschehen ist, spätabends nach Hause – entschuldigen Sie, bitte, mit Rücksicht darauf meinen Zustand und die Unordnung im Zimmer –, also ich komme spätabends nach Hause und will ins Bett steigen, da zwickt mich etwas ins Bein, ich schaue unter das Bett und ziehe wieder so ein Ding heraus. Warum sie sich so zu mir drängen, weiß ich nicht, daß ich sie nicht zu mir zu locken suche, dürften Sie eben bemerkt haben. Natürlich bin ich dadurch auch in meiner Arbeit gestört. Wäre mir dieses Atelier nicht umsonst zur Verfügung gestellt, ich wäre schon längst ausgezogen. « Gerade rief hinter der Tür ein Stimmchen, zart und ängstlich: » Titorelli, dürfen wir schon kommen? « » Nein «, antwortete der Maler. » Ich allein auch nicht? « fragte es wieder. » Auch nicht «, sagte der Maler, ging zur Tür und sperrte sie ab. K. hatte sich inzwischen im Zimmer umgesehen, er wäre niemals selbst auf den Gedanken gekommen, daß man dieses elende kleine Zimmer ein Atelier nennen könnte. Mehr als zwei lange Schritte konnte man der Länge und Quere nach kaum hier machen. Alles, Fußboden, Wände und Zimmerdecke, war aus Holz, zwischen den Balken sah man schmale Ritzen. K. gegenüber stand an der Wand das Bett, das mit verschiedenfarbigem Bettzeug überladen war. In der Mitte des Zimmers war auf einer Staffelei ein Bild, das mit einem Hemd verhüllt war, dessen Ärmel bis zum Boden baumelten. Hinter K. war das Fenster, durch das man in Nebel nicht weiter sehen konnte als über das mit Schnee bedeckte Dach des Nachbarhauses. Das Umdrehen des Schlüssels im Schloß erinnerte K. daran, daß er bald hatte weggehen wollen. Er zog daher den Brief des Fabrikanten aus der Tasche, reichte ihn dem Maler und sagte: » Ich habe durch diesen Herrn, Ihren Bekannten, von Ihnen erfahren und bin auf seinen Rat hin gekommen. « Der Maler las den Brief flüchtig durch und warfihn aufs Bett. Hätte der Fabrikant nicht auf das bestimmteste von Titorelli als von seinem Bekannten gesprochen, als von einem armen Menschen, der auf seine Almosen angewiesen war, so hätte man jetzt wirklich glauben können, Titorelli kenne den Fabrikanten nicht oder wisse sich an ihn wenigstens nicht zu erinnern. Überdies fragte nun der Maler: » Wollen Sie Bilder kaufen oder sich selbst malen lassen? « K. sah den Maler erstaunt an. Was stand denn eigentlich in dem Brief? K. hatte es als selbstverständlich angenommen, daß der Fabrikant in dem Brief den Maler davon unterrichtet hatte, daß K. nichts anderes wollte, als sich hier wegen seines Prozesses zu erkundigen. Er war doch gar zu eilig und unüberlegt hierhergelaufen! Aber er mußte jetzt dem Maler irgendwie antworten und sagte mit einem Blick auf die Staffelei: » Sie arbeiten gerade an einem Bild? « » Ja «, sagte der Maler und warf das Hemd, das über der Staffelei hing, dem Brief nach auf das Bett. » Es ist ein Porträt. Eine gute Arbeit, aber noch nicht ganz fertig. « Der Zufall war K. günstig, die Möglichkeit, vom Gericht zu reden, wurde ihm förmlich dargeboten, denn es war offenbar das Porträt eines Richters. Es war übrigens dem Bild im Arbeitszimmer des Advokaten auffallend ähnlich. Es handelte sich hier zwar um einen ganz anderen Richter, einen dicken Mann mit schwarzem, buschigem Vollbart, der seitlich weit die Wangen hinaufreichte, auch war jenes Bild ein Ölbild, dieses aber mit Pastellfarben schwach und undeutlich angesetzt. Aber alles übrige war ähnlich, denn auch hier wollte sich gerade der Richter von seinem Thronsessel, dessen Seitenlehnen er festhielt, drohend erheben. » Das ist ja ein Richter «, hatte K. gleich sagen wollen, hielt sich dann aber vorläufig noch zurück und näherte sich dem Bild, als wolle er es in den Einzelheiten studieren. Eine große Figur, die in der Mitte der Rückenlehne des Thronsessels stand, konnte er sich nicht erklären und fragte den Maler nach ihr. Sie müsse noch ein wenig ausgearbeitet werden, antwortete der Maler, holte von einem Tischchen einen Pastellstift und strichelte mit ihm ein wenig an den Rändern der Figur, ohne sie aber dadurch für K. deutlicher zu machen. » Es ist die Gerechtigkeit «, sagte der Maler schließlich. » Jetzt erkenne ich sie schon «, sagte K., » hier ist die Binde um die Augen und hier die Waage. Aber sind nicht an den Fersen Flügel und befindet sie sich nicht im Lauf? « » Ja «, sagte der Maler, » ich mußte es über Auftrag so malen, es ist eigentlich die Gerechtigkeit und die Siegesgöttin in einem. « » Das ist keine gute Verbindung «, sagte K. lächelnd, » die Gerechtigkeit muß ruhen, sonst schwankt die Waage, und es ist kein gerechtes Urteil möglich. « » Ich füge mich darin meinem Auftraggeber «, sagte der Maler. » Ja gewiß «, sagte K., der mit seiner Bemerkung niemanden hatte kränken wollen. » Sie haben die Figur so gemalt, wie sie auf dem Thronsessel wirklich steht. « » Nein «, sagte der Maler, » ich habe weder die Figur noch den Thronsessel gesehen, das alles ist Erfindung, aber es wurde mir angegeben, was ich zu malen habe. « » Wie? « fragte K., er tat absichtlich, als verstehe er den Maler nicht völlig, » es ist doch ein Richter, der auf dem Richterstuhl sitzt? « » Ja «, sagte der Maler, » aber er ist kein hoher Richter und ist niemals auf einem solchen Thronsessel gesessen. « » Und läßt sich doch in so feierlicher Haltung malen? Er sitzt ja da wie ein Gerichtspräsident. « » Ja, eitel sind die Herren «, sagte der Maler. » Aber sie haben die höhere Erlaubnis, sich so malen zu lassen. Jedem ist genau vorgeschrieben, wie er sich malen lassen darf. Nur kann man leider gerade nach diesem Bilde die Einzelheiten der Tracht und des Sitzes nicht beurteilen, die Pastellfarben sind für solche Darstellungen nicht geeignet. « » Ja «, sagte K., » es ist sonderbar, daß es in Pastellfarben gemalt ist. « » Der Richter wünschte es so «, sagte der Maler, » es ist für eine Dame bestimmt. « Der Anblick des Bildes schien ihm Lust zur Arbeit gemacht zu haben, er krempelte die Hemdärmel aufwärts, nahm einige Stifte in die Hand, und K. sah zu, wie unter den zitternden Spitzen der Stifte anschließend an den Kopf des Richters ein rötlicher Schatten sich bildete, der strahlenförmig gegen den Rand des Bildes verging. Allmählich umgab dieses Spiel des Schattens den Kopf wie ein Schmuck oder eine hohe Auszeichnung. Um die Figur der Gerechtigkeit aber blieb es bis auf eine unmerkliche Tönung hell, in dieser Helligkeit schien die Figur besonders vorzudringen, sie erinnerte kaum mehr an die Göttin der Gerechtigkeit, aber auch nicht an die des Sieges, sie sah jetzt vielmehr vollkommen wie die Göttin der Jagd aus. Die Arbeit des Malers zog K. mehr an, als er wollte; schließlich aber machte er sich doch Vorwürfe, daß er so lange schon hier war und im Grunde noch nichts für seine eigene Sache unternommen hatte. » Wie heißt dieser Richter? « fragte er plötzlich. » Das darf ich nicht sagen «, antwortete der Maler, er war tief zum Bild hinabgebeugt und vernachlässigte deutlich seinen Gast, den er doch zuerst so rücksichtsvoll empfangen hatte. K. hielt das für eine Laune und ärgerte sich darüber, weil er dadurch Zeit verlor. » Sie sind wohl ein Vertrauensmann des Gerichtes? « fragte er. Sofort legte der Maler die Stifte beiseite, richtete sich auf, rieb die Hände aneinander und sah K. lächelnd an. » Nur immer gleich mit der Wahrheit heraus «, sagte er, » Sie wollen etwas über das Gericht erfahren, wie es ja auch in Ihrem Empfehlungsschreiben steht, und haben zunächst über meine Bilder gesprochen, um mich zu gewinnen. Aber ich nehme das nicht übel, Sie konnten ja nicht wissen, daß das bei mir unangebracht ist. Oh, bitte! « sagte er scharf abwehrend, als K. etwas einwenden wollte. Und fuhr dann fort: » Im übrigen haben Sie mit Ihrer Bemerkung vollständig recht, ich bin ein Vertrauensmann des Gerichtes. « Er machte eine Pause, als wolle er K. Zeit lassen, sich mit dieser Tatsache abzufinden. Man hörte jetzt wieder hinter der Tür die Mädchen. Sie drängten sich wahrscheinlich um das Schlüsselloch, vielleicht konnte man auch durch die Ritzen ins Zimmer hineinsehen. K. unterließ es, sich irgendwie zu entschuldigen, denn er wollte den Maler nicht ablenken, wohl aber wollte er nicht, daß der Maler sich allzusehr überhebe und sich auf diese Weise gewissermaßen unerreichbar mache, er fragte deshalb: » Ist das eine öffentlich anerkannte Stellung? « » Nein «, sagte der Maler kurz, als sei ihm dadurch die weitere Rede verschlagen. K. wollte ihn aber nicht verstummen lassen und sagte: » Nun, oft sind derartige nichtanerkannte Stellungen einflußreicher als die anerkannten. « » Das ist eben bei mir der Fall «, sagte der Maler und nickte mit zusammengezogener Stirn. » Ich sprach gestern mit dem Fabrikanten über Ihren Fall, er fragte mich, ob ich Ihnen nicht helfen wollte, ich antwortete: › Der Mann kann ja einmal zu mir kommen ‹, und nun freue ich mich, Sie so bald hier zu sehen. Die Sache scheint Ihnen ja sehr nahezugehen, worüber ich mich natürlich gar nicht wundere. Wollen Sie vielleicht zunächst Ihren Rock ablegen? « Obwohl K. beabsichtigte, nur ganz kurze Zeit hierzubleiben, war ihm diese Aufforderung des Malers doch sehr willkommen. Die Luft im Zimmer war ihm allmählich drückend geworden, öfters hatte er schon verwundert auf einen kleinen, zweifellos nicht geheizten Eisenofen in der Ecke hingesehen, die Schwüle im Zimmer war unerklärlich. Während er den Winterrock ablegte und auch noch den Rock aufknöpfte, sagte der Maler, sich entschuldigend: » Ich muß Wärme haben. Es ist hier doch sehr behaglich, nicht? Das Zimmer ist in dieser Hinsicht sehr gut gelegen. « K. sagte nichts dazu, aber es war eigentlich nicht die Wärme, die ihm Unbehagen machte, es war vielmehr die dumpfe, das Atmen fast behindernde Luft, das Zimmer war wohl schon lange nicht gelüftet. Diese Unannehmlichkeit wurde für K. dadurch verstärkt, daß ihn der Maler bat, sich auf das Bett zu setzen, während er selbst sich auf den einzigen Stuhl des Zimmers vor der Staffelei niedersetzte. Außerdem schien es der Maler mißzuverstehen, warum K. nur am Bettrand blieb, er bat vielmehr, K. möchte es sich bequem machen und ging, da K. zögerte, selbst hin und drängte ihn tief in die Betten und Polster hinein. Dann kehrte er wieder zu seinem Sessel zurück und stellte endlich die erste sachliche Frage, die K. alles andere vergessen ließ. » Sie sind unschuldig? « fragte er. » Ja «, sagte K. Die Beantwortung dieser Frage machte ihm geradezu Freude, besonders da sie gegenüber einem Privatmann, also ohne jede Verantwortung erfolgte. Noch niemand hatte ihn so offen gefragt. Um diese Freude auszukosten, fügte er noch hinzu: » Ich bin vollständig unschuldig. « » So «, sagte der Maler, senkte den Kopf und schien nachzudenken. Plötzlich hob er wieder den Kopf und sagte: » Wenn Sie unschuldig sind, dann ist ja die Sache sehr einfach. « K.s Blick trübte sich, dieser angebliche Vertrauensmann des Gerichtes redete wie ein unwissendes Kind. » Meine Unschuld vereinfacht die Sache nicht «, sagte K. Er mußte trotz allem lächeln und schüttelte langsam den Kopf. » Es kommt auf viele Feinheiten an, in denen sich das Gericht verliert. Zum Schluß aber zieht es von irgendwoher, wo ursprünglich gar nichts gewesen ist, eine große Schuld hervor. « » Ja, ja gewiß «, sagte der Maler, als störe K. unnötigerweise seinen Gedankengang. » Sie sind aber doch unschuldig? « » Nun ja «, sagte K. » Das ist die Hauptsache «, sagte der Maler. Er war durch Gegengründe nicht zu beeinflussen, nur war es trotz seiner Entschiedenheit nicht klar, ob er aus Überzeugung oder nur aus Gleichgültigkeit so redete. K. wollte das zunächst feststellen und sagte deshalb: » Sie kennen ja gewiß das Gericht viel besser als ich, ich weiß nicht viel mehr, als was ich darüber, allerdings von ganz verschiedenen Leuten, gehört habe. Darin stimmten aber alle überein, daß leichtsinnige Anklagen nicht erhoben werden und daß das Gericht, wenn es einmal anklagt, fest von der Schuld des Angeklagten überzeugt ist und von dieser Überzeugung nur schwer abgebracht werden kann. « » Schwer? « fragte der Maler und warf eine Hand in die Höhe. » Niemals ist das Gericht davon abzubringen. Wenn ich hier alle Richter nebeneinander auf eine Leinwand male und Sie werden sich vor dieser Leinwand verteidigen, so werden Sie mehr Erfolg haben als vor dem wirklichen Gericht. « » Ja «, sagte K. für sich und vergaß, daß er den Maler nur hatte ausforschen wollen. Wieder begann ein Mädchen hinter der Tür zu fragen: » Titorelli, wird er denn nicht schon bald weggehen? « » Schweigt! « rief der Maler zur Tür hin, » seht ihr denn nicht, daß ich mit dem Herrn eine Besprechung habe? « Aber das Mädchen gab sich damit nicht zufrieden, sondern fragte: » Du wirst ihn malen? « Und als der Maler nicht antwortete, sagte sie noch: » Bitte, mal ihn nicht, einen so häßlichen Menschen. « Ein Durcheinander unverständlicher zustimmender Zurufe folgte. Der Maler machte einen Sprung zur Tür, öffnete sie bis zu einem Spalt – man sah die bittend vorgestreckten, gefalteten Hände der Mädchen – und sagte: » Wenn ihr nicht still seid, werfe ich euch alle die Treppe hinunter. Setzt euch hier auf die Stufen und verhaltet euch ruhig. « Wahrscheinlich folgten sie nicht gleich, so daß er kommandieren mußte: » Nieder auf die Stufen! « Erst dann wurde es still. » Verzeihen Sie «, sagte der Maler, als er zu K. wieder zurückkehrte. K. hatte sich kaum zur Tür hingewendet, er hatte es vollständig dem Maler überlassen, ob und wie er ihn in Schutz nehmen wollte. Er machte auch jetzt kaum eine Bewegung, als sich der Maler zu ihm niederbeugte und ihm, um draußen nicht gehört zu werden, ins Ohr flüsterte: » Auch diese Mädchen gehören zum Gericht. « » Wie? « fragte K., wich mit dem Kopf zur Seite und sah den Maler an. Dieser aber setzte sich wieder auf seinen Sessel und sagte halb im Scherz, halb zur Erklärung: » Es gehört ja alles zum Gericht. « » Das habe ich noch nicht bemerkt «, sagte K. kurz, die allgemeine Bemerkung des Malers nahm dem Hinweis auf die Mädchen alles Beunruhigende. Trotzdem sah K. ein Weilchen lang zur Tür hin, hinter der die Mädchen jetzt still auf den Stufen saßen. Nur eines hatte einen Strohhalm durch eine Ritze zwischen den Balken gesteckt und führte ihn langsam auf und ab. » Sie scheinen noch keinen Überblick über das Gericht zu haben «, sagte der Maler, er hatte die Beine weit auseinandergestreckt und klatschte mit den Fußspitzen auf den Boden. » Da Sie aber unschuldig sind, werden Sie ihn auch nicht benötigen. Ich allein hole Sie heraus. « » Wie wollen Sie das tun? « fragte K. » Da Sie doch vor kurzem selbst gesagt haben, daß das Gericht für Beweisgründe vollständig unzugänglich ist. « » Unzugänglich nur für Beweisgründe, die man vor dem Gericht vorbringt «, sagte der Maler und hob den Zeigefinger, als habe K. eine feine Unterscheidung nicht bemerkt. » Anders verhält es sich aber damit, was man in dieser Hinsicht hinter dem öffentlichen Gericht versucht, also in den Beratungszimmern, in den Korridoren oder zum Beispiel auch hier, im Atelier. « Was der Maler jetzt sagte, schien K. nicht mehr so unglaubwürdig, es zeigte vielmehr eine große Übereinstimmung mit dem, was K. auch von anderen Leuten gehört hatte. Ja, es war sogar sehr hoffnungsvoll. Waren die Richter durch persönliche Beziehungen wirklich so leicht zu lenken, wie es der Advokat dargestellt hatte, dann waren die Beziehungen des Malers zu den eitlen Richtern besonders wichtig und jedenfalls keineswegs zu unterschätzen. Dann fügte sich der Maler sehr gut in den Kreis von Helfern, die K. allmählich um sich versammelte. Man hatte einmal in der Bank sein Organisationstalent gerühmt, hier, wo er ganz allein auf sich gestellt war, zeigte sich eine gute Gelegenheit, es auf das Äußerste zu erproben. Der Maler beobachtete die Wirkung, die seine Erklärung auf K. gemacht hatte und sagte dann mit einer gewissen Ängstlichkeit: » Fällt es Ihnen nicht auf, daß ich fast wie ein Jurist spreche? Es ist der ununterbrochene Verkehr mit den Herren vom Gericht, der mich so beeinflußt. Ich habe natürlich viel Gewinn davon, aber der künstlerische Schwung geht zum großen Teil verloren. « » Wie sind Sie denn zum erstenmal mit den Richtern in Verbindung gekommen? « fragte K., er wollte zuerst das Vertrauen des Malers gewinnen, bevor er ihn geradezu in seine Dienste nahm. » Das war sehr einfach «, sagte der Maler, » ich habe diese Verbindung geerbt. Schon mein Vater war Gerichtsmaler. Es ist das eine Stellung, die sich immer vererbt. Man kann dafür neue Leute nicht brauchen. Es sind nämlich für das Malen der verschiedenen Beamtengrade so verschiedene, vielfache und vor allem geheime Regeln aufgestellt, daß sie überhaupt nicht außerhalb bestimmter Familien bekannt werden. Dort in der Schublade zum Beispiel habe ich die Aufzeichnungen meines Vaters, die ich niemandem zeige. Aber nur wer sie kennt, ist zum Malen von Richtern befähigt. Jedoch, selbst wenn ich sie verlöre, blieben mir noch so viele Regeln, die ich allein in meinem Kopfe trage, daß mir niemand meine Stellung streitig machen könnte. Es will doch jeder Richter so gemalt werden, wie die alten, großen Richter gemalt worden sind, und das kann nur ich. « » Das ist beneidenswert «, sagte K., der an seine Stellung in der Bank dachte. » Ihre Stellung ist also unerschütterlich? « » Ja, unerschütterlich «, sagte der Maler und hob stolz die Achseln. » Deshalb kann ich es auch wagen, hier und da einem armen Manne, der einen Prozeß hat, zu helfen. « » Und wie tun Sie das? « fragte K., als sei es nicht er, den der Maler soeben einen armen Mann genannt hatte. Der Maler aber ließ sich nicht ablenken, sondern sagte: » In Ihrem Fall zum Beispiel werde ich, da Sie vollständig unschuldig sind, folgendes unternehmen. « Die wiederholte Erwähnung seiner Unschuld wurde K. schon lästig. Ihm schien es manchmal, als mache der Maler durch solche Bemerkungen einen günstigen Ausgang des Prozesses zur Voraussetzung seiner Hilfe, die dadurch natürlich in sich selbst zusammenfiel. Trotz diesen Zweifeln bezwang sich aber K. und unterbrach den Maler nicht. Verzichten wollte er auf die Hilfe des Malers nicht, dazu war er entschlossen, auch schien ihm diese Hilfe durchaus nicht fragwürdiger als die des Advokaten zu sein. K. zog sie jener sogar bei weitem vor, weil sie harmloser und offener dargeboten wurde. Der Maler hatte seinen Sessel näher zum Bett gezogen und fuhr mit gedämpfter Stimme fort: » Ich habe vergessen, Sie zunächst zu fragen, welche Art der Befreiung Sie wünschen. Es gibt drei Möglichkeiten, nämlich die wirkliche Freisprechung, die scheinbare Freisprechung und die Verschleppung. Die wirkliche Freisprechung ist natürlich das Beste, nur habe ich nicht den geringsten Einfluß auf diese Art der Lösung. Es gibt meiner Meinung nach überhaupt keine einzelne Person, die auf die wirkliche Freisprechung Einfluß hätte. Hier entscheidet wahrscheinlich nur die Unschuld des Angeklagten. Da Sie unschuldig sind, wäre es wirklich möglich, daß Sie sich allein auf Ihre Unschuld verlassen. Dann brauchen Sie aber weder mich noch irgendeine andere Hilfe. « Diese geordnete Darstellung verblüffte K. anfangs, dann aber sagte er ebenso leise wie der Maler: » Ich glaube, Sie widersprechen sich. « » Wie denn? « fragte der Maler geduldig und lehnte sich lächelnd zurück. Dieses Lächeln erweckte in K. das Gefühl, als ob er jetzt daran gehe, nicht in den Worten des Malers, sondern in dem Gerichtsverfahren selbst Widersprüche zu entdecken. Trotzdem wich er aber nicht zurück und sagte: » Sie haben früher die Bemerkung gemacht, daß das Gericht für Beweisgründe unzugänglich ist, später haben Sie dies auf das öffentliche Gericht eingeschränkt, und jetzt sagen Sie sogar, daß der Unschuldige vor dem Gericht keine Hilfe braucht. Darin liegt schon ein Widerspruch. Außerdem aber haben Sie früher gesagt, daß man die Richter persönlich beeinflussen kann, stellen aber jetzt in Abrede, daß die wirkliche Freisprechung, wie Sie sie nennen, jemals durch persönliche Beeinflussung zu erreichen ist. Darin liegt der zweite Widerspruch. « » Diese Widersprüche sind leicht aufzuklären «, sagte der Maler. » Es ist hier von zwei verschiedenen Dingen die Rede, von dem, was im Gesetz steht, und von dem, was ich persönlich erfahren habe, das dürfen Sie nicht verwechseln. Im Gesetz, ich habe es allerdings nicht gelesen, steht natürlich einerseits, daß der Unschuldige freigesprochen wird, andererseits steht dort aber nicht, daß die Richter beeinflußt werden können. Nun habe aber ich gerade das Gegenteil dessen erfahren. Ich weiß von keiner wirklichen Freisprechung, wohl aber von vielen Beeinflussungen. Es ist natürlich möglich, daß in allen mir bekannten Fällen keine Unschuld vorhanden war. Aber ist das nicht unwahrscheinlich? In so vielen Fällen keine einzige Unschuld? Schon als Kind hörte ich dem Vater genau zu, wenn er zu Hause von Prozessen erzählte, auch die Richter, die in sein Atelier kamen, erzählten vom Gericht, man spricht in unseren Kreisen überhaupt von nichts anderem; kaum bekam ich die Möglichkeit, selbst zu Gerichte zu gehen, nützte ich sie immer aus, unzählbare Prozesse habe ich in wichtigen Stadien angehört und, soweit sie sichtbar sind, verfolgt, und – ich muß es zugeben – nicht einen einzigen wirklichen Freispruch erlebt. « » Keinen einzigen Freispruch also «, sagte K., als rede er zu sich selbst und zu seinen Hoffnungen. » Das bestätigt aber die Meinung, die ich von dem Gericht schon habe. Es ist also auch von dieser Seite zwecklos. Ein einziger Henker könnte das ganze Gericht ersetzen. « » Sie dürfen nicht verallgemeinern «, sagte der Maler unzufrieden, » ich habe ja nur von meinen Erfahrungen gesprochen. « » Das genügt doch «, sagte K., » oder haben Sie von Freisprüchen aus früherer Zeit gehört? « » Solche Freisprüche «, antwortete der Maler, » soll es allerdings gegeben haben. Nur ist es sehr schwer, das festzustellen. Die abschließenden Entscheidungen des Gerichts werden nicht veröffentlicht, sie sind nicht einmal den Richtern zugänglich, infolgedessen haben sich über alte Gerichtsfälle nur Legenden erhalten. Diese enthalten allerdings sogar in der Mehrzahl wirkliche Freisprechungen, man kann sie glauben, nachweisbar sind sie aber nicht. Trotzdem muß man sie nicht ganz vernachlässigen, eine gewisse Wahrheit enthalten sie wohl gewiß, auch sind sie sehr schön, ich selbst habe einige Bilder gemalt, die solche Legenden zum Inhalt haben. « » Bloße Legenden ändern meine Meinung nicht «, sagte K., » man kann sich wohl auch vor Gericht auf diese Legenden nicht berufen? « Der Maler lachte. » Nein, das kann man nicht «, sagte er. » Dann ist es nutzlos, darüber zu reden «, sagte K., er wollte vorläufig alle Meinungen des Malers hinnehmen, selbst wenn er sie für unwahrscheinlich hielt und sie anderen Berichten widersprachen. Er hatte jetzt nicht die Zeit, alles, was der Maler sagte, auf die Wahrheit hin zu überprüfen oder gar zu widerlegen, es war schon das Äußerste erreicht, wenn er den Maler dazu bewog, ihm in irgendeiner, sei es auch in einer nicht entscheidenden Weise zu helfen. Darum sagte er: » Sehen wir also von der wirklichen Freisprechung ab, Sie erwähnten aber noch zwei andere Möglichkeiten. « » Die scheinbare Freisprechung und die Verschleppung. Um die allein kann es sich handeln «, sagte der Maler. » Wollen Sie aber nicht, ehe wir davon reden, den Rock ausziehen? Es ist Ihnen wohl heiß. « » Ja «, sagte K., der bisher auf nichts als auf die Erklärungen des Malers geachtet hatte, dem aber jetzt, da er an die Hitze erinnert worden war, starker Schweiß auf der Stirn ausbrach. » Es ist fast unerträglich. « Der Maler nickte, als verstehe er K.s Unbehagen sehr gut. » Könnte man nicht das Fenster öffnen? « fragte K. » Nein «, sagte der Maler. » Es ist bloß eine feste eingesetzte Glasscheibe, man kann es nicht öffnen. « Jetzt erkannte K., daß er die ganze Zeit über darauf gehofft hatte, plötzlich werde der Maler oder er zum Fenster gehen und es aufreißen. Er war darauf vorbereitet, selbst den Nebel mit offenem Mund einzuatmen. Das Gefühl, hier von der Luft vollständig abgesperrt zu sein, verursachte ihm Schwindel. Er schlug leicht mit der Hand auf das Federbett neben sich und sagte mit schwacher Stimme: » Das ist ja unbequem und ungesund. « » O nein «, sagte der Maler zur Verteidigung seines Fensters, » dadurch, daß es nicht aufgemacht werden kann, wird, obwohl es nur eine einfache Scheibe ist, die Wärme hier besser festgehalten als durch ein Doppelfenster. Will ich aber lüften, was nicht sehr notwendig ist, da durch die Balkenritzen überall Luft eindringt, kann ich eine meiner Türen oder sogar beide öffnen. « K., durch diese Erklärung ein wenig getröstet, blickte herum, um die zweite Tür zu finden. Der Maler bemerkte das und sagte: » Sie ist hinter Ihnen, ich mußte sie durch das Bett verstellen. « Jetzt erst sah K. die kleine Tür in der Wand. » Es ist eben hier alles viel zu klein für ein Atelier «, sagte der Maler, als wolle er einem Tadel K.s zuvorkommen. » Ich mußte mich einrichten, so gut es ging. Das Bett vor der Tür steht natürlich an einem sehr schlechten Platz. Der Richter zum Beispiel, den ich jetzt male, kommt immer durch die Tür beim Bett, und ich habe ihm auch einen Schlüssel von dieser Tür gegeben, damit er, auch wenn ich nicht zu Hause bin, hier im Atelier auf mich warten kann. Nun kommt er aber gewöhnlich früh am Morgen, während ich noch schlafe. Es reißt mich natürlich immer aus dem tiefsten Schlaf, wenn sich neben dem Bett die Tür öffnet. Sie würden jede Ehrfurcht vor den Richtern verlieren, wenn Sie die Flüche hörten, mit denen ich ihn empfange, wenn er früh über mein Bett steigt. Ich könnte ihm allerdings den Schlüssel wegnehmen, aber es würde dadurch nur ärger werden. Man kann hier alle Türen mit der geringsten Anstrengung aus den Angeln brechen. « Während dieser ganzen Rede überlegte K., ob er den Rock ausziehen sollte, er sah aber schließlich ein, daß er, wenn er es nicht tat, unfähig war, hier noch länger zu bleiben, er zog daher den Rock aus, legte ihn aber über die Knie, um ihn, falls die Besprechung zu Ende wäre, wieder anziehen zu können. Kaum hatte er den Rock ausgezogen, rief eines der Mädchen: » Er hat schon den Rock ausgezogen! « und man hörte, wie sich alle zu den Ritzen drängten, um das Schauspiel selbst zu sehen. » Die Mädchen glauben nämlich «, sagte der Maler, » daß ich Sie malen werde und daß Sie sich deshalb ausziehen. « » So «, sagte K., nur wenig belustigt, denn er fühlte sich nicht viel besser als früher, obwohl er jetzt in Hemdärmeln dasaß. Fast mürrisch fragte er: » Wie nannten Sie die zwei anderen Möglichkeiten? « Er hatte die Ausdrücke schon wieder vergessen. » Die scheinbare Freisprechung und die Verschleppung «, sagte der Maler. » Es liegt an Ihnen, was Sie davon wählen. Beides ist durch meine Hilfe erreichbar, natürlich nicht ohne Mühe, der Unterschied in dieser Hinsicht ist der, daß die scheinbare Freisprechung eine gesammelte zeitweilige, die Verschleppung eine viel geringere, aber dauernde Anstrengung verlangt. Zunächst also die scheinbare Freisprechung. Wenn Sie diese wünschen sollten, schreibe ich auf einem Bogen Papier eine Bestätigung Ihrer Unschuld auf. Der Text für eine solche Bestätigung ist mir von meinem Vater überliefert und ganz unangreifbar. Mit dieser Bestätigung mache ich nun einen Rundgang bei den mir bekannten Richtern. Ich fange also etwa damit an, daß ich dem Richter, den ich jetzt male, heute abend, wenn er zur Sitzung kommt, die Bestätigung vorlege. Ich lege ihm die Bestätigung vor, erkläre ihm, daß Sie unschuldig sind, und verbürge mich für Ihre Unschuld. Das ist aber keine bloß äußerliche, sondern eine wirkliche, bindende Bürgschaft. « In den Blicken des Malers lag es wie ein Vorwurf, daß K. ihm die Last einer solchen Bürgschaft auferlegen wolle. » Das wäre ja sehr freundlich «, sagte K. » Und der Richter würde Ihnen glauben und mich trotzdem nicht wirklich freisprechen? « » Wie ich schon sagte «, antwortete der Maler. » Übrigens ist es durchaus nicht sicher, daß jeder mir glauben würde, mancher Richter wird zum Beispiel verlangen, daß ich Sie selbst zu ihm hinführe. Dann müßten Sie also einmal mitkommen. Allerdings ist in einem solchen Falle die Sache schon halb gewonnen, besonders da ich Sie natürlich vorher genau darüber unterrichten würde, wie Sie sich bei dem betreffenden Richter zu verhalten haben. Schlimmer ist es bei den Richtern, die mich – auch das wird vorkommen – von vornherein abweisen. Auf diese müssen wir, wenn ich es auch an mehrfachen Versuchen gewiß nicht fehlen lassen werde, verzichten, wir dürfen das aber auch, denn einzelne Richter können hier nicht den Ausschlag geben. Wenn ich nun auf dieser Bestätigung eine genügende Anzahl von Unterschriften der Richter habe, gehe ich mit dieser Bestätigung zu dem Richter, der Ihren Prozeß gerade führt. Möglicherweise habe ich auch seine Unterschrift, dann entwickelt sich alles noch ein wenig rascher als sonst. Im allgemeinen gibt es aber dann überhaupt nicht mehr viel Hindernisse, es ist dann für den Angeklagten die Zeit der höchsten Zuversicht. Es ist merkwürdig, aber wahr, die Leute sind in dieser Zeit zuversichtlicher als nach dem Freispruch. Es bedarf jetzt keiner besonderen Mühe mehr. Der Richter besitzt in der Bestätigung die Bürgschaft einer Anzahl von Richtern, kann Sie unbesorgt freisprechen und wird es, allerdings nach Durchführung verschiedener Formalitäten, mir und anderen Bekannten zu Gefallen zweifellos tun. Sie aber treten aus dem Gericht und sind frei. « » Dann bin ich also frei «, sagte K. zögernd. » Ja «, sagte der Maler, » aber nur scheinbar frei oder, besser ausgedrückt, zeitweilig frei. Die untersten Richter nämlich, zu denen meine Bekannten gehören, haben nicht das Recht, endgültig freizusprechen, dieses Recht hat nur das oberste, für Sie, für mich und für uns alle ganz unerreichbare Gericht. Wie es dort aussieht, wissen wir nicht und wollen wir nebenbei gesagt, auch nicht wissen. Das große Recht, von der Anklage zu befreien, haben also unsere Richter nicht, wohl aber haben sie das Recht, von der Anklage loszulösen. Das heißt, wenn Sie auf diese Weise freigesprochen werden, sind Sie für den Augenblick der Anklage entzogen, aber sie schwebt auch weiterhin über Ihnen und kann, sobald nur der höhere Befehl kommt, sofort in Wirkung treten. Da ich mit dem Gericht in so guter Verbindung stehe, kann ich Ihnen auch sagen, wie sich in den Vorschriften für die Gerichtskanzleien der Unterschied zwischen der wirklichen und der scheinbaren Freisprechung rein äußerlich zeigt. Bei einer wirklichen Freisprechung sollen die Prozeßakten vollständig abgelegt werden, sie verschwinden gänzlich aus dem Verfahren, nicht nur die Anklage, auch der Prozeß und sogar der Freispruch sind vernichtet, alles ist vernichtet. Anders beim scheinbaren Freispruch. Mit dem Akt ist keine weitere Veränderung vor sich gegangen, als daß er um die Bestätigung der Unschuld, um den Freispruch und um die Begründung des Freispruchs bereichert worden ist. Im übrigen aber bleibt er im Verfahren, er wird, wie es der ununterbrochene Verkehr der Gerichtskanzleien erfordert, zu den höheren Gerichten weitergeleitet, kommt zu den niedrigeren zurück und pendelt so mit größeren und kleineren Schwingungen, mit größeren und kleineren Stockungen auf und ab. Diese Wege sind unberechenbar. Von außen gesehen, kann es manchmal den Anschein bekommen, daß alles längst vergessen, der Akt verloren und der Freispruch ein vollkommener ist. Ein Eingeweihter wird das nicht glauben. Es geht kein Akt verloren, es gibt bei Gericht kein Vergessen. Eines Tages – niemand erwartet es – nimmt irgendein Richter den Akt aufmerksamer in die Hand, erkennt, daß in diesem Fall die Anklage noch lebendig ist, und ordnet die sofortige Verhaftung an. Ich habe hier angenommen, daß zwischen dem scheinbaren Freispruch und der neuen Verhaftung eine lange Zeit vergeht, das ist möglich, und ich weiß von solchen Fällen, es ist aber ebensogut möglich, daß der Freigesprochene vom Gericht nach Hause kommt und dort schon Beauftragte warten, um ihn wieder zu verhaften. Dann ist natürlich das freie Leben zu Ende. « » Und der Prozeß beginnt von neuem? « fragte K. fast ungläubig. » Allerdings «, sagte der Maler, » der Prozeß beginnt von neuem, es besteht aber wieder die Möglichkeit, ebenso wie früher, einen scheinbaren Freispruch zu erwirken. Man muß wieder alle Kräfte zusammennehmen und darf sich nicht ergeben. « Das letztere sagte der Maler vielleicht unter dem Eindruck, den K., der ein wenig zusammengesunken war, auf ihn machte. » Ist aber «, fragte K., als wolle er jetzt irgendwelchen Enthüllungen des Malers zuvorkommen, » die Erwirkung eines zweiten Freispruchs nicht schwieriger als die des ersten? « » Man kann «, antwortete der Maler, » in dieser Hinsicht nichts Bestimmtes sagen. Sie meinen wohl, daß die Richter durch die zweite Verhaftung in ihrem Urteil zuungunsten des Angeklagten beeinflußt werden? Das ist nicht der Fall. Die Richter haben ja schon beim Freispruch diese Verhaftung vorgesehen. Dieser Umstand wirkt also kaum ein. Wohl aber kann aus zahllosen sonstigen Gründen die Stimmung der Richter sowie ihre rechtliche Beurteilung des Falles eine andere geworden sein, und die Bemühungen um den zweiten Freispruch müssen daher den veränderten Umständen angepaßt werden und im allgemeinen ebenso kräftig sein wie die vor dem ersten Freispruch. « » Aber dieser zweite Freispruch ist doch wieder nicht endgültig «, sagte K. und drehte abweisend den Kopf. » Natürlich nicht «, sagte der Maler, » dem zweiten Freispruch folgt die dritte Verhaftung, dem dritten Freispruch die vierte Verhaftung, und so fort. Das liegt schon im Begriff des scheinbaren Freispruchs. « K. schwieg. » Der scheinbare Freispruch scheint Ihnen offenbar nicht vorteilhaft zu sein «, sagte der Maler, » vielleicht entspricht Ihnen die Verschleppung besser. Soll ich Ihnen das Wesen der Verschleppung erklären? « K. nickte. Der Maler hatte sich breit in seinen Sessel zurückgelehnt, das Nachthemd war weit offen, er hatte eine Hand daruntergeschoben, mit der er über die Brust und die Seiten strich. » Die Verschleppung «, sagte der Maler und sah einen Augenblick vor sich hin, als suche er eine vollständig zutreffende Erklärung, » die Verschleppung besteht darin, daß der Prozeß dauernd im niedrigsten Prozeßstadium erhalten wird. Um dies zu erreichen, ist es nötig, daß der Angeklagte und der Helfer, insbesondere aber der Helfer in ununterbrochener persönlicher Fühlung mit dem Gericht bleibt. Ich wiederhole, es ist hierfür kein solcher Kraftaufwand nötig wie bei der Erreichung eines scheinbaren Freispruchs, wohl aber ist eine viel größere Aufmerksamkeit nötig. Man darf den Prozeß nicht aus den Augen verlieren, man muß zu dem betreffenden Richter in regelmäßigen Zwischenräumen und außerdem bei besonderen Gelegenheiten gehen und ihn auf jede Weise sich freundlich zu erhalten suchen; ist man mit dem Richter nicht persönlich bekannt, so muß man durch bekannte Richter ihn beeinflussen lassen, ohne daß man etwa deshalb die unmittelbaren Besprechungen aufgeben dürfte. Versäumt man in dieser Hinsicht nichts, so kann man mit genügender Bestimmtheit annehmen, daß der Prozeß über sein erstes Stadium nicht hinauskommt. Der Prozeß hört zwar nicht auf, aber der Angeklagte ist vor einer Verurteilung fast ebenso gesichert, wie wenn er frei wäre. Gegenüber dem scheinbaren Freispruch hat die Verschleppung den Vorteil, daß die Zukunft des Angeklagten weniger unbestimmt ist, er bleibt vor dem Schrecken der plötzlichen Verhaftungen bewahrt und muß nicht fürchten, etwa gerade zu Zeiten, wo seine sonstigen Umstände dafür am wenigsten günstig sind, die Anstrengungen und Aufregungen auf sich nehmen zu müssen, welche mit der Erreichung des scheinbaren Freispruchs verbunden sind. Allerdings hat auch die Verschleppung für den Angeklagten gewisse Nachteile, die man nicht unterschätzen darf. Ich denke hierbei nicht daran, daß hier der Angeklagte niemals frei ist, das ist er ja auch bei der scheinbaren Freisprechung im eigentlichen Sinne nicht. Es ist ein anderer Nachteil. Der Prozeß kann nicht stillstehen, ohne daß wenigstens scheinbare Gründe dafür vorliegen. Es muß deshalb im Prozeß nach außen hin etwas geschehen. Es müssen also von Zeit zu Zeit verschiedene Anordnungen getroffen werden, der Angeklagte muß verhört werden, Untersuchungen müssen stattfinden und so weiter. Der Prozeß muß eben immerfort in dem kleinen Kreis, auf den er künstlich eingeschränkt worden ist, gedreht werden. Das bringt natürlich gewisse Unannehmlichkeiten für den Angeklagten mit sich, die Sie sich aber wiederum nicht zu schlimm vorstellen dürfen. Es ist ja alles nur äußerlich, die Verhöre beispielsweise sind also nur ganz kurz, wenn man einmal keine Zeit oder keine Lust hat, hinzugehen, darf man sich entschuldigen, man kann sogar bei gewissen Richtern die Anordnungen für eine lange Zeit im voraus gemeinsam festsetzen, es handelt sich im Wesen nur darum, daß man, da man Angeklagter ist, von Zeit zu Zeit bei seinem Richter sich meldet. « Schon während der letzten Worte hatte K. den Rock über den Arm gelegt und war aufgestanden. » Er steht schon auf! « rief es sofort draußen vor der Tür. » Sie wollen schon fortgehen? « fragte der Maler, der auch aufgestanden war. » Es ist gewiß die Luft, die Sie von hier vertreibt. Es ist mir sehr peinlich. Ich hätte Ihnen auch noch manches zu sagen. Ich mußte mich ganz kurz fassen. Ich hoffe aber, verständlich gewesen zu sein. « » O ja «, sagte K., dem von der Anstrengung, mit der er sich zum Zuhören gezwungen hatte, der Kopf schmerzte. Trotz dieser Bestätigung sagte der Maler, alles noch einmal zusammenfassend, als wolle er K. auf den Heimweg einen Trost mitgeben: » Beide Methoden haben das Gemeinsame, daß sie eine Verurteilung des Angeklagten verhindern. « » Sie verhindern aber auch die wirkliche Freisprechung «, sagte K. leise, als schäme er sich, das erkannt zu haben. » Sie haben den Kern der Sache erfaßt «, sagte der Maler schnell. K. legte die Hand auf seinen Winterrock, konnte sich aber nicht einmal entschließen, den Rock anzuziehen. Am liebsten hätte er alles zusammengepackt und wäre damit an die frische Luft gelaufen. Auch die Mädchen konnten ihn nicht dazu bewegen, sich anzuziehen, obwohl sie, verfrüht, einander schon zuriefen, daß er sich anziehe. Dem Maler lag daran, K.s Stimmung irgendwie zu deuten, er sagte deshalb: » Sie haben sich wohl hinsichtlich meiner Vorschläge noch nicht entschieden. Ich billige das. Ich hätte Ihnen sogar davon abgeraten, sich sofort zu entscheiden. Die Vorteile und Nachteile sind haarfein. Man muß alles genau abschätzen. Allerdings darf man auch nicht zuviel Zeit verlieren. « » Ich werde bald wiederkommen «, sagte K., der in einem plötzlichen Entschluß den Rock anzog, den Mantel über die Schulter warf und zur Tür eilte, hinter der jetzt die Mädchen zu schreien anfingen. K. glaubte, die schreienden Mädchen durch die Tür zu sehen. » Sie müssen aber Wort halten «, sagte der Maler, der ihm nicht gefolgt war, » sonst komme ich in die Bank, um selbst nachzufragen. « » Sperren Sie doch die Tür auf «, sagte K. und riß an der Klinke, die die Mädchen, wie er an dem Gegendruck merkte, draußen festhielten. » Wollen Sie von den Mädchen belästigt werden? « fragte der Maler. » Benützen Sie doch lieber diesen Ausgang «, und er zeigte auf die Tür hinter dem Bett. K. war damit einverstanden und sprang zum Bett zurück. Aber statt die Tür dort zu öffnen, kroch der Maler unter das Bett und fragte von unten: » Nur noch einen Augenblick; wollen Sie nicht noch ein Bild sehen, das ich Ihnen verkaufen könnte? « K. wollte nicht unhöflich sein, der Maler hatte sich wirklich seiner angenommen und versprochen, ihm weiterhin zu helfen, auch war infolge der Vergeßlichkeit K.s über die Entlohnung für die Hilfe noch gar nicht gesprochen worden, deshalb konnte ihn K. jetzt nicht abweisen und ließ sich das Bild zeigen, wenn er auch vor Ungeduld zitterte, aus dem Atelier wegzukommen. Der Maler zog unter dem Bett einen Haufen ungerahmter Bilder hervor, die so mit Staub bedeckt waren, daß dieser, als ihn der Maler vom obersten Bild wegzublasen suchte, längere Zeit atemraubend K. vor den Augen wirbelte. » Eine Heidelandschaft «, sagte der Maler und reichte K. das Bild. Es stellte zwei schwache Bäume dar, die weit voneinander entfernt im dunklen Gras standen. Im Hintergrund war ein vielfarbiger Sonnenuntergang. » Schön «, sagte K., » ich kaufe es. « K. hatte unbedacht sich so kurz geäußert, er war daher froh, als der Maler, statt dies übelzunehmen, ein zweites Bild vom Boden aufhob. » Hier ist ein Gegenstück zu diesem Bild «, sagte der Maler. Es mochte als Gegenstück beabsichtigt sein, es war aber nicht der geringste Unterschied gegenüber dem ersten Bild zu merken, hier waren die Bäume, hier das Gras und dort der Sonnenuntergang. Aber K. lag wenig daran. » Es sind schöne Landschaften «, sagte er, » ich kaufe beide und werde sie in meinem Büro aufhängen. « » Das Motiv scheint Ihnen zu gefallen «, sagte der Maler und holte ein drittes Bild herauf, » es trifft sich gut, daß ich noch ein ähnliches Bild hier habe. « Es war aber nicht ähnlich, es war vielmehr die völlig gleiche Heidelandschaft. Der Maler nützte diese Gelegenheit, alte Bilder zu verkaufen, gut aus. » Ich nehme auch dieses noch «, sagte K. » Wieviel kosten die drei Bilder? « » Darüber werden wir nächstens sprechen «, sagte der Maler. » Sie haben jetzt Eile, und wir bleiben doch in Verbindung. Im übrigen freut es mich, daß Ihnen die Bilder gefallen, ich werde Ihnen alle Bilder mitgeben, die ich hier unten habe. Es sind lauter Heidelandschaften, ich habe schon viele Heidelandschaften gemalt. Manche Leute weisen solche Bilder ab, weil sie zu düster sind, andere aber, und Sie gehören zu ihnen, lieben gerade das Düstere. « Aber K. hatte jetzt keinen Sinn für die beruflichen Erfahrungen des Bettelmalers. » Packen Sie alle Bilder ein! « rief er, dem Maler in die Rede fallend, » morgen kommt mein Diener und wird sie holen. « » Es ist nicht nötig «, sagte der Maler. » Ich hoffe, ich werden Ihnen einen Träger verschaffen können, der gleich mit Ihnen gehen wird. « Und er beugte sich endlich über das Bett und sperrte die Tür auf. » Steigen Sie ohne Scheu auf das Bett «, sagte der Maler, » das tut jeder, der hier hereinkommt. « K. hätte auch ohne diese Aufforderung keine Rücksicht genommen, er hatte sogar schon einen Fuß mitten auf das Federbett gesetzt, da sah er durch die offene Tür hinaus und zog den Fuß wieder zurück. » Was ist das? « fragte er den Maler. » Worüber staunen Sie? « fragte dieser, seinerseits staunend. » Es sind die Gerichtskanzleien. Wußten Sie nicht, daß hier Gerichtskanzleien sind? Gerichtskanzleien sind doch fast auf jedem Dachboden, warum sollten sie gerade hier fehlen? Auch mein Atelier gehört eigentlich zu den Gerichtskanzleien, das Gericht hat es mir aber zur Verfügung gestellt. « K. erschrak nicht so sehr darüber, daß er auch hier Gerichtskanzleien gefunden hatte, er erschrak hauptsächlich über sich, über seine Unwissenheit in Gerichtssachen. Als eine Grundregel für das Verhalten eines Angeklagten erschien es ihm, immer vorbereitet zu sein, sich niemals überraschen zu lassen, nicht ahnungslos nach rechts zu schauen, wenn links der Richter neben ihm stand – und gerade gegen diese Grundregel verstieß er immer wieder. Vor ihm dehnte sich ein langer Gang, aus dem eine Luft wehte, mit der verglichen die Luft im Atelier erfrischend war. Bänke waren zu beiden Seiten des Ganges aufgestellt, genau so wie im Wartezimmer der Kanzlei, die für K. zuständig war. Es schienen genaue Vorschriften für die Einrichtung von Kanzleien zu bestehen. Augenblicklich war der Parteienverkehr hier nicht sehr groß. Ein Mann saß dort halb liegend, das Gesicht hatte er auf der Bank in seine Arme vergraben und schien zu schlafen; ein anderer stand im Halbdunkel am Ende des Ganges. K. stieg nun über das Bett, der Maler folgte ihm mit den Bildern. Sie trafen bald einen Gerichtsdiener – K. erkannte jetzt schon alle Gerichtsdiener an dem Goldknopf, den diese an ihrem Zivilanzug unter den gewöhnlichen Knöpfen hatten – und der Maler gab ihm den Auftrag, K. mit den Bildern zu begleiten. K. wankte mehr, als er ging, das Taschentuch hielt er an den Mund gedrückt. Sie waren schon nahe am Ausgang, da stürmten ihnen die Mädchen entgegen, die also K. auch nicht erspart geblieben waren. Sie hatten offenbar gesehen, daß die zweite Tür des Ateliers geöffnet worden war und hatten den Umweg gemacht, um von dieser Seite einzudringen. » Ich kann Sie nicht mehr begleiten! « rief der Maler lachend unter dem Andrang der Mädchen. » Auf Wiedersehen! Und überlegen Sie nicht zu lange! « K. sah sich nicht einmal nach ihm um. Auf der Gasse nahm er den ersten Wagen, der ihm in den Weg kam. Es lag ihm daran, den Diener loszuwerden, dessen Goldknopf ihm unaufhörlich in die Augen stach, wenn er auch sonst wahrscheinlich niemanden auffiel. In seiner Dienstfertigkeit wollte sich der Diener noch auf den Kutschbock setzen. K. jagte ihn aber hinunter. Mittag war schon längst vorüber, als K. vor der Bank ankam. Er hätte gern die Bilder im Wagen gelassen, fürchtete aber, bei irgendeiner Gelegenheit genötigt zu werden, sich dem Maler gegenüber mit ihnen auszuweisen. Er ließ sie daher in sein Büro schaffen und versperrte sie in die unterste Lade seines Tisches, um sie wenigstens für die allernächsten Tage vor den Blicken des Direktor - Stellvertreters in Sicherheit zu bringen. 8 Kaufmann Block, Kündigung des Advokaten Endlich hatte sich K. doch entschlossen, dem Advokaten seine Vertretung zu entziehen. Zweifel daran, ob es richtig war, so zu handeln, waren zwar nicht auszurotten, aber die Überzeugung von der Notwendigkeit dessen überwog. Die Entschließung hatte K. an dem Tage, an dem er zum Advokaten gehen wollte, viel Arbeitskraft entzogen, er arbeitete besonders langsam, er mußte sehr lange im Büro bleiben, und es war schon zehn Uhr vorüber, als er endlich vor der Tür des Advokaten stand. Noch ehe er läutete, überlegte er, ob es nicht besser wäre, dem Advokaten telephonisch oder brieflich zu kündigen, die persönliche Unterredung würde gewiß sehr peinlich werden. Trotzdem wollte K. schließlich auf sie nicht verzichten, bei jeder anderen Art der Kündigung würde diese stillschweigend oder mit ein paar förmlichen Worten angenommen werden, und K. würde, wenn nicht etwa Leni einiges erforschen könnte, niemals erfahren, wie der Advokat die Kündigung aufgenommen hatte und was für Folgen für K. diese Kündigung nach der nicht unwichtigen Meinung des Advokaten haben könnte. Saß aber der Advokat K. gegenüber und wurde er von der Kündigung überrascht, so würde K., selbst wenn der Advokat sich nicht viel entlocken ließ, aus seinem Gesicht und seinem Benehmen alles, was er wollte, leicht entnehmen können. Es war sogar nicht ausgeschlossen, daß er überzeugt wurde, daß es doch gut wäre, dem Advokaten die Verteidigung zu überlassen und daß er dann seine Kündigung zurückzog. Das erste Läuten an der Tür des Advokaten war, wie gewöhnlich, zwecklos. » Leni könnte flinker sein «, dachte K. Aber es war schon ein Vorteil, wenn sich nicht die andere Partei einmischte, wie sie es gewöhnlich tat, sei es, daß der Mann im Schlafrock oder sonst jemand zu belästigen anfing. Während K. zum zweitenmal den Knopf drückte, sah er nach der anderen Tür zurück, diesmal aber blieb auch sie geschlossen. Endlich erschienen an dem Guckfenster der Tür des Advokaten zwei Augen, es waren aber nicht Lenis Augen. Jemand schloß die Tür auf, stemmte sich aber vorläufig noch gegen sie, rief in die Wohnung zurück: » Er ist es! « und öffnete erst dann vollständig. K. hatte gegen die Tür gedrängt, denn schon hörte er, wie hinter ihm in der Tür der anderen Wohnung der Schlüssel hastig im Schloß gedreht wurde. Als sich daher die Tür vor ihm endlich öffnete, stürmte er geradezu ins Vorzimmer und sah noch, wie durch den Gang, der zwischen den Zimmern hindurchführte, Leni, welcher der Warnungsruf des Türöffners gegolten hatte, im Hemd davonlief. Er blickte ihr ein Weilchen nach und sah sich dann nach dem Türöffner um. Es war ein kleiner, dürrer Mann mit Vollbart, er hielt eine Kerze in der Hand. » Sie sind hier angestellt? « fragte K. » Nein «, antwortete der Mann, » ich bin hier fremd, der Advokat ist nur mein Vertreter, ich bin hier wegen einer Rechtsangelegenheit. « » Ohne Rock? « fragte K. und zeigte mit einer Handbewegung auf die mangelhafte Bekleidung des Mannes. » Ach, verzeihen Sie! « sagte der Mann und beleuchtete sich selbst mit der Kerze, als sähe er selbst zum erstenmal seinen Zustand. » Leni ist Ihre Geliebte? « fragte K. kurz. Er hatte die Beine ein wenig gespreizt, die Hände, in denen er den Hut hielt, hinten verschlungen. Schon durch den Besitz eines starken Überrocks fühlte er sich dem mageren Kleinen sehr überlegen. » O Gott «, sagte der und hob die eine Hand in erschrockener Abwehr vor das Gesicht, » nein, nein, was denken Sie denn? « » Sie sehen glaubwürdig aus «, sagte K. lächelnd, » trotzdem – kommen Sie. « Er winkte ihm mit dem Hut und ließ ihn vor sich gehen. » Wie heißen Sie denn? « fragte K. auf dem Weg. » Block, Kaufmann Block «, sagte der Kleine und drehte sich bei dieser Vorstellung nach K. um, stehenbleiben ließ ihn aber K. nicht. » Ist das Ihr wirklicher Name? « fragte K. » Gewiß «, war die Antwort, » warum haben Sie denn Zweifel? « » Ich dachte, Sie könnten Grund haben, Ihren Namen zu verschweigen «, sagte K. Er fühlte sich so frei, wie man es sonst nur ist, wenn man in der Fremde mit niedrigen Leuten spricht, alles, was einen selbst betrifft, bei sich behält, nur gleichmütig von den Interessen der anderen redet, sie dadurch vor sich selbst erhöht, aber auch nach Belieben fallen lassen kann. Bei der Tür des Arbeitszimmers des Advokaten blieb K. stehen, öffnete sie und rief dem Kaufmann, der folgsam weitergegangen war, zu: » Nicht so eilig! Leuchten Sie hier! « K. dachte, Leni könnte sich hier versteckt haben, er ließ den Kaufmann alle Winkel absuchen, aber das Zimmer war leer. Vor dem Bild des Richters hielt K. den Kaufmann hinten an den Hosenträgern zurück. » Kennen Sie den? « fragte er und zeigte mit dem Zeigefinger in die Höhe. Der Kaufmann hob die Kerze, sah blinzelnd hinauf und sagte: » Es ist ein Richter. « » Ein hoher Richter? « fragte K. und stellte sich seitlich vor den Kaufmann, um den Eindruck, den das Bild auf ihn machte, zu beobachten. Der Kaufmann sah bewundernd aufwärts. » Es ist ein hoher Richter «, sagte er. » Sie haben keinen großen Einblick «, sagte K. » Unter den niedrigen Untersuchungsrichtern ist er der niedrigste. « » Nun erinnere ich mich «, sagte der Kaufmann und senkte die Kerze, » ich habe es auch schon gehört. « » Aber natürlich «, rief K., » ich vergaß ja, natürlich müssen Sie es schon gehört haben. « » Aber warum denn, warum denn? « fragte der Kaufmann, während er sich, von K. mit den Händen angetrieben, zur Tür fortbewegte. Draußen auf dem Gang sagte K.: » Sie wissen doch, wo sich Leni versteckt hat? « » Versteckt? « sagte der Kaufmann, » nein, sie dürfte aber in der Küche sein und dem Advokaten eine Suppe kochen. « » Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? « fragte K. » Ich wollte Sie ja hinführen, Sie haben mich aber wieder zurückgerufen «, antwortete der Kaufmann, wie verwirrt durch die widersprechenden Befehle. » Sie glauben wohl sehr schlau zu sein «, sagte K., » führen Sie mich also! « In der Küche war K. noch nie gewesen, sie war überraschend groß und reich ausgestattet. Allein der Herd war dreimal so groß wie gewöhnliche Herde, von dem übrigen sah man keine Einzelheiten, denn die Küche wurde jetzt nur von einer kleinen Lampe beleuchtet, die beim Eingang hing. Am Herd stand Leni in weißer Schürze, wie immer, und leerte Eier in einen Topf aus, der auf einem Spiritusfeuer stand. » Guten Abend, Josef «, sagte sie mit einem Seitenblick. » Guten Abend «, sagte K. und zeigte mit einer Hand auf einen abseits stehenden Sessel, auf den sich der Kaufmann setzen sollte, was dieser auch tat. K. aber ging ganz nahe hinter Leni, beugte sich über ihre Schulter und fragte: » Wer ist der Mann? « Leni umfaßte K. mit einer Hand, die andere quirlte die Suppe, zog ihn nach vorn zu sich und sagte: » Es ist ein bedauernswerter Mensch, ein armer Kaufmann, ein gewisser Block. Sieh ihn nur an. « Sie blickten beide zurück. Der Kaufmann saß auf dem Sessel, auf den ihn K. gewiesen hatte, er hatte die Kerze, deren Licht jetzt unnötig war, ausgepustet und drückte mit den Fingern den Docht, um den Rauch zu verhindern. » Du warst im Hemd «, sagte K. und wendete ihren Kopf mit der Hand wieder dem Herd zu. Sie schwieg. » Er ist dein Geliebter? « fragte K. Sie wollte nach dem Suppentopf greifen, aber K. nahm ihre beiden Hände und sagte: » Nun antworte! « Sie sagte: » Komm ins Arbeitszimmer, ich werde dir alles erklären. « » Nein «, sagte K., » ich will, daß du es hier erklärst. « Sie hing sich an ihn und wollte ihn küssen. K. wehrte sie aber ab und sagte: » Ich will nicht, daß du mich jetzt küßt. « » Josef «, sagte Leni und sah K. bittend und doch offen in die Augen, » du wirst doch nicht auf Herrn Block eifersüchtig sein. – Rudi «, sagte sie dann, sich an den Kaufmann wendend, » so hilf mir doch, du siehst, ich werde verdächtigt, laß die Kerze. « Man hätte denken können, er hätte nicht achtgegeben, aber er war vollständig eingeweiht. » Ich wüßte auch nicht, warum Sie eifersüchtig sein sollten «, sagte er wenig schlagfertig. » Ich weiß es eigentlich auch nicht «, sagte K. und sah den Kaufmann lächelnd an. Leni lachte laut, benützte die Unaufmerksamkeit K.s, um sich in seinen Arm einzuhängen, und flüsterte: » Laß ihn jetzt, du siehst ja, was für ein Mensch er ist. Ich habe mich seiner ein wenig angenommen, weil er eine große Kundschaft des Advokaten ist, aus keinem andern Grund. Und du? Willst du noch heute mit dem Advokaten sprechen? Er ist heute sehr krank, aber wenn du willst, melde ich dich doch an. Über Nacht bleibst du aber bei mir, ganz gewiß. Du warst auch schon so lange nicht bei uns, selbst der Advokat hat nach dir gefragt. Vernachlässige den Prozeß nicht! Auch ich habe dir Verschiedenes mitzuteilen, was ich erfahren habe. Nun aber zieh fürs erste deinen Mantel aus! « Sie half ihm, sich auszuziehen, nahm ihm den Hut ab, lief mit den Sachen ins Vorzimmer, sie anzuhängen, lief dann wieder zurück und sah nach der Suppe. » Soll ich zuerst dich anmelden oder ihm zuerst die Suppe bringen? « » Melde mich zuerst an «, sagte K. Er war ärgerlich, er hatte ursprünglich beabsichtigt, mit Leni seine Angelegenheit, insbesondere die fragliche Kündigung genau zu besprechen, die Anwesenheit des Kaufmanns hatte ihm aber die Lust dazu genommen. Jetzt aber hielt er seine Sache doch für zu wichtig, als daß dieser kleine Kaufmann vielleicht entscheidend eingreifen sollte, und so rief er Leni, die schon auf dem Gang war, wieder zurück. » Bring ihm doch zuerst die Suppe «, sagte er, » er soll sich für die Unterredung mit mir stärken, er wird es nötig haben. « » Sie sind auch ein Klient des Advokaten «, sagte, wie zur Feststellung, der Kaufmann leise aus seiner Ecke. Es wurde aber nicht gut aufgenommen. » Was kümmert Sie denn das? « sagte K., und Leni sagte: » Wirst du still sein. – Dann bringe ich ihm also zuerst die Suppe «, sagte Leni zu K. und goß die Suppe auf einen Teller. » Es ist dann nur zu befürchten, daß er bald einschläft, nach dem Essen schläft er bald ein. « » Das, was ich ihm sagen werde, wird ihn wacherhalten «, sagte K., er wollte immerfort durchblicken lassen, daß er etwas Wichtiges mit dem Advokaten zu verhandeln beabsichtige, er wollte von Leni gefragt werden, was es sei, und dann erst sie um Rat fragen. Aber sie erfüllte pünktlich bloß die ausgesprochenen Befehle. Als sie mit der Tasse an ihm vorüberging, stieß sie absichtlich sanft an ihn und flüsterte: » Wenn er die Suppe gegessen hat, melde ich dich gleich an, damit ich dich möglichst bald wiederbekomme. « » Geh nur «, sagte K., » geh nur. « » Sei doch freundlicher «, sagte sie und drehte sich in der Tür mit der Tasse nochmals ganz um. K. sah ihr nach; nun war es endgültig beschlossen, daß der Advokat entlassen würde, es war wohl auch besser, daß er vorher mit Leni nicht mehr darüber sprechen konnte; sie hatte kaum den genügenden Überblick über das Ganze, hätte gewiß abgeraten, hätte möglicherweise K. auch wirklich von der Kündigung diesmal abgehalten, er wäre weiterhin in Zweifel und Unruhe geblieben, und schließlich hätte er nach einiger Zeit seinen Entschluß doch ausgeführt, denn dieser Entschluß war allzu zwingend. Je früher er aber ausgeführt wurde, desto mehr Schaden wurde abgehalten. Vielleicht wußte übrigens der Kaufmann etwas darüber zu sagen. K. wandte sich um, kaum bemerkte das der Kaufmann, als er sofort aufstehen wollte. » Bleiben Sie sitzen «, sagte K. und zog einen Sessel neben ihn. » Sind Sie schon ein alter Klient des Advokaten? « fragte K. » Ja «, sagte der Kaufmann, » ein sehr alter Klient. « » Wieviel Jahre vertritt er Sie denn schon? « fragte K. » Ich weiß nicht, wie Sie es meinen «, sagte der Kaufmann, » in geschäftlichen Rechtsangelegenheiten – ich habe ein Getreidegeschäft – vertritt mich der Advokat schon, seit ich das Geschäft übernommen habe, also etwa seit zwanzig Jahren, in meinem eigenen Prozeß, auf den Sie wahrscheinlich anspielen, vertritt er mich auch seit Beginn, es ist schon länger als fünf Jahre. Ja, weit über fünf Jahre «, fügte er dann hinzu und zog eine alte Brieftasche hervor, » hier habe ich alles aufgeschrieben; wenn Sie wollen, sage ich Ihnen die genauen Daten. Es ist schwer, alles zu behalten. Mein Prozeß dauert wahrscheinlich schon viel länger, er begann kurz nach dem Tod meiner Frau, und das ist schon länger als fünfeinhalb Jahre. « K. rückte näher zu ihm. » Der Advokat übernimmt also auch gewöhnliche Rechtssachen? « fragte er. Diese Verbindung der Gerichte und Rechtswissenschaften schien K. ungemein beruhigend. » Gewiß «, sagte der Kaufmann und flüsterte dann K. zu: » Man sagt sogar, daß er in diesen Rechtssachen tüchtiger ist als in den anderen. « Aber dann schien er das Gesagte zu bereuen, er legte K. eine Hand auf die Schulter und sagte: » Ich bitte Sie sehr, verraten Sie mich nicht. « K. klopfte ihm zur Beruhigung auf den Schenkel und sagte: » Nein, ich bin kein Verräter. « » Er ist nämlich rachsüchtig «, sagte der Kaufmann. » Gegen einen so treuen Klienten wird er gewiß nichts tun «, sagte K. » O doch «, sagte der Kaufmann, » wenn er aufgeregt ist, kennt er keine Unterschiede, übrigens bin ich ihm nicht eigentlich treu. « » Wieso denn nicht? « fragte K. » Soll ich es Ihnen anvertrauen? « fragte der Kaufmann zweifelnd. » Ich denke, Sie dürfen es «, sagte K. » Nun «, sagte der Kaufmann, » ich werde es Ihnen zum Teil anvertrauen, Sie müssen mir aber auch ein Geheimnis sagen, damit wir uns gegenüber dem Advokaten gegenseitig festhalten. « » Sie sind sehr vorsichtig «, sagte K., » aber ich werde Ihnen ein Geheimnis sagen, das Sie vollständig beruhigen wird. Worin besteht also Ihre Untreue gegenüber dem Advokaten? « » Ich habe «, sagte der Kaufmann zögernd und in einem Ton, als gestehe er etwas Unehrenhaftes ein, » ich habe außer ihm noch andere Advokaten. « » Das ist doch nichts so Schlimmes «, sagte K., ein wenig enttäuscht. » Hier ja «, sagte der Kaufmann, der noch seit seinem Geständnis schwer atmete, infolge K.s Bemerkung aber mehr Vertrauen faßte. » Es ist nicht erlaubt. Und am allerwenigsten ist es erlaubt, neben einem sogenannten Advokaten auch noch Winkeladvokaten zu nehmen. Und gerade das habe ich getan, ich habe außer ihm noch fünf Winkeladvokaten. « » Fünf! « rief K., erst die Zahl setzte ihn in Erstaunen, » fünf Advokaten außer diesem? « Der Kaufmann nickte: » Ich verhandle gerade noch mit einem sechsten. « » Aber wozu brauchen Sie denn soviel Advokaten? « fragte K. » Ich brauche alle «, sagte der Kaufmann. » Wollen Sie mir das nicht erklären? « fragte K. » Gern «, sagte der Kaufmann. » Vor allem will ich doch meinen Prozeß nicht verlieren, das ist doch selbstverständlich. Infolgedessen darf ich nichts, was mir nützen könnte, außer acht lassen; selbst wenn die Hoffnung auf Nutzen in einem bestimmten Falle nur ganz gering ist, darf ich sie auch nicht verwerfen. Ich habe deshalb alles, was ich besitze, auf den Prozeß verwendet. So habe ich zum Beispiel alles Geld meinem Geschäft entzogen, früher füllten die Büroräume meines Geschäfts fast ein Stockwerk, heute genügt eine kleine Kammer im Hinterhaus, wo ich mit einem Lehrjungen arbeite. Diesen Rückgang hat natürlich nicht nur die Entziehung des Geldes verschuldet, sondern mehr noch die Entziehung meiner Arbeitskraft. Wenn man für seinen Prozeß etwas tun will, kann man sich mit anderem nur wenig befassen. « » Sie arbeiten also auch selbst bei Gericht? « fragte K. » Gerade darüber möchte ich gern etwas erfahren. « » Darüber kann ich nur wenig berichten «, sagte der Kaufmann, » anfangs habe ich es wohl auch versucht, aber ich habe bald wieder davon abgelassen. Es ist zu erschöpfend und bringt nicht viel Erfolg. Selbst dort zu arbeiten und zu unterhandeln, hat sich wenigstens für mich als ganz unmöglich erwiesen. Es ist ja dort schon das bloße Sitzen und Warten eine große Anstrengung. Sie kennen ja selbst die schwere Luft in den Kanzleien. « » Wieso wissen Sie denn, daß ich dort war? « fragte K. » Ich war gerade im Wartezimmer, als Sie durchgingen. « » Was für ein Zufall das ist! « rief K., ganz hingenommen und die frühere Lächerlichkeit des Kaufmanns ganz vergessend. » Sie haben mich also gesehen! Sie waren im Wartezimmer, als ich durchging. Ja, ich bin dort einmal durchgegangen. « » Es ist kein so großer Zufall «, sagte der Kaufmann, » ich bin dort fast jeden Tag. « » Ich werde nun wahrscheinlich auch öfters hingehen müssen «, sagte K., » nur werde ich wohl kaum mehr so ehrenvoll aufgenommen werden wie damals. Alle standen auf. Man dachte wohl, ich sei ein Richter. « » Nein «, sagte der Kaufmann, » wir grüßten damals den Gerichtsdiener. Daß Sie ein Angeklagter sind, das wußten wir. Solche Nachrichten verbreiten sich sehr rasch. « » Das wußten Sie also schon «, sagte K., » dann erschien Ihnen aber mein Benehmen vielleicht hochmütig. Sprach man sich nicht darüber aus? « » Nein «, sagte der Kaufmann, » im Gegenteil. Aber das sind Dummheiten. « » Was für Dummheiten denn? « fragte K. » Warum fragen Sie danach? « sagte der Kaufmann ärgerlich. » Sie scheinen die Leute dort noch nicht zu kennen und werden es vielleicht unrichtig auffassen. Sie müssen bedenken, daß in diesem Verfahren immer wieder viele Dinge zur Sprache kommen, für die der Verstand nicht mehr ausreicht, man ist einfach zu müde und abgelenkt für vieles, und zum Ersatz verlegt man sich auf den Aberglauben. Ich rede von den anderen, bin aber selbst gar nicht besser. Ein solcher Aberglaube ist es zum Beispiel, daß viele aus dem Gesicht des Angeklagten, insbesondere aus der Zeichnung der Lippen, den Ausgang des Prozesses erkennen wollen. Diese Leute also haben behauptet, Sie würden, nach Ihren Lippen zu schließen, gewiß und bald verurteilt werden. Ich wiederhole, es ist ein lächerlicher Aberglaube und in den meisten Fällen durch die Tatsachen auch vollständig widerlegt, aber wenn man in jener Gesellschaft lebt, ist es schwer, sich solchen Meinungen zu entziehen. Denken Sie nur, wie stark dieser Aberglaube wirken kann. Sie haben doch einen dort angesprochen, nicht? Er konnte Ihnen aber kaum antworten. Es gibt natürlich viele Gründe, um dort verwirrt zu sein, aber einer davon war auch der Anblick Ihrer Lippen. Er hat später erzählt, er hätte auf Ihren Lippen auch das Zeichen seiner eigenen Verurteilung zu sehen geglaubt. « » Meine Lippen? « fragte K., zog einen Taschenspiegel hervor und sah sich an. » Ich kann an meinen Lippen nichts Besonderes erkennen. Und Sie? « » Ich auch nicht «, sagte der Kaufmann, » ganz und gar nicht. « » Wie abergläubisch diese Leute sind! « rief K. aus. » Sagte ich es nicht? « fragte der Kaufmann. » Verkehren sie denn soviel untereinander und tauschen sie ihre Meinungen aus? « sagte K. » Ich habe mich bisher ganz abseits gehalten. « » Im allgemeinen verkehren sie nicht miteinander «, sagte der Kaufmann, » das wäre nicht möglich, es sind ja so viele. Es gibt auch wenig gemeinsame Interessen. Wenn manchmal in einer Gruppe der Glaube an ein gemeinsames Interesse auftaucht, so erweist er sich bald als ein Irrtum. Gemeinsam läßt sich gegen das Gericht nichts durchsetzen. Jeder Fall wird für sich untersucht, es ist ja das sorgfältigste Gericht. Gemeinsam kann man also nichts durchsetzen, nur ein einzelner erreicht manchmal etwas im geheimen; erst wenn es erreicht ist, erfahren es die anderen; keiner weiß, wie es geschehen ist. Es gibt also keine Gemeinsamkeit, man kommt zwar hie und da in den Wartezimmern zusammen, aber dort wird wenig besprochen. Die abergläubischen Meinungen bestehen schon seit alters her und vermehren sich förmlich von selbst. « » Ich sah die Herren dort im Wartezimmer «, sagte K., » ihr Warten kam mir so nutzlos vor. « » Das Warten ist nicht nutzlos «, sagte der Kaufmann, » nutzlos ist nur das selbständige Eingreifen. Ich sagte schon, daß ich jetzt außer diesem noch fünf Advokaten habe. Man sollte doch glauben – ich selbst glaubte es zuerst –, jetzt könnte ich ihnen die Sache vollständig überlassen. Das wäre aber ganz falsch. Ich kann sie ihnen weniger überlassen, als wenn ich nur einen hätte. Sie verstehen das wohl nicht? « » Nein «, sagte K. und legte, um den Kaufmann an seinem allzu schnellen Reden zu hindern, die Hand beruhigend auf seine Hand, » ich möchte Sie nur bitten, ein wenig langsamer zu reden, es sind doch lauter für mich sehr wichtige Dinge, und ich kann Ihnen nicht recht folgen. « » Gut, daß Sie mich daran erinnern «, sagte der Kaufmann, » Sie sind ja ein Neuer, ein Junger. Ihr Prozeß ist ein halbes Jahr alt, nicht wahr? Ja, ich habe davon gehört. Ein so junger Prozeß! Ich aber habe diese Dinge schon unzähligemal durchgedacht, sie sind mir das Selbstverständlichste auf der Welt. « » Sie sind wohl froh, daß Ihr Prozeß schon so weit fortgeschritten ist? « fragte K., er wollte nicht geradezu fragen, wie die Angelegenheiten des Kaufmanns stünden. Er bekam aber auch keine deutliche Antwort. » Ja, ich habe meinen Prozeß fünf Jahre lang fortgewälzt «, sagte der Kaufmann und senkte den Kopf, » es ist keine kleine Leistung. « Dann schwieg er ein Weilchen. K. horchte, ob Leni nicht schon komme. Einerseits wollte er nicht, daß sie komme, denn er hatte noch vieles zu fragen und wollte auch nicht von Leni in diesem vertraulichen Gespräch mit dem Kaufmann angetroffen werden, andererseits aber ärgerte er sich darüber, daß sie trotz seiner Anwesenheit so lange beim Advokaten blieb, viel länger, als zum Reichen der Suppe nötig war. » Ich erinnere mich noch an die Zeit genau «, begann der Kaufmann wieder, und K. war gleich voll Aufmerksamkeit, » als mein Prozeß etwa so alt war wie jetzt Ihr Prozeß. Ich hatte damals nur diesen Advokaten, war aber nicht sehr mit ihm zufrieden. « Hier erfahre ich ja alles, dachte K. und nickte lebhaft mit dem Kopf, als könne er dadurch den Kaufmann aufmuntern, alles Wissenswerte zu sagen. » Mein Prozeß «, fuhr der Kaufmann fort, » kam nicht vorwärts, es fanden zwar Untersuchungen statt, ich kam auch zu jeder, sammelte Material, erlegte alle meine Geschäftsbücher bei Gericht, was, wie ich später erfuhr, nicht einmal nötig war, ich lief immer wieder zum Advokaten, er brachte auch verschiedene Eingaben ein –. « » Verschiedene Eingaben? « fragte K. » Ja, gewiß «, sagte der Kaufmann. » Das ist mir sehr wichtig «, sagte K., » in meinem Fall arbeitet er noch immer an der ersten Eingabe. Er hat noch nichts getan. Ich sehe jetzt, er vernachlässigt mich schändlich. « » Daß die Eingabe noch nicht fertig ist, kann verschiedene berechtigte Gründe haben «, sagte der Kaufmann. » Übrigens hatte es sich bei meinen Eingaben später gezeigt, daß sie ganz wertlos waren. Ich habe sogar eine durch das Entgegenkommen eines Gerichtsbeamten selbst gelesen. Sie war zwar gelehrt, aber eigentlich inhaltlos. Vor allem sehr viel Latein, das ich nicht verstehe, dann seitenlange allgemeine Anrufungen des Gerichtes, dann Schmeicheleien für einzelne bestimmte Beamte, die zwar nicht genannt waren, die aber ein Eingeweihter jedenfalls erraten mußte, dann Selbstlob des Advokaten, wobei er sich auf geradezu hündische Weise vor dem Gericht demütigte, und endlich Untersuchungen von Rechtsfällen aus alter Zeit, die dem meinigen ähnlich sein sollten. Diese Untersuchungen waren allerdings, soweit ich ihnen folgen konnte, sehr sorgfältig gemacht. Ich will auch mit diesem allen kein Urteil über die Arbeit des Advokaten abgeben, auch war die Eingabe, die ich gelesen habe, nur eine unter mehreren, jedenfalls aber, und davon will ich jetzt sprechen, konnte ich damals in meinem Prozeß keinen Fortschritt sehen. « » Was für einen Fortschritt wollten Sie denn sehen? « fragte K. » Sie fragen ganz vernünftig «, sagte der Kaufmann lächelnd, » man kann in diesem Verfahren nur selten Fortschritte sehen. Aber damals wußte ich das nicht. Ich bin Kaufmann und war es damals noch viel mehr als heute, ich wollte greifbare Fortschritte haben, das Ganze sollte sich zum Ende neigen oder wenigstens den regelrechten Aufstieg nehmen. Statt dessen gab es nur Einvernehmungen, die meist den gleichen Inhalt hatten; die Antworten hatte ich schon bereit wie eine Litanei; mehrmals in der Woche kamen Gerichtsboten in mein Geschäft, in meine Wohnung oder wo sie mich sonst antreffen konnten; das war natürlich störend (heute ist es wenigstens in dieser Hinsicht viel besser, der telephonische Anruf stört viel weniger), auch unter meinen Geschäftsfreunden, insbesondere aber unter meinen Verwandten, fingen Gerüchte von meinem Prozeß sich zu verbreiten an, Schädigungen gab es also von allen Seiten, aber nicht das geringste Anzeichen sprach dafür, daß auch nur die erste Gerichtsverhandlung in der nächsten Zeit stattfinden würde. Ich ging also zum Advokaten und beklagte mich. Er gab mir zwar lange Erklärungen, lehnte es aber entschieden ab, etwas in meinem Sinne zu tun, niemand habe Einfluß auf die Festsetzung der Verhandlung, in einer Eingabe darauf zu dringen – wie ich es verlangte –, sei einfach unerhört und würde mich und ihn verderben. Ich dachte: Was dieser Advokat nicht will oder kann, wird ein anderer wollen und können. Ich sah mich also nach anderen Advokaten um. Ich will es gleich vorwegnehmen: keiner hat die Festsetzung der Hauptverhandlung verlangt oder durchgesetzt, es ist, allerdings mit einem Vorbehalt, von dem ich noch sprechen werde, wirklich unmöglich, hinsichtlich dieses Punktes hat mich also dieser Advokat nicht getäuscht; im übrigen aber hatte ich es nicht zu bedauern, mich noch an andere Advokaten gewendet zu haben. Sie dürften wohl von Dr. Huld auch schon manches über die Winkeladvokaten gehört haben, er hat sie Ihnen wahrscheinlich als sehr verächtlich dargestellt, und das sind sie wirklich. Allerdings unterläuft ihm immer, wenn er von ihnen spricht und sich und seine Kollegen zu ihnen in Vergleich setzt, ein kleiner Fehler, auf den ich Sie ganz nebenbei auch aufmerksam machen will. Er nennt dann immer die Advokaten seines Kreises zur Unterscheidung die › großen Advokaten ‹. Das ist falsch, es kann sich natürlich jeder › groß ‹ nennen, wenn es ihm beliebt, in diesem Fall aber entscheidet doch nur der Gerichtsgebrauch. Nach diesem gibt es nämlich außer den Winkeladvokaten noch kleine und große Advokaten. Dieser Advokat und seine Kollegen sind jedoch nur die kleinen Advokaten, die großen Advokaten aber, von denen ich nur gehört und die ich nie gesehen habe, stehen im Rang unvergleichlich höher über den kleinen Advokaten als diese über den verachteten Winkeladvokaten. « » Die großen Advokaten? « fragte K. » Wer sind denn die? Wie kommt man zu ihnen? « » Sie haben also noch nie von ihnen gehört «, sagte der Kaufmann. » Es gibt kaum einen Angeklagten, der nicht, nachdem er von ihnen erfahren hat, eine Zeitlang von ihnen träumen würde. Lassen Sie sich lieber nicht dazu verführen. Wer die großen Advokaten sind, weiß ich nicht, und zu ihnen kommen kann man wohl gar nicht. Ich kenne keinen Fall, von dem sich mit Bestimmtheit sagen ließe, daß sie eingegriffen hätten. Manchen verteidigen sie, aber durch eigenen Willen kann man das nicht erreichen, sie verteidigen nur den, den sie verteidigen wollen. Die Sache, deren sie sich annehmen, muß aber wohl über das niedrige Gericht schon hinausgekommen sein. Im übrigen ist es besser, nicht an sie zu denken, denn sonst kommen einem die Besprechungen mit den anderen Advokaten, deren Ratschläge und deren Hilfeleistungen so widerlich und nutzlos vor, ich habe es selbst erfahren, daß man am liebsten alles wegwerfen, sich zu Hause ins Bett legen und von nichts mehr hören wollte. Das wäre aber natürlich wieder das Dümmste, auch hätte man im Bett nicht lange Ruhe. « » Sie dachten damals also nicht an die großen Advokaten? « fragte K. » Nicht lange «, sagte der Kaufmann und lächelte wieder, » vollständig vergessen kann man sie leider nicht, besonders die Nacht ist solchen Gedanken günstig. Aber damals wollte ich ja sofortige Erfolge, ich ging daher zu den Winkeladvokaten. « » Wie ihr hier beieinander sitzt! « rief Leni, die mit der Tasse zurückgekommen war und in der Tür stehenblieb. Sie saßen wirklich eng beisammen, bei der kleinsten Wendung mußten sie mit den Köpfen aneinanderstoßen, der Kaufmann, der, abgesehen von seiner Kleinheit, auch noch den Rücken gekrümmt hielt, hatte K. gezwungen, sich auch tief zu bücken, wenn er alles hören wollte. » Noch ein Weilchen! « rief K. Leni abwehrend zu und zuckte ungeduldig mit der Hand, die er noch immer auf des Kaufmanns Hand liegen hatte. » Er wollte, daß ich ihm von meinem Prozeß erzähle «, sagte der Kaufmann zu Leni. » Erzähle nur, erzähle «, sagte diese. Sie sprach mit dem Kaufmann liebevoll, aber doch auch herablassend, K. gefiel das nicht; wie er jetzt erkannt hatte, hatte der Mann doch einen gewissen Wert, zumindest hatte er Erfahrungen, die er gut mitzuteilen verstand. Leni beurteilte ihn wahrscheinlich unrichtig. Er sah ärgerlich zu, als Leni jetzt dem Kaufmann die Kerze, die er die ganze Zeit über festgehalten hatte, abnahm, ihm die Hand mit ihrer Schürze abwischte und dann neben ihm niederkniete, um etwas Wachs wegzukratzen, das von der Kerze auf seine Hose getropft war. » Sie wollten mir von den Winkeladvokaten erzählen «, sagte K. und schob, ohne eine weitere Bemerkung, Lenis Hand weg. » Was willst du denn? « fragte Leni, schlug leicht nach K. und setzte ihr Arbeit fort. » Ja, von den Winkeladvokaten «, sagte der Kaufmann und fuhr sich über die Stirn, als denke er nach. K. wollte ihm nachhelfen und sagte: » Sie wollten sofortige Erfolge haben und gingen deshalb zu den Winkeladvokaten. « » Ganz richtig «, sagte der Kaufmann, setzte aber nicht fort. » Er will vielleicht vor Leni nicht davon sprechen «, dachte K., bezwang seine Ungeduld, das Weitere gleich jetzt zu hören, und drang nun nicht mehr weiter in ihn. » Hast du mich angemeldet? « fragte er Leni. » Natürlich «, sagte diese, » er wartet auf dich. Laß jetzt Block, mit Block kannst du auch später reden, er bleibt doch hier. « K. zögerte noch. » Sie bleiben hier? « fragte er den Kaufmann, er wollte dessen eigene Antwort, er wollte nicht, daß Leni vom Kaufmann wie von einem Abwesenden sprach, er war heute gegen Leni voll geheimen Ärgers. Und wieder antwortete nur Leni: » Er schläft hier öfters. « » Schläft hier? « rief K., er hatte gedacht, der Kaufmann werde hier nur auf ihn warten, während er die Unterredung mit dem Advokaten rasch erledigen würde, dann aber würden sie gemeinsam fortgehen und alles gründlich und ungestört besprechen. » Ja «, sagte Leni, » nicht jeder wird wie du, Josef, zu beliebiger Stunde beim Advokaten vorgelassen. Du scheinst dich ja gar nicht darüber zu wundern, daß dich der Advokat trotz seiner Krankheit noch um elf Uhr nachts empfängt. Du nimmst das, was deine Freunde für dich tun, doch als gar zu selbstverständlich an. Nun, deine Freunde oder zumindest ich, tun es gerne. Ich will keinen anderen Dank und brauche auch keinen anderen, als daß du mich liebhast. « » Dich liebhaben? « dachte K. im ersten Augenblick, erst dann ging es ihm durch den Kopf: » Nun ja, ich habe sie lieb. « Trotzdem sagte er, alles andere vernachlässigend: » Er empfängt mich, weil ich sein Klient bin. Wenn auch dafür noch fremde Hilfe nötig wäre, müßte man bei jedem Schritt immer gleichzeitig betteln und danken. « » Wie schlimm er heute ist, nicht? « fragte Leni den Kaufmann. » Jetzt bin ich der Abwesende «, dachte K. und wurde fast sogar auf den Kaufmann böse, als dieser, die Unhöflichkeit Lenis übernehmend, sagte: » Der Advokat empfängt ihn auch noch aus anderen Gründen. Sein Fall ist nämlich interessanter als der meine. Außerdem aber ist sein Prozeß in den Anfängen, also wahrscheinlich noch nicht sehr verfahren, da beschäftigt sich der Advokat noch gern mit ihm. Später wird das anders werden. « » Ja, ja «, sagte Leni und sah den Kaufmann lachend an, » wie er schwatzt! Ihm darfst du nämlich «, hierbei wandte sie sich an K., » gar nichts glauben. So lieb er ist, so geschwätzig ist er. Vielleicht mag ihn der Advokat auch deshalb nicht leiden, Jedenfalls empfängt er ihn nur, wenn er in Laune ist. Ich habe mir schon viel Mühe gegeben, das zu ändern, aber es ist unmöglich. Denke nur, manchmal melde ich Block an, er empfängt ihn aber erst am dritten Tag nachher. Ist Block aber zu der Zeit, wenn er vorgerufen wird, nicht zur Stelle, so ist alles verloren und er muß von neuem angemeldet werden. Deshalb habe ich Block erlaubt, hier zu schlafen, es ist ja schon vorgekommen, daß er in der Nacht um ihn geläutet hat. Jetzt ist also Block auch in der Nacht bereit. Allerdings geschieht es jetzt wieder, daß der Advokat, wenn es sich zeigt, daß Block da ist, seinen Auftrag, ihn vorzulassen, manchmal widerruft. « K. sah fragend zum Kaufmann hin. Dieser nickte und sagte, so offen wie er früher mit K. gesprochen hatte, vielleicht war er zerstreut vor Beschämung: » Ja, man wird später sehr abhängig von seinem Advokaten. « » Er klagt ja nur zum Schein «, sagte Leni. » Er schläft ja hier sehr gern, wie er mir schon oft gestanden hat. « Sie ging zu einer kleinen Tür und stieß sie auf. » Willst du sein Schlafzimmer sehen? « fragte sie. K. ging hin und sah von der Schwelle aus in den niedrigen fensterlosen Raum, der von einem schmalen Bett vollständig ausgefüllt war. In dieses Bett mußte man über den Bettpfosten steigen. Am Kopfende des Bettes war eine Vertiefung in der Mauer, dort standen, peinlich geordnet, eine Kerze, Tintenfaß und Feder sowie ein Bündel Papiere, wahrscheinlich Prozeßschriften. » Sie schlafen im Dienstmädchenzimmer? « fragte K. und wendete sich zum Kaufmann zurück. » Leni hat es mir eingeräumt «, antwortete der Kaufmann, » es ist sehr vorteilhaft. « K. sah ihn lange an; der erste Eindruck, den er von dem Kaufmann erhalten hatte, war vielleicht doch der richtige gewesen; Erfahrungen hatte er, denn sein Prozeß dauerte schon lange, aber er hatte diese Erfahrungen teuer bezahlt. Plötzlich ertrug K. den Anblick des Kaufmanns nicht mehr. » Bring ihn doch ins Bett! « rief er Leni zu, die ihn gar nicht zu verstehen schien. Er selbst aber wollte zum Advokaten gehen und durch die Kündigung sich nicht nur vom Advokaten, sondern auch von Leni und dem Kaufmann befreien. Aber noch ehe er zur Tür gekommen war, sprach ihn der Kaufmann mit leiser Stimme an: » Herr Prokurist «, K. wandte sich mit bösem Gesicht um. » Sie haben Ihr Versprechen vergessen «, sagte der Kaufmann und streckte sich von seinem Sitz aus bittend K. entgegen. » Sie wollten mir noch ein Geheimnis sagen. « » Wahrhaftig «, sagte K. und streifte auch Leni, die ihn aufmerksam ansah, mit einem Blick, » also hören Sie: es ist allerdings fast kein Geheimnis mehr. Ich gehe jetzt zum Advokaten, um ihn zu entlassen. « » Er entläßt ihn! « rief der Kaufmann, sprang vom Sessel und lief mit erhobenen Armen in der Küche umher. Immer wieder rief er: » Er entläßt den Advokaten! « Leni wollte gleich auf K. losfahren, aber der Kaufmann kam ihr in den Weg, wofür sie ihm mit den Fäusten einen Hieb gab. Noch mit den zu Fäusten geballten Händen lief sie dann hinter K., der aber einen großen Vorsprung hatte. Er war schon in das Zimmer des Advokaten eingetreten, als ihn Leni einholte. Die Tür hatte er hinter sich fast geschlossen, aber Leni, die mit dem Fuß den Türflügel offenhielt, faßte ihn beim Arm und wollte ihn zurückziehen. Aber er drückte ihr Handgelenk so stark, daß sie unter einem Seufzer ihn loslassen mußte. Ins Zimmer einzutreten, wagte sie nicht gleich, K. aber versperrte die Tür mit dem Schlüssel. » Ich warte schon sehr lange auf Sie «, sagte der Advokat vom Bett aus, legte ein Schriftstück, das er beim Licht einer Kerze gelesen hatte, auf das Nachttischchen und setzte sich eine Brille auf, mit der er K. scharf ansah. Statt sich zu entschuldigen, sagte K.: » Ich gehe bald wieder weg. « Der Advokat hatte K.s Bemerkung, weil sie keine Entschuldigung war, unbeachtet gelassen und sagte: » Ich werde Sie nächstens zu dieser späten Stunde nicht mehr vorlassen. « » Das kommt meinem Anliegen entgegen «, sagte K. Der Advokat sah ihn fragend an. » Setzen Sie sich «, sagte er. » Weil Sie es wünschen «, sagte K., zog einen Sessel zum Nachttischchen und setzte sich. » Es schien mir, daß Sie die Tür abgesperrt haben «, sagte der Advokat. » Ja «, sagte K., » es war Lenis wegen. « Er hatte nicht die Absicht, irgend jemanden zu schonen. Aber der Advokat fragte: » War sie wieder zudringlich? « » Zudringlich? « fragte K. » Ja «, sagte der Advokat, er lachte dabei, bekam einen Hustenanfall und begann, nachdem dieser vergangen war, wieder zu lachen. » Sie haben doch wohl ihre Zudringlichkeit schon bemerkt? « fragte er und klopfte K. auf die Hand, die dieser zerstreut auf das Nachttischchen gestützt hatte und die er jetzt rasch zurückzog. » Sie legen dem nicht viel Bedeutung bei «, sagte der Advokat, als K. schwieg, » desto besser. Sonst hätte ich mich vielleicht bei Ihnen entschuldigen müssen. Es ist eine Sonderbarkeit Lenis, die ich ihr übrigens längst verziehen habe und von der ich auch nicht reden würde, wenn Sie nicht eben jetzt die Tür abgesperrt hätten. Diese Sonderbarkeit, Ihnen allerdings müßte ich sie wohl am wenigsten erklären, aber Sie sehen mich so bestürzt an und deshalb tue ich es, diese Sonderbarkeit besteht darin, daß Leni die meisten Angeklagten schön findet. Sie hängt sich an alle, liebt alle, scheint allerdings auch von allen geliebt zu werden; um mich zu unterhalten, erzählt sie mir dann, wenn ich es erlaube, manchmal davon. Ich bin über das Ganze nicht so erstaunt, wie Sie es zu sein scheinen. Wenn man den richtigen Blick dafür hat, findet man die Angeklagten wirklich oft schön. Das allerdings ist eine merkwürdige, gewissermaßen naturwissenschaftliche Erscheinung. Es tritt natürlich als Folge der Anklage nicht etwa eine deutliche, genau zu bestimmende Veränderung des Aussehens ein. Es ist doch nicht wie bei anderen Gerichtssachen, die meisten bleiben in ihrer gewöhnlichen Lebensweise und werden, wenn sie einen guten Advokaten haben, der für sie sorgt, durch den Prozeß nicht behindert. Trotzdem sind diejenigen, welche darin Erfahrung haben, imstande, aus der größten Menge die Angeklagten, Mann für Mann, zu erkennen. Woran? werden Sie fragen. Meine Antwort wird Sie nicht befriedigen. Die Angeklagten sind eben die Schönsten. Es kann nicht die Schuld sein, die sie schön macht, denn – so muß wenigstens ich als Advokat sprechen – es sind doch nicht alle schuldig, es kann auch nicht die richtige Strafe sein, die sie jetzt schon schön macht, denn es werden doch nicht alle bestraft, es kann also nur an dem gegen sie erhobenen Verfahren liegen, das ihnen irgendwie anhaftet. Allerdings gibt es unter den Schönen auch besonders schöne. Schön sind aber alle, selbst Block, dieser elende Wurm. « K. war, als der Advokat geendet hatte, vollständig gefaßt, er hatte sogar zu den letzten Worten auffallend genickt und sich so selbst die Bestätigung seiner alten Ansicht gegeben, nach welcher der Advokat ihn immer und so auch diesmal durch allgemeine Mitteilungen, die nicht zur Sache gehörten, zu zerstreuen und von der Hauptfrage, was er an tatsächlicher Arbeit für K.s Sache getan hatte, abzulenken suchte. Der Advokat merkte wohl, daß ihm K. diesmal mehr Widerstand leistete als sonst, denn er verstummte jetzt, um K. die Möglichkeit zu geben, selbst zu sprechen, und fragte dann, da K. stumm blieb: » Sind Sie heute mit einer bestimmten Absicht zu mir gekommen? « » Ja «, sagte K. und blendete mit der Hand ein wenig die Kerze ab, um den Advokaten besser zu sehen, » ich wollte Ihnen sagen, daß ich Ihnen mit dem heutigen Tage meine Vertretung entziehe. « » Verstehe ich Sie recht? « fragte der Advokat, erhob sich halb im Bett und stützte sich mit einer Hand auf die Kissen. » Ich nehme es an «, sagte K., der straff aufgerichtet, wie auf der Lauer, dasaß. » Nun, wir können ja auch diesen Plan besprechen «, sagte der Advokat nach einem Weilchen. » Es ist kein Plan mehr «, sagte K. » Mag sein «, sagte der Advokat, » wir wollen aber trotzdem nichts übereilen. « Er gebrauchte das Wort » wir «, als habe er nicht die Absicht, K. freizulassen, und als wolle er, wenn er schon nicht sein Vertreter sein dürfte, wenigstens sein Berater bleiben. » Es ist nicht übereilt «, sagte K., stand langsam auf und trat hinter seinen Sessel, » es ist gut überlegt und vielleicht sogar zu lange. Der Entschluß ist endgültig. « » Dann erlauben Sie mir nur noch einige Worte «, sagte der Advokat, hob das Federbett weg und setzte sich auf den Bettrand. Seine nackten, weißhaarigen Beine zitterten vor Kälte. Er bat K., ihm vom Kanapee eine Decke zu reichen. K. holte die Decke und sagte: » Sie setzten sich ganz unnötig einer Verkühlung aus. « » Der Anlaß ist wichtig genug «, sagte der Advokat, während er mit dem Federbett den Oberkörper umhüllte und dann die Beine in die Decke einwickelte. » Ihr Onkel ist mein Freund, und auch Sie sind mir im Laufe der Zeit lieb geworden. Ich gestehe das offen ein. Ich brauche mich dessen nicht zu schämen. « Diese rührseligen Reden des alten Mannes waren K. sehr unwillkommen, denn sie zwangen ihn zu einer ausführlicheren Erklärung, die er gern vermieden hätte, und sie beirrten ihn außerdem, wie er sich offen eingestand, wenn sie allerdings auch seinen Entschluß niemals rückgängig machen konnten. » Ich danke Ihnen für Ihre freundliche Gesinnung «, sagte er, » ich erkenne auch an, daß Sie sich meiner Sache so sehr angenommen haben, wie es Ihnen möglich ist und wie es Ihnen für mich vorteilhaft scheint. Ich jedoch habe in der letzten Zeit die Überzeugung gewonnen, daß das nicht genügend ist. Ich werde natürlich niemals versuchen, Sie, einen soviel älteren und erfahreneren Mann, von meiner Ansicht überzeugen zu wollen; wenn ich es manchmal unwillkürlich versucht habe, so verzeihen Sie mir, die Sache aber ist, wie Sie sich selbst ausdrückten, wichtig genug, und es ist meiner Überzeugung nach notwendig, viel kräftiger in den Prozeß einzugreifen, als es bisher geschehen ist. « » Ich verstehe Sie «, sagte der Advokat, » Sie sind ungeduldig. « » Ich bin nicht ungeduldig «, sagte K. ein wenig gereizt und achtete nicht mehr soviel auf seine Worte. » Sie dürften bei meinem ersten Besuch, als ich mit meinem Onkel zu Ihnen kam, bemerkt haben, daß mir an dem Prozeß nicht viel lag, wenn man mich nicht gewissermaßen gewaltsam an ihn erinnerte, vergaß ich ihn vollständig. Aber mein Onkel bestand darauf, daß ich Ihnen meine Vertretung übergebe, ich tat es, um ihm gefällig zu sein. Und nun hätte man doch erwarten sollen, daß mir der Prozeß noch leichter fallen würde als bis dahin, denn man übergibt doch dem Advokaten die Vertretung, um die Last des Prozesses ein wenig von sich abzuwälzen. Es geschah aber das Gegenteil. Niemals früher hatte ich so große Sorgen wegen des Prozesses wie seit der Zeit, seitdem Sie mich vertreten. Als ich allein war, unternahm ich nichts in meiner Sache, aber ich fühlte es kaum, jetzt dagegen hatte ich einen Vertreter, alles war dafür eingerichtet, daß etwas geschehe, unaufhörlich und immer gespannter erwartete ich Ihr Eingreifen, aber es blieb aus. Ich bekam von Ihnen allerdings verschiedene Mitteilungen über das Gericht, die ich vielleicht von niemandem sonst hätte bekommen können. Aber das kann mir nicht genügen, wenn mir jetzt der Prozeß, förmlich im geheimen, immer näher an den Leib rückt. « K. hatte den Sessel von sich gestoßen und stand, die Hände in den Rocktaschen, aufrecht da. » Von einem gewissen Zeitpunkt der Praxis an «, sagte der Advokat leise und ruhig, » ereignet sich nichts wesentlich Neues mehr. Wie viele Parteien sind in ähnlichen Stadien der Prozesse ähnlich wie Sie vor mir gestanden und haben ähnlich gesprochen! « » Dann haben «, sagte K., » alle diese ähnlichen Parteien ebenso recht gehabt wie ich. Das widerlegt mich gar nicht. « » Ich wollte Sie damit nicht widerlegen «, sagte der Advokat, » ich wollte aber noch hinzufügen, daß ich bei Ihnen mehr Urteilskraft erwartet hätte als bei den anderen, besonders da ich Ihnen mehr Einblick in das Gerichtswesen und in meine Tätigkeit gegeben habe, als ich es sonst Parteien gegenüber tue. Und nun muß ich sehen, daß Sie trotz allem nicht genügend Vertrauen zu mir haben. Sie machen es mir nicht leicht. « Wie sich der Advokat vor K. demütigte! Ohne jede Rücksicht auf die Standesehre, die gewiß gerade in diesem Punkte am empfindlichsten ist. Und warum tat er das? Er war doch dem Anschein nach ein vielbeschäftigter Advokat und überdies ein reicher Mann, es konnte ihm an und für sich weder an dem Verdienstentgang noch an dem Verlust eines Klienten viel liegen. Außerdem war er kränklich und hätte selbst darauf bedacht sein sollen, daß ihm Arbeit abgenommen werde. Und trotzdem hielt er K. so fest! Warum? War es persönliche Anteilnahme für den Onkel oder sah er K.s Prozeß wirklich für so außerordentlich an und hoffte, sich darin auszuzeichnen, entweder für K. oder – diese Möglichkeit war eben niemals auszuschließen – für die Freunde beim Gericht? An ihm selbst war nichts zu erkennen, so rücksichtslos ihn auch K. ansah. Man hätte fast annehmen können, er warte mit absichtlich verschlossener Miene die Wirkung seiner Worte ab. Aber er deutete offenbar das Schweigen K.s für sich allzu günstig, wenn er jetzt fortfuhr: » Sie werden bemerkt haben, daß ich zwar eine große Kanzlei habe, aber keine Hilfskräfte beschäftige. Das war früher anders, es gab eine Zeit, wo einige junge Juristen für mich arbeiteten, heute arbeite ich allein. Es hängt dies zum Teil mit der Änderung meiner Praxis zusammen, indem ich mich immer mehr auf Rechtssachen von der Art der Ihrigen beschränke, zum Teil mit der immer tieferen Erkenntnis, die ich von diesen Rechtssachen erhielt. Ich fand, daß ich diese Arbeit niemandem überlassen dürfe, wenn ich mich nicht an meinen Klienten und an der Aufgabe, die ich übernommen hatte, versündigen wollte. Der Entschluß aber, alle Arbeit selbst zu leisten, hatte die natürlichen Folgen: ich mußte fast alle Ansuchen um Vertretungen abweisen und konnte nur denen nachgeben, die mir besonders nahegingen – nun, es gibt ja genug Kreaturen, und sogar ganz in der Nähe, die sich auf jeden Brocken stürzen, den ich wegwerfe. Und außerdem wurde ich vor Überanstrengung krank. Aber trotzdem bereue ich meinen Entschluß nicht, es ist möglich, daß ich mehr Vertretungen hätte abweisen sollen, als ich getan habe, daß ich aber den übernommenen Prozessen mich ganz hingegeben habe, hat sich als unbedingt notwendig herausgestellt und durch die Erfolge belohnt. Ich habe einmal in einer Schrift den Unterschied sehr schön ausgedrückt gefunden, der zwischen der Vertretung in gewöhnlichen Rechtssachen und der Vertretung in diesen Rechtssachen besteht. Es hieß dort: der Advokat führt seinen Klienten an einem Zwirnsfaden bis zum Urteil, der andere aber hebt seinen Klienten gleich auf die Schultern und trägt ihn, ohne ihn abzusetzen, zum Urteil und noch darüber hinaus. So ist es. Aber es war nicht ganz richtig, wenn ich sagte, daß ich diese große Arbeit niemals bereue. Wenn sie, wie in Ihrem Fall, so vollständig verkannt wird, dann, nun dann bereue ich fast. « K. wurde durch diese Reden mehr ungeduldig als überzeugt. Er glaubte irgendwie aus dem Tonfall des Advokaten herauszuhören, was ihn erwartete, wenn er nachgäbe, wieder würden Vertröstungen beginnen, die Hinweise auf die fortschreitende Eingabe, auf die gebesserte Stimmung der Gerichtsbeamten, aber auch auf die großen Schwierigkeiten, die sich der Arbeit entgegenstellten, – kurz, all das bis zum Überdruß Bekannte würde hervorgeholt werden, um K. wieder mit unbestimmten Hoffnungen zu täuschen und mit unbestimmten Drohungen zu quälen. Das mußte endgültig verhindert werden, er sagte deshalb: » Was wollen Sie in meiner Sache unternehmen, wenn Sie die Vertretung behalten? « Der Advokat fügte sich sogar dieser beleidigenden Frage und antwortete: » In dem, was ich für Sie bereits unternommen habe, weiter fortfahren. « » Ich wußte es ja «, sagte K., » nun ist aber jedes weitere Wort überflüssig. « » Ich werde noch einen Versuch machen «, sagte der Advokat, als geschehe das, was K. erregte, nicht K., sondern ihm. » Ich habe nämlich die Vermutung, daß Sie nicht nur zu der falschen Beurteilung meines Rechtsbeistandes, sondern auch zu Ihrem sonstigen Verhalten dadurch verleitet werden, daß man Sie, obwohl Sie Angeklagter sind, zu gut behandelt oder, richtiger ausgedrückt, nachlässig, scheinbar nachlässig behandelt. Auch dieses letztere hat seinen Grund; es ist oft besser, in Ketten, als frei zu sein. Aber ich möchte Ihnen doch zeigen, wie andere Angeklagte behandelt werden, vielleicht gelingt es Ihnen, daraus eine Lehre zu nehmen. Ich werde jetzt nämlich Block vorrufen, sperren Sie die Tür auf und setzen Sie sich hier neben den Nachttisch! « » Gerne «, sagte K. und tat, was der Advokat verlangt hatte; zu lernen war er immer bereit. Um sich aber für jeden Fall zu sichern, fragte er noch: » Sie haben aber zur Kenntnis genommen, daß ich Ihnen meine Vertretung entziehe? « » Ja «, sagte der Advokat, » Sie können es aber heute noch rückgängig machen. « Er legte sich wieder ins Bett zurück, zog das Federbett bis zum Kinn und drehte sich der Wand zu. Dann läutete er. Fast gleichzeitig mit dem Glockenzeichen erschien Leni, sie suchte durch rasche Blicke zu erfahren, was geschehen war; daß K. ruhig beim Bett des Advokaten saß, schien ihr beruhigend. Sie nickte K., der sie starr ansah, lächelnd zu. » Hole Block «, sagte der Advokat. Statt ihn aber zu holen, trat sie nur vor die Tür, rief: » Block! Zum Advokaten! « und schlüpfte dann, wahrscheinlich weil der Advokat zur Wand abgekehrt blieb und sich um nichts kümmerte, hinter K.s Sessel. Sie störte ihn von nun ab, indem sie sich über die Sessellehne vorbeugte oder mit den Händen, allerdings sehr zart und vorsichtig, durch sein Haar fuhr und über seine Wangen strich. Schließlich suchte K. sie daran zu hindern, indem er sie bei einer Hand erfaßte, die sie ihm nach einigem Widerstreben überließ. Block war auf den Anruf hin gleich gekommen, blieb aber vor der Tür stehen und schien zu überlegen, ob er eintreten sollte. Er zog die Augenbrauen hoch und neigte den Kopf, als horche er, ob sich der Befehl, zum Advokaten zu kommen, wiederholen würde. K. hätte ihn zum Eintreten aufmuntern können, aber er hatte sich vorgenommen, nicht nur mit dem Advokaten, sondern mit allem, was hier in der Wohnung war, endgültig zu brechen und verhielt sich deshalb regungslos. Auch Leni schwieg. Block bemerkte, daß ihn wenigstens niemand verjage und trat auf den Fußspitzen ein, das Gesicht gespannt, die Hände auf dem Rücken verkrampft. Die Tür hatte er für einen möglichen Rückzug offen gelassen. K. blickte er gar nicht an, sondern immer nur das hohe Federbett, unter dem der Advokat, da er sich ganz nahe an die Wand geschoben hatte, nicht einmal zu sehen war. Da hörte man aber seine Stimme: » Block hier? « fragte er. Diese Frage gab Block, der schon eine große Strecke weitergerückt war, förmlich einen Stoß in die Brust und dann einen in den Rücken, er taumelte, blieb tief gebückt stehen und sagte: » Zu dienen. « » Was willst du? « fragte der Advokat, » du kommst ungelegen. « » Wurde ich nicht gerufen? « fragte Block mehr sich selbst als den Advokaten, hielt die Hände zum Schutze vor und war bereit, wegzulaufen. » Du wurdest gerufen «, sagte der Advokat, » trotzdem kommst du ungelegen. « Und nach einer Pause fügte er hinzu: » Du kommst immer ungelegen. « Seitdem der Advokat sprach, sah Block nicht mehr auf das Bett hin, er starrte vielmehr irgendwo in eine Ecke und lauschte nur, als sei der Anblick des Sprechers zu blendend, als daß er ihn ertragen könnte. Es war aber auch das Zuhören schwer, denn der Advokat sprach gegen die Wand, und zwar leise und schnell. » Wollt Ihr, daß ich weggehe? « fragte Block. » Nun bist du einmal da «, sagte der Advokat. » Bleib! « Man hätte glauben können, der Advokat habe nicht Blocks Wunsch erfüllt, sondern ihm, etwa mit Prügeln, gedroht, denn jetzt fing Block wirklich zu zittern an. » Ich war gestern «, sagte der Advokat, » beim Dritten Richter, meinem Freund, und habe allmählich das Gespräch auf dich gelenkt. Willst du wissen, was er sagte? « » O bitte «, sagte Block. Da der Advokat nicht gleich antwortete, wiederholte Block nochmals die Bitte und neigte sich, als wolle er niederknien. Da fuhr ihn aber K. an: » Was tust du? « rief er. Da ihn Leni an dem Ausruf hatte hindern wollen, faßte er auch ihre zweite Hand. Es war nicht der Druck der Liebe, mit dem er sie festhielt, sie seufzte auch öfters und suchte ihm die Hände zu entwinden. Für K.s Ausruf aber wurde Block gestraft, denn der Advokat fragte ihn: » Wer ist denn dein Advokat? « » Ihr seid es «, sagte Block. » Und außer mir? « fragte der Advokat. » Niemand außer Euch «, sagte Block. » Dann folge auch niemandem sonst «, sagte der Advokat. Block erkannte das vollständig an, er maß K. mit bösen Blicken und schüttelte heftig gegen ihn den Kopf. Hätte man dieses Benehmen in Worte übersetzt, so wären es grobe Beschimpfungen gewesen. Mit diesem Menschen hatte K. freundschaftlich über seine eigene Sache reden wollen! » Ich werde dich nicht mehr stören «, sagte K., in den Sessel zurückgelehnt. » Knie nieder oder krieche auf allen vieren, tu, was du willst. Ich werde mich darum nicht kümmern. « Aber Block hatte doch Ehrgefühl, wenigstens gegenüber K., denn er ging, mit den Fäusten fuchtelnd, auf ihn zu, und rief so laut, als er es nur in der Nähe des Advokaten wagte: » Sie dürfen nicht so mit mir reden, das ist nicht erlaubt. Warum beleidigen Sie mich? Und überdies noch hier, vor dem Herrn Advokaten, wo wir beide, Sie und ich, nur aus Barmherzigkeit geduldet sind? Sie sind kein besserer Mensch als ich, denn Sie sind auch angeklagt und haben auch einen Prozeß. Wenn Sie aber trotzdem noch ein Herr sind, dann bin ich ein ebensolcher Herr, wenn nicht gar ein noch größerer. Und ich will auch als ein solcher angesprochen werden, gerade von Ihnen. Wenn Sie sich aber dadurch für bevorzugt halten, daß Sie hier sitzen und ruhig zuhören dürfen, während ich, wie Sie sich ausdrücken, auf allen vieren krieche, dann erinnere ich Sie an den alten Rechtsspruch: für den Verdächtigen ist Bewegung besser als Ruhe, denn der, welcher ruht, kann immer, ohne es zu wissen, auf einer Waagschale sein und mit seinen Sünden gewogen werden. « K. sagte nichts, er staunte nur mit unbeweglichen Augen diesen verwirrten Menschen an. Was für Veränderungen waren mit ihm nur schon in der letzten Stunde vor sich gegangen! War es der Prozeß, der ihn so hin und her warf und ihn nicht erkennen ließ, wo Freund und wo Feind war? Sah er denn nicht, daß der Advokat ihn absichtlich demütigte und diesmal nichts anderes bezweckte, als sich vor K. mit seiner Macht zu brüsten und sich dadurch vielleicht auch K. zu unterwerfen? Wenn Block aber nicht fähig war, das zu erkennen oder wenn er den Advokaten so sehr fürchtete, daß ihm jene Erkenntnis nichts helfen konnte, wie kam es, daß er doch wieder so schlau oder so kühn war, den Advokaten zu betrügen und ihm zu verschweigen, daß er außer ihm noch andere Advokaten für sich arbeiten ließ? Und wie wagte er es, K. anzugreifen, da dieser doch gleich sein Geheimnis verraten konnte? Aber er wagte noch mehr, er ging zum Bett des Advokaten und begann, sich nun auch dort über K. zu beschweren: » Herr Advokat «, sagte er, » habt Ihr gehört, wie dieser Mann mit mir gesprochen hat? Man kann noch die Stunden seines Prozesses zählen, und schon will er mir, einem Mann, der Fünfjahre im Prozesse steht, gute Lehren geben. Er beschimpft mich sogar. Weiß nichts und beschimpft mich, der ich, soweit meine schwachen Kräfte reichen, genau studiert habe, was Anstand, Pflicht und Gerichtsgebrauch verlangt. « » Kümmere dich um niemanden «, sagte der Advokat, » und tue, was dir richtig scheint. « » Gewiß «, sagte Block, als spreche er sich selbst Mut zu, und kniete unter einem kurzen Seitenblick nun knapp beim Bett nieder. » Ich knie schon, mein Advokat «, sagte er. Der Advokat schwieg aber. Block streichelte mit einer Hand vorsichtig das Federbett. In der Stille, die jetzt herrschte, sagte Leni, indem sie sich von K.s Händen befreite: » Du machst mir Schmerzen. Laß mich. Ich gehe zu Block. « Sie ging hin und setzte sich auf den Bettrand. Block war über ihr Kommen sehr erfreut, er bat sie gleich durch lebhafte, aber stumme Zeichen, sich beim Advokaten für ihn einzusetzen. Er benötigte offenbar die Mitteilungen des Advokaten sehr dringend, aber vielleicht nur zu dem Zweck, um sie durch seine übrigen Advokaten ausnutzen zu lassen. Leni wußte wahrscheinlich genau, wie man dem Advokaten beikommen könne, sie zeigte auf die Hand des Advokaten und spitzte die Lippen wie zum Kuß. Gleich führte Block den Handkuß aus und wiederholte ihn, auf eine Aufforderung Lenis hin, noch zweimal. Aber der Advokat schwieg noch immer. Da beugte sich Leni über den Advokaten hin, der schöne Wuchs ihres Körpers wurde sichtbar, als sie sich so streckte, und strich, tief zu seinem Gesicht geneigt, über sein langes, weißes Haar. Das zwang ihm nun doch eine Antwort ab. » Ich zögere, es ihm mitzuteilen «, sagte der Advokat, und man sah, wie er den Kopf ein wenig schüttelte, vielleicht, um des Druckes von Lenis Hand mehr teilhaftig zu werden. Block horchte mit gesenktem Kopf, als übertrete er durch dieses Horchen ein Gebot. » Warum zögerst du denn? « fragte Leni. K. hatte das Gefühl, als höre er ein einstudiertes Gespräch, das sich schon oft wiederholt hatte, das sich noch oft wiederholen würde und das nur für Block seine Neuheit nicht verlieren konnte. » Wie hat er sich heute verhalten? « fragte der Advokat, statt zu antworten. Ehe sich Leni darüber äußerte, sah sie zu Block hinunter und beobachtete ein Weilchen, wie er die Hände ihr entgegenhob und bittend aneinander rieb. Schließlich nickte sie ernst, wandte sich zum Advokaten und sagte: » Er war ruhig und fleißig. « Ein alter Kaufmann, ein Mann mit langem Bart, flehte ein junges Mädchen um ein günstiges Zeugnis an. Mochte er dabei auch Hintergedanken haben, nichts konnte ihn in den Augen eines Mitmenschen rechtfertigen. K. begriff nicht, wie der Advokat daran hatte denken können, durch diese Vorführung ihn zu gewinnen. Hätte er ihn nicht schon früher verjagt, er hätte es durch diese Szene erreicht. Er entwürdigte fast den Zuseher. So bewirkte also die Methode des Advokaten, welcher K. glücklicherweise nicht lange genug ausgesetzt gewesen war, daß der Klient schließlich die ganze Welt vergaß und nur auf diesem Irrweg zum Ende des Prozesses sich fortzuschleppen hoffte. Das war kein Klient mehr, das war der Hund des Advokaten. Hätte ihm dieser befohlen, unter das Bett wie in eine Hundehütte zu kriechen und von dort aus zu bellen, er hätte es mit Lust getan. Als sei K. beauftragt, alles, was hier gesprochen wurde, genau in sich aufzunehmen, an einem höheren Ort die Anzeige davon zu erstatten und einen Bericht abzulegen, hörte er prüfend und überlegen zu. » Was hat er während des ganzen Tages getan? « fragte der Advokat. » Ich habe ihn «, sagte Leni, » damit er mich bei der Arbeit nicht störe, in dem Dienstmädchenzimmer eingesperrt, wo er sich ja gewöhnlich aufhält. Durch die Lücke konnte ich von Zeit zu Zeit nachsehen, was er machte. Er kniete immer auf dem Bett, hatte die Schriften, die du ihm geliehen hast, auf dem Fensterbrett aufgeschlagen und las in ihnen. Das hat einen guten Eindruck auf mich gemacht; das Fenster führt nämlich nur in einen Luftschacht und gibt fast kein Licht. Daß Block trotzdem las, zeigte mir, wie folgsam er ist. « » Es freut mich, das zu hören «, sagte der Advokat. » Hat er aber auch mit Verständnis gelesen? « Block bewegte während dieses Gesprächs unaufhörlich die Lippen, offenbar formulierte er die Antworten, die er von Leni erhoffte. » Darauf kann ich natürlich «, sagte Leni, » nicht mit Bestimmtheit antworten. Jedenfalls habe ich gesehen, daß er gründlich las. Er hat den ganzen Tag über die gleiche Seite gelesen und beim Lesen den Finger die Zeilen entlanggeführt. Immer, wenn ich zu ihm hineinsah, hat er geseufzt, als mache ihm das Lesen viel Mühe. Die Schriften, die du ihm geliehen hast, sind wahrscheinlich schwer verständlich. « » Ja «, sagte der Advokat, » das sind sie allerdings. Ich glaube auch nicht, daß er etwas von ihnen versteht. Sie sollen ihm nur eine Ahnung davon geben, wie schwer der Kampf ist, den ich zu seiner Verteidigung führe. Und für wen führe ich diesen schweren Kampf? Für – es ist fast lächerlich, es auszusprechen – für Block. Auch was das bedeutet, soll er begreifen lernen. Hat er ununterbrochen studiert? « » Fast ununterbrochen «, antwortete Leni, » nur einmal hat er mich um Wasser zum Trinken gebeten. Da habe ich ihm ein Glas durch die Luke gereicht. Um acht Uhr habe ich ihn dann herausgelassen und ihm etwas zu essen gegeben. « Block streifte K. mit einem Seitenblick, als werde hier Rühmendes von ihm erzählt und müsse auch auf K. Eindruck machen. Er schien jetzt gute Hoffnungen zu haben, bewegte sich freier und rückte auf den Knien hin und her. Desto deutlicher war es, wie er unter den folgenden Worten des Advokaten erstarrte: » Du lobst ihn «, sagte der Advokat. » Aber gerade das macht es mir schwer, zu reden. Der Richter hatte sich nämlich nicht günstig ausgesprochen, weder über Block selbst, noch über seinen Prozeß. « » Nicht günstig? « fragte Leni. » Wie ist das möglich? « Block sah sie mit einem so gespannten Blick an, als traue er ihr die Fähigkeit zu, jetzt noch die längst ausgesprochenen Worte des Richters zu seinen Gunsten zu wenden. » Nicht günstig «, sagte der Advokat. » Er war sogar unangenehm berührt, als ich von Block zu sprechen anfing. › Reden Sie nicht von Block ‹, sagte er. › Er ist mein Klient ‹, sagte ich. › Sie lassen sich mißbrauchen ‹, sagte er. › Ich halte seine Sache nicht für verloren ‹, sagte ich. › Sie lassen sich mißbrauchen ‹, wiederholte er. › Ich glaube es nicht ‹, sagte ich. › Block ist im Prozeß fleißig und immer hinter seiner Sache her. Er wohnt fast bei mir, um immer auf dem laufenden zu sein. Solchen Eifer findet man nicht immer. Gewiß, er ist persönlich nicht angenehm, hat häßliche Umgangsformen und ist schmutzig, aber in prozessualer Hinsicht ist er untadelhaft. ‹ Ich sagte untadelhaft, ich übertrieb absichtlich. Darauf sagte er: › Block ist bloß schlau. Er hat viel Erfahrung angesammelt und versteht es, den Prozeß zu verschleppen. Aber seine Unwissenheit ist noch viel größer als seine Schlauheit. Was würde er wohl dazu sagen, wenn er erführe, daß sein Prozeß noch gar nicht begonnen hat, wenn man ihm sagte, daß noch nicht einmal das Glockenzeichen zum Beginn des Prozesses gegeben ist. ‹ Ruhig, Block «, sagte der Advokat, denn Block begann sich gerade auf unsicheren Knien zu erheben und wollte offenbar um Aufklärung bitten. Es war jetzt das erstemal, daß sich der Advokat mit ausführlichen Worten geradezu an Block wendete. Mit müden Augen sah er halb ziellos, halb zu Block hinunter, der unter diesem Blick wieder langsam in die Knie zurücksank. » Diese Äußerung des Richters hat für dich gar keine Bedeutung «, sagte der Advokat. » Erschrick doch nicht bei jedem Wort. Wenn sich das wiederholt, werde ich dir gar nichts mehr verraten. Man kann keinen Satz beginnen, ohne daß du einen anschaust, als ob jetzt dein Endurteil käme. Schäme dich hier vor meinem Klienten! Auch erschütterst du das Vertrauen, das er in mich setzt. Was willst du denn? Noch lebst du, noch stehst du unter meinem Schutz. Sinnlose Angst! Du hast irgendwo gelesen, daß das Endurteil in manchen Fällen unversehens komme, aus beliebigem Munde, zu beliebiger Zeit. Mit vielen Vorbehalten ist das allerdings wahr, ebenso wahr aber ist es, daß mich deine Angst anwidert und daß ich darin einen Mangel des notwendigen Vertrauens sehe. Was habe ich denn gesagt? Ich habe die Äußerung eines Richters wiedergegeben. Du weißt, die verschiedenen Ansichten häufen sich um das Verfahren bis zur Undurchdringlichkeit. Dieser Richter zum Beispiel nimmt den Anfang des Verfahrens zu einem anderen Zeitpunkt an als ich. Ein Meinungsunterschied, nichts weiter. In einem gewissen Stadium des Prozesses wird nach altem Brauch ein Glockenzeichen gegeben. Nach der Ansicht dieses Richters beginnt damit der Prozeß. Ich kann dir jetzt nicht alles sagen, was dagegen spricht, du würdest es auch nicht verstehen, es genüge dir, daß viel dagegen spricht. « Verlegen fuhr Block unten mit den Fingern durch das Fell des Bettvorlegers, die Angst wegen des Ausspruchs des Richters ließ ihn zeitweise die eigene Untertänigkeit gegenüber dem Advokaten vergessen, er dachte dann nur an sich und drehte die Worte des Richters nach allen Seiten. » Block «, sagte Leni in warnendem Ton und zog ihn am Rockkragen ein wenig in die Höhe. » Laß jetzt das Fell und höre dem Advokaten zu. « (Dieses Kapitel wurde nicht vollendet) 9 Im Dom K. bekam den Auftrag, einem italienischen Geschäftsfreund der Bank, der für sie sehr wichtig war und sich zum erstenmal in dieser Stadt aufhielt, einige Kunstdenkmäler zu zeigen. Es war ein Auftrag, den er zu anderer Zeit gewiß für ehrend gehalten hätte, den er aber jetzt, da er nur mit großer Anstrengung sein Ansehen in der Bank noch wahren konnte, widerwillig übernahm. Jede Stunde, die er dem Büro entzogen wurde, machte ihm Kummer; er konnte zwar die Bürozeit bei weitem nicht mehr so ausnützen wie früher, er brachte manche Stunden nur unter dem notdürftigsten Anschein wirklicher Arbeit hin, aber desto größer waren seine Sorgen, wenn er nicht im Büro war. Er glaubte dann zu sehen, wie der Direktor - Stellvertreter, der ja immer auf der Lauer gewesen war, von Zeit zu Zeit in sein Büro kam, sich an seinen Schreibtisch setzte, seine Schriftstücke durchsuchte, Parteien, mit denen K. seit Jahren fast befreundet gewesen war, empfing und ihm abspenstig machte, ja vielleicht sogar Fehler aufdeckte, von denen sich K. während der Arbeit jetzt immer aus tausend Richtungen bedroht sah und die er nicht mehr vermeiden konnte. Wurde er daher einmal, sei es in noch so auszeichnender Weise, zu einem Geschäftsweg oder gar zu einer kleinen Reise beauftragt – solche Aufträge hatten sich in der letzten Zeit ganz zufällig gehäuft –, dann lag immerhin die Vermutung nahe, daß man ihn für ein Weilchen aus dem Büro entfernen und seine Arbeit überprüfen wolle oder wenigstens, daß man im Büro ihn für leicht entbehrlich halte. Die meisten dieser Aufträge hätte er ohne Schwierigkeiten ablehnen können, aber er wagte es nicht, denn, wenn seine Befürchtung auch nur im geringsten begründet war, bedeutete die Ablehnung des Auftrags Geständnis seiner Angst. Aus diesem Grunde nahm er solche Aufträge scheinbar gleichmütig hin und verschwieg sogar, als er eine anstrengende zweitägige Geschäftsreise machen sollte, eine ernstliche Verkühlung, um sich nur nicht der Gefahr auszusetzen, mit Berufung auf das gerade herrschende regnerische Herbstwetter von der Reise abgehalten zu werden. Als er von dieser Reise mit wütenden Kopfschmerzen zurückkehrte, erfuhr er, daß er dazu bestimmt sei, am nächsten Tag den italienischen Geschäftsfreund zu begleiten. Die Verlockung, sich wenigstens dieses eine Mal zu weigern, war sehr groß, vor allem war das, was man ihm hier zugedacht hatte, keine unmittelbar mit dem Geschäft zusammenhängende Arbeit, aber die Erfüllung dieser gesellschaftlichen Pflicht gegenüber dem Geschäftsfreund war an sich zweifellos wichtig genug, nur nicht für K., der wohl wußte, daß er sich nur durch Arbeitserfolge erhalten könne und daß es, wenn ihm das nicht gelänge, vollständig wertlos war, wenn er diesen Italiener unerwarteterweise sogar bezaubern sollte; er wollte nicht einmal für einen Tag aus dem Bereich der Arbeit geschoben werden, denn die Furcht, nicht mehr zurückgelassen zu werden, war zu groß, eine Furcht, die er sehr genau als übertrieben erkannte, die ihn aber doch beengte. In diesem Fall allerdings war es fast unmöglich, einen annehmbaren Einwand zu erfinden. K.s Kenntnis des Italienischen war zwar nicht sehr groß, aber immerhin genügend; das Entscheidende aber war, daß K. aus früherer Zeit einige kunsthistorische Kenntnisse besaß, was in äußerst übertriebener Weise dadurch in der Bank bekanntgeworden war, daß K. eine Zeitlang, übrigens auch nur aus geschäftlichen Gründen, Mitglied des Vereins zur Erhaltung der städtischen Kunstdenkmäler gewesen war. Nun war aber der Italiener, wie man gerüchteweise erfahren hatte, ein Kunstliebhaber, und die Wahl K.s zu seinem Begleiter war daher selbstverständlich. Es war ein sehr regnerischer, stürmischer Morgen, als K. voll Ärger über den Tag, der ihm bevorstand, schon um sieben Uhr ins Büro kam, um wenigstens einige Arbeit noch fertigzubringen, ehe der Besuch ihn allem entziehen würde. Er war sehr müde, denn er hatte die halbe Nacht mit dem Studium einer italienischen Grammatik verbracht, um sich ein wenig vorzubereiten; das Fenster, an dem er in der letzten Zeit viel zu oft zu sitzen pflegte, lockte ihn mehr als der Schreibtisch, aber er widerstand und setzte sich zur Arbeit. Leider trat gerade der Diener ein und meldete, der Herr Direktor habe ihn geschickt, um nachzusehen, ob der Herr Prokurist schon hier sei; sei er hier, dann möge er so freundlich sein und ins Empfangszimmer hinüberkommen, der Herr aus Italien sei schon da. » Ich komme schon «, sagte K., steckte ein kleines Wörterbuch in die Tasche, nahm ein Album der städtischen Sehenswürdigkeiten, das er für den Fremden vorbereitet hatte, unter den Arm und ging durch das Büro des Direktor - Stellvertreters in das Direktionszimmer. Er war glücklich darüber, so früh ins Büro gekommen zu sein und sofort zur Verfügung stehen zu können, was wohl niemand ernstlich erwartet hatte. Das Büro des Direktor - Stellvertreters war natürlich noch leer wie in tiefer Nacht, wahrscheinlich hatte der Diener auch ihn ins Empfangszimmer berufen sollen, es war aber erfolglos gewesen. Als K. ins Empfangszimmer eintrat, erhoben sich die zwei Herren aus den tiefen Fauteuils. Der Direktor lächelte freundlich, offenbar war er sehr erfreut über K.s Kommen, er besorgte sofort die Vorstellung, der Italiener schüttelte K. kräftig die Hand und nannte lächelnd irgend jemanden einen Frühaufsteher. K. verstand nicht genau, wen er meinte, es war überdies ein sonderbares Wort, dessen Sinn K. erst nach einem Weilchen erriet. Er antwortete mit einigen glatten Sätzen, die der Italiener wieder lachend hinnahm, wobei er mehrmals mit nervöser Hand über seinen graublauen, buschigen Schnurrbart fuhr. Dieser Bart war offenbar parfümiert, man war fast versucht, sich zu nähern und zu riechen. Als sich alle gesetzt hatten und ein kleines, einleitendes Gespräch begann, bemerkte K. mit großem Unbehagen, daß er den Italiener nur bruchstückweise verstand. Wenn er ganz ruhig sprach, verstand er ihn fast vollständig, das waren aber nur seltene Ausnahmen, meistens quoll ihm die Rede aus dem Mund, er schüttelte den Kopf wie vor Lust darüber. Bei solchen Reden aber verwickelte er sich regelmäßig in irgendeinen Dialekt, der für K. nichts Italienisches mehr hatte, den aber der Direktor nicht nur verstand, sondern auch sprach, was K. allerdings hätte voraussehen können, denn der Italiener stammte aus Süditalien, wo auch der Direktor einige Jahre gewesen war. Jedenfalls erkannte K., daß ihm die Möglichkeit, sich mit dem Italiener zu verständigen, zum größten Teil genommen war, denn auch dessen Französisch war nur schwer verständlich, auch verdeckte der Bart die Lippenbewegungen, deren Anblick vielleicht zum Verständnis geholfen hätte. K. begann viel Unannehmlichkeiten vorauszusehen, vorläufig gab er es auf, den Italiener verstehen zu wollen – in der Gegenwart des Direktors, der ihn so leicht verstand, wäre es unnötige Anstrengung gewesen –, und er beschränkte sich darauf, ihn verdrießlich zu beobachten, wie er tief und doch leicht in dem Fauteuil ruhte, wie er öfters an seinem kurzen, scharf geschnittenen Röckchen zupfte und wie er einmal mit erhobenen Armen und lose in den Gelenken bewegten Händen irgend etwas darzustellen versuchte, das K. nicht begreifen konnte, obwohl er vorgebeugt die Hände nicht aus den Augen ließ. Schließlich machte sich bei K., der sonst unbeschäftigt, nur mechanisch mit den Blicken dem Hin und Her der Reden folgte, die frühere Müdigkeit geltend, und er ertappte sich einmal zu seinem Schrecken, glücklicherweise noch rechtzeitig, dabei, daß er in der Zerstreutheit gerade hatte aufstehen, sich umdrehen und weggehen wollen. Endlich sah der Italiener auf die Uhr und sprang auf. Nachdem er sich vom Direktor verabschiedet hatte, drängte er sich an K., und zwar so dicht, daß K. seinen Fauteuil zurückschieben mußte, um sich bewegen zu können. Der Direktor, der gewiß an K.s Augen die Not erkannte, in der er sich gegenüber diesem Italienisch befand, mischte sich in das Gespräch, und zwar so klug und so zart, daß es den Anschein hatte, als füge er nur kleine Ratschläge bei, während er in Wirklichkeit alles, was der Italiener, unermüdlich ihm in die Rede fallend, vorbrachte, in aller Kürze K. verständlich machte. K. erfuhr von ihm, daß der Italiener vorläufig noch einige Geschäfte zu besorgen habe, daß er leider auch im ganzen nur wenig Zeit haben werde, daß er auch keinesfalls beabsichtige, in Eile alle Sehenswürdigkeiten abzulaufen, daß er sich vielmehr – allerdings nur, wenn K. zustimme, bei ihm allein liege die Entscheidung – entschlossen habe, nur den Dom, diesen aber gründlich, zu besichtigen. Er freue sich ungemein, diese Besichtigung in Begleitung eines so gelehrten und liebenswürdigen Mannes – damit war K. gemeint, der mit nichts anderem beschäftigt war, als den Italiener zu überhören und die Worte des Direktors schnell aufzufassen – vornehmen zu können, und er bitte ihn, wenn ihm die Stunde gelegen sei, in zwei Stunden, etwa um zehn Uhr, sich im Dom einzufinden. Er selbst hoffe, um diese Zeit schon bestimmt dort sein zu können. K. antwortete einiges Entsprechende, der Italiener drückte zuerst dem Direktor, dann K., dann nochmals dem Direktor die Hand und ging, von beiden gefolgt, nur noch halb ihnen zugewendet, im Reden aber noch immer nicht aussetzend, zur Tür. K. blieb dann noch ein Weilchen mit dem Direktor beisammen, der heute besonders leidend aussah. Er glaubte, sich bei K. irgendwie entschuldigen zu müssen und sagte – sie standen vertraulich nahe beisammen –, zuerst hätte er beabsichtigt, selbst mit dem Italiener zu gehen, dann aber – er gab keinen näheren Grund an – habe er sich entschlossen, lieber K. zu schicken. Wenn er den Italiener nicht gleich im Anfang verstehe, so müsse er sich dadurch nicht verblüffen lassen, das Verständnis komme sehr rasch, und wenn er auch viel überhaupt nicht verstehen sollte, so sei es auch nicht so schlimm, denn für den Italiener sei es nicht gar so wichtig, verstanden zu werden. Übrigens sei K.s Italienisch überraschend gut, und er werde sich gewiß ausgezeichnet mit der Sache abfinden. And with that, it was time for K. to go. Damit war K. verabschiedet. Die Zeit, die ihm noch freiblieb, verbrachte er damit, seltene Vokabeln, die er zur Führung im Dom benötigte, aus dem Wörterbuch herauszuschreiben. Es war eine äußerst lästige Arbeit, Diener brachten die Post, Beamte kamen mit verschiedenen Anfragen und blieben, da sie K. beschäftigt sahen, bei der Tür stehen, rührten sich aber nicht weg, bevor sie K. angehört hatte, der Direktor - Stellvertreter ließ es sich nicht entgehen, K. zu stören, kam öfters herein, nahm ihm das Wörterbuch aus der Hand und blätterte offenbar ganz sinnlos darin, selbst Parteien tauchten, wenn sich die Tür öffnete, im Halbdunkel des Vorzimmers auf und verbeugten sich zögernd – sie wollten auf sich aufmerksam machen, waren aber dessen nicht sicher, ob sie gesehen wurden –, das alles bewegte sich um K. als um seinen Mittelpunkt, während er selbst die Wörter, die er brauchte, zusammenstellte, dann im Wörterbuch suchte, dann herausschrieb, dann ihre Aussprache übte und schließlich auswendig zu lernen versuchte. Sein früheres gutes Gedächtnis schien ihn aber ganz verlassen zu haben, manchmal wurde er auf den Italiener, der ihm diese Anstrengung verursachte, so wütend, daß er das Wörterbuch unter Papieren vergrub, mit der festen Absicht, sich nicht mehr vorzubereiten, dann aber sah er ein, daß er doch nicht stumm mit dem Italiener vor den Kunstwerken im Dom auf und ab gehen könne, und er zog mit noch größerer Wut das Wörterbuch wieder hervor. Gerade um halb zehn Uhr, als er weggehen wollte, erfolgte ein telephonischer Anruf. Leni wünschte ihm guten Morgen und fragte nach seinem Befinden, K. dankte eilig und bemerkte, er könne sich jetzt unmöglich in ein Gespräch einlassen, denn er müsse in den Dom. » In den Dom? « fragte Leni. » Nun ja, in den Dom. « » Warum denn in den Dom? « sagte Leni. K. suchte es ihr in Kürze zu erklären, aber kaum hatte er damit angefangen, sagte Leni plötzlich: » Sie hetzen dich. « Bedauern, das er nicht herausgefordert und nicht erwartet hatte, vertrug K. nicht, er verabschiedete sich mit zwei Worten, sagte aber doch, während er den Hörer an seinen Platz hängte, halb zu sich, halb zu dem fernen Mädchen, das es nicht mehr hörte: » Ja, sie hetzen mich. « Nun war es aber schon spät, es bestand schon fast die Gefahr, daß er nicht rechtzeitig ankam. Im Automobil fuhr er hin, im letzten Augenblick hatte er sich noch an das Album erinnert, das er früh zu übergeben keine Gelegenheit gefunden hatte und das er deshalb jetzt mitnahm. Er hielt es auf seinen Knien und trommelte darauf unruhig während der ganzen Fahrt. Der Regen war schwächer geworden, aber es war feucht, kühl und dunkel, man würde im Dom wenig sehen, wohl aber würde sich dort, infolge des langen Stehens auf den kalten Fliesen, K.s Verkühlung sehr verschlimmern. Der Domplatz war ganz leer, K. erinnerte sich, daß es ihm schon als kleinem Kind aufgefallen war, daß in den Häusern dieses engen Platzes immer fast alle Fenstervorhänge herabgelassen waren. Bei dem heutigen Wetter war es allerdings verständlicher als sonst. Auch im Dom schien es leer zu sein, es fiel natürlich niemandem ein, jetzt hierherzukommen. K. durchlief beide Seitenschiffe, er traf nur ein altes Weib, das, eingehüllt in ein warmes Tuch, vor einem Marienbild kniete und es anblickte. Von weitem sah er dann noch einen hinkenden Diener in einer Mauertür verschwinden. K. war pünktlich gekommen, gerade bei seinem Eintritt hatte es zehn geschlagen, der Italiener war aber noch nicht hier. K. ging zum Haupteingang zurück, stand dort eine Zeitlang unentschlossen und machte dann im Regen einen Rundgang um den Dom, um nachzusehen, ob der Italiener nicht vielleicht bei irgendeinem Seiteneingang warte. Er war nirgends zu finden. Sollte der Direktor etwa die Zeitangabe mißverstanden haben? Wie konnte man auch diesen Menschen richtig verstehen? Wie es aber auch sein mochte, jedenfalls mußte K. zumindest eine halbe Stunde auf ihn warten. Da er müde war, wollte er sich setzen, er ging wieder in den Dom, fand auf einer Stufe einen kleinen, teppichartigen Fetzen, zog ihn mit der Fußspitze vor eine nahe Bank, wickelte sich fester in seinen Mantel, schlug den Kragen in die Höhe und setzte sich. Um sich zu zerstreuen, schlug er das Album auf, blätterte darin ein wenig, mußte aber bald aufhören, denn es wurde so dunkel, daß er, als er aufblickte, in dem nahen Seitenschiff kaum eine Einzelheit unterscheiden konnte. In der Ferne funkelte auf dem Hauptaltar ein großes Dreieck von Kerzenlichtern, K. hätte nicht mit Bestimmtheit sagen können, ob er sie schon früher gesehen hatte. Vielleicht waren sie erst jetzt angezündet worden. Die Kirchendiener sind berufsmäßige Schleicher, man bemerkt sie nicht. Als sich K. zufällig umdrehte, sah er nicht weit hinter sich eine hohe, starke, an einer Säule befestigte Kerze gleichfalls brennen. So schön das war, zur Beleuchtung der Altarbilder, die meistens in der Finsternis der Seitenaltäre hingen, war das gänzlich unzureichend, es vermehrte vielmehr die Finsternis. Es war vom Italiener ebenso vernünftig als unhöflich gehandelt, daß er nicht gekommen war, es wäre nichts zu sehen gewesen, man hätte sich damit begnügen müssen, mit K.s elektrischer Taschenlampe einige Bilder zollweise abzusuchen. Um zu versuchen, was man davon erwarten könnte, ging K. zu einer nahen Seitenkapelle, stieg ein paar Stufen bis zu einer niedrigen Marmorbrüstung und, über sie vorgebeugt, beleuchtete er mit der Lampe das Altarbild. Störend schwebte das ewige Licht davor. Das erste, was K. sah und zum Teil erriet, war ein großer, gepanzerter Ritter, der am äußersten Rande des Bildes dargestellt war. Er stützte sich auf sein Schwert, das er in den kahlen Boden vor sich – nur einige Grashalme kamen hie und da hervor – gestoßen hatte. Er schien aufmerksam einen Vorgang zu beobachten, der sich vor ihm abspielte. Es war erstaunlich, daß er so stehenblieb und sich nicht näherte. Vielleicht war er dazu bestimmt, Wache zu stehen. K., der schon lange keine Bilder gesehen hatte, betrachtete den Ritter längere Zeit, obwohl er immerfort mit den Augen zwinkern mußte, da er das grüne Licht der Lampe nicht vertrug. Als er dann das Licht über den übrigen Teil des Bildes streichen ließ, fand er eine Grablegung Christi in gewöhnlicher Auffassung, es war übrigens ein neueres Bild. Er steckte die Lampe ein und kehrte wieder zu seinem Platz zurück. Es war nun schon wahrscheinlich unnötig, auf den Italiener zu warten, draußen war aber gewiß strömender Regen, und da es hier nicht so kalt war, wie K. erwartet hatte, beschloß er, vorläufig hierzubleiben. In seiner Nachbarschaft war die große Kanzel, auf ihrem kleinen, runden Dach waren halb liegend zwei leere, goldene Kreuze angebracht, die einander mit ihrer äußersten Spitze überquerten. Die Außenwand der Brüstung und der Übergang zur tragenden Säule war von grünem Laubwerk gebildet, in das kleine Engel griffen, bald lebhaft, bald ruhend. K. trat vor die Kanzel und untersuchte sie von allen Seiten, die Bearbeitung des Steines war überaus sorgfältig, das tiefe Dunkel zwischen dem Laubwerk und hinter ihm schien wie eingefangen und festgehalten, K. legte seine Hand in eine solche Lücke und tastete dann den Stein vorsichtig ab, von dem Dasein dieser Kanzel hatte er bisher gar nicht gewußt. Da bemerkte er zufällig hinter der nächsten Bankreihe einen Kirchendiener, der dort in einem hängenden, faltigen, schwarzen Rock stand, in der linken Hand eine Schnupftabakdose hielt und ihn betrachtete. Was will denn der Mann? dachte K. Bin ich ihm verdächtig? Will er ein Trinkgeld? Als sich aber nun der Kirchendiener von K. bemerkt sah, zeigte er mit der Rechten, zwischen zwei Fingern hielt er noch eine Prise Tabak, in irgendeiner unbestimmten Richtung. Sein Benehmen war fast unverständlich, K. wartete noch ein Weilchen, aber der Kirchendiener hörte nicht auf, mit der Hand etwas zu zeigen und bekräftigte es noch durch Kopfnicken. » Was will er denn? « fragte K. leise, er wagte es nicht, hier zu rufen; dann aber zog er die Geldtasche und drängte sich durch die nächste Bank, um zu dem Mann zu kommen. Doch dieser machte sofort eine abwehrende Bewegung mit der Hand, zuckte die Schultern und hinkte davon. Mit einer ähnlichen Gangart, wie es dieses eilige Hinken war, hatte K. als Kind das Reiten auf Pferden nachzuahmen versucht. » Ein kindischer Alter «, dachte K., » sein Verstand reicht nur noch zum Kirchendienst aus. Wie er stehenbleibt, wenn ich stehe, und wie er lauert, ob ich weitergehen will. « Lächelnd folgte K. dem Alten durch das ganze Seitenschiff fast bis zur Höhe des Hauptaltars, der Alte hörte nicht auf, etwas zu zeigen, aber K. drehte sich absichtlich nicht um, das Zeigen hatte keinen anderen Zweck, als ihn von der Spur des Alten abzubringen. Schließlich ließ er wirklich von ihm, er wollte ihn nicht zu sehr ängstigen, auch wollte er die Erscheinung, für den Fall, daß der Italiener doch noch kommen sollte, nicht ganz verscheuchen. Als er in das Hauptschiff trat, um seinen Platz zu suchen, auf dem er das Album liegengelassen hatte, bemerkte er an einer Säule, fast angrenzend an die Bänke des Altarchors, eine kleine Nebenkanzel, ganz einfach, aus kahlem, bleichem Stein. Sie war so klein, daß sie aus der Ferne wie eine noch leere Nische erschien, die für die Aufnahme einer Heiligenstatue bestimmt war. Der Prediger konnte gewiß keinen vollen Schritt von der Brüstung zurücktreten. Außerdem begann die steinerne Einwölbung der Kanzel ungewöhnlich tief und stieg, zwar ohne jeden Schmuck, aber derartig geschweift in die Höhe, daß ein mittelgroßer Mann dort nicht aufrecht stehen konnte, sondern sich dauernd über die Brüstung vorbeugen mußte. Das Ganze war wie zur Qual des Predigers bestimmt, es war unverständlich, wozu man diese Kanzel benötigte, da man doch die andere, große und so kunstvoll geschmückte zur Verfügung hatte. K. wäre auch diese kleine Kanzel gewiß nicht aufgefallen, wenn nicht oben eine Lampe befestigt gewesen wäre, wie man sie kurz vor einer Predigt bereitzustellen pflegt. Sollte jetzt etwa eine Predigt stattfinden? In der leeren Kirche? K. sah an der Treppe hinab, die an die Säule sich anschmiegend zur Kanzel führte und so schmal war, als sollte sie nicht für Menschen, sondern nur zum Schmuck der Säule dienen. Aber unten an der Kanzel, K. lächelte vor Staunen, stand wirklich der Geistliche, hielt die Hand am Geländer, bereit aufzusteigen, und sah auf K. hin. Dann nickte er ganz leicht mit dem Kopf, worauf K. sich bekreuzigte und verbeugte, was er schon früher hätte tun sollen. Der Geistliche gab sich einen kleinen Aufschwung und stieg mit kurzen, schnellen Schritten die Kanzel hinauf. Sollte wirklich eine Predigt beginnen? War vielleicht der Kirchendiener doch nicht so ganz vom Verstand verlassen und hatte K. dem Prediger zutreiben wollen, was allerdings in der leeren Kirche äußerst notwendig gewesen war? Übrigens gab es ja noch irgendwo vor einem Marienbild ein altes Weib, das auch hätte kommen sollen. Und wenn es schon eine Predigt sein sollte, warum wurde sie nicht von der Orgel eingeleitet? Aber die blieb still und blinkte nur schwach aus der Finsternis ihrer großen Höhe. K. dachte daran, ob er sich jetzt nicht eiligst entfernen sollte, wenn er es jetzt nicht tat, war keine Aussicht, daß er es während der Predigt tun könnte, er mußte dann bleiben, solange sie dauerte, im Büro verlor er soviel Zeit, auf den Italiener zu warten, war er längst nicht mehr verpflichtet, er sah auf seine Uhr, es war elf. Aber konnte denn wirklich gepredigt werden? Konnte K. allein die Gemeinde darstellen? Wie, wenn er ein Fremder gewesen wäre, der nur die Kirche besichtigen wollte? Im Grunde war er auch nichts anderes. Es war unsinnig, daran zu denken, daß gepredigt werden sollte, jetzt um elf Uhr, an einem Werktag, bei gräßlichstem Wetter. Der Geistliche – ein Geistlicher war es zweifellos, ein junger Mann mit glattem, dunklem Gesicht – ging offenbar nur hinauf, um die Lampe zu löschen, die irrtümlich angezündet worden war. Es war aber nicht so, der Geistliche prüfte vielmehr das Licht und schraubte es noch ein wenig auf, dann drehte er sich langsam der Brüstung zu, die er vom an der kantigen Einfassung mit beiden Händen erfaßte. So stand er eine Zeitlang und blickte, ohne den Kopf zu rühren, umher. K. war ein großes Stück zurückgewichen und lehnte mit den Ellbogen an der vordersten Kirchenbank. Mit unsicheren Augen sah er irgendwo, ohne den Ort genau zu bestimmen, den Kirchendiener, mit krummem Rücken, friedlich, wie nach beendeter Aufgabe, sich zusammenkauern. Was für eine Stille herrschte jetzt im Dom! Aber K. mußte sie stören, er hatte nicht die Absicht, hierzubleiben; wenn es die Pflicht des Geistlichen war, zu einer bestimmten Stunde, ohne Rücksicht auf die Umstände, zu predigen, so mochte er es tun, es würde auch ohne K.s Beistand gelingen, ebenso wie die Anwesenheit K.s die Wirkung gewiß nicht steigem würde. Langsam setzte sich also K. in Gang, tastete sich auf den Fußspitzen an der Bank hin, kam dann in den breiten Hauptweg und ging dort ganz ungestört, nur daß der steinerne Boden unter dem leisesten Schritt erklang und die Wölbungen schwach, aber ununterbrochen, in vielfachem, gesetzmäßigem Fortschreiten davon widerhallten. K. fühlte sich ein wenig verlassen, als er dort, vom Geistlichen vielleicht beobachtet, zwischen den leeren Bänken allein hindurchging, auch schien ihm die Größe des Doms gerade an der Grenze des für Menschen noch Erträglichen zu liegen. Als er zu seinem früheren Platz kam, haschte er förmlich, ohne weiteren Aufenthalt, nach dem dort liegengelassenen Album und nahm es an sich. Fast hatte er schon das Gebiet der Bänke verlassen und näherte sich dem freien Raum, der zwischen ihnen und dem Ausgang lag, als er zum erstenmal die Stimme des Geistlichen hörte. Eine mächtige, geübte Stimme. Wie durchdrang sie den zu ihrer Aufnahme bereiten Dom! Es war aber nicht die Gemeinde, die der Geistliche anrief, es war ganz eindeutig, und es gab keine Ausflüchte, er rief: » Josef K.! « K. stockte und sah vor sich auf den Boden. Vorläufig war er noch frei, er konnte noch weitergehen und durch eine der drei kleinen, dunklen Holztüren, die nicht weit vor ihm waren, sich davonmachen. Es würde eben bedeuten, daß er nicht verstanden hatte, oder daß er zwar verstanden hatte, sich aber darum nicht kümmern wollte. Falls er sich aber umdrehte, war er festgehalten, denn dann hatte er das Geständnis gemacht, daß er gut verstanden hatte, daß er wirklich der Angerufene war und daß er auch folgen wollte. Hätte der Geistliche nochmals gerufen, wäre K. gewiß fortgegangen, aber da alles still blieb, solange K. auch wartete, drehte er doch ein wenig den Kopf, denn er wollte sehen, was der Geistliche jetzt mache. Er stand ruhig auf der Kanzel wie früher, es war aber deutlich zu sehen, daß er K.s Kopfwendung bemerkt hatte. Es wäre ein kindliches Versteckenspiel gewesen, wenn sich jetzt K. nicht vollständig umgedreht hätte. Er tat es und wurde vom Geistlichen durch ein Winken des Fingers näher gerufen. Da jetzt alles offen geschehen konnte, lief er – er tat es auch aus Neugierde und um die Angelegenheit abzukürzen – mit langen, fliegenden Schritten der Kanzel entgegen. Bei den ersten Bänken machte er halt, aber dem Geistlichen schien die Entfernung noch zu groß, er streckte die Hand aus und zeigte mit dem scharf gesenkten Zeigefinger auf eine Stelle knapp vor der Kanzel. K. folgte auch darin, er mußte auf diesem Platz den Kopfschon weit zurückbeugen, um den Geistlichen noch zu sehen. » Du bist Josef K. «, sagte der Geistliche und erhob eine Hand auf der Brüstung in einer unbestimmten Bewegung. » Ja «, sagte K., er dachte daran, wie offen er früher immer seinen Namen genannt hatte, seit einiger Zeit war er ihm eine Last, auch kannten jetzt seinen Namen Leute, mit denen er zum erstenmal zusammenkam, wie schön war es, sich zuerst vorzustellen und dann erst gekannt zu werden. » Du bist angeklagt «, sagte der Geistliche besonders leise. » Ja «, sagte K., » man hat mich davon verständigt. « » Dann bist du der, den ich suche «, sagte der Geistliche. » Ich bin der Gefängniskaplan. « » Ach so «, sagte K. » Ich habe dich hierher rufen lassen «, sagte der Geistliche, » um mit dir zu sprechen. « » Ich wußte es nicht «, sagte K. » Ich bin hierhergekommen, um einem Italiener den Dom zu zeigen. « » Laß das Nebensächliche «, sagte der Geistliche. » Was hältst du in der Hand? Ist es ein Gebetbuch? « » Nein «, antwortete K., » es ist ein Album der städtischen Sehenswürdigkeiten. « » Leg es aus der Hand «, sagte der Geistliche. K. warf es so heftig weg, daß es aufklappte und mit zerdrückten Blättern ein Stück über den Boden schleifte. » Weißt du, daß dein Prozeß schlecht steht? « fragte der Geistliche. » Es scheint mir auch so «, sagte K. » Ich habe mir alle Mühe gegeben, bisher aber ohne Erfolg. Allerdings habe ich die Eingabe noch nicht fertig. « » Wie stellst du dir das Ende vor? « fragte der Geistliche. » Früher dachte ich, es müsse gut enden «, sagte K., » jetzt zweifle ich daran manchmal selbst. Ich weiß nicht, wie es enden wird. Weißt du es? « » Nein «, sagte der Geistliche, » aber ich fürchte, es wird schlecht enden. Man hält dich für schuldig. Dein Prozeß wird vielleicht über ein niedriges Gericht gar nicht hinauskommen. Man hält wenigstens vorläufig deine Schuld für erwiesen. « » Ich bin aber nicht schuldig «, sagte K., » es ist ein Irrtum. Wie kann denn ein Mensch überhaupt schuldig sein. Wir sind hier doch alle Menschen, einer wie der andere. « » Das ist richtig «, sagte der Geistliche, » aber so pflegen die Schuldigen zu reden. « » Hast auch du ein Vorurteil gegen mich? « fragte K. » Ich habe kein Vorurteil gegen dich «, sagte der Geistliche. » Ich danke dir «, sagte K., » alle anderen aber, die an dem Verfahren beteiligt sind, haben ein Vorurteil gegen mich. Sie flößen es auch den Unbeteiligten ein. Meine Stellung wird immer schwieriger. « » Du mißverstehst die Tatsachen «, sagte der Geistliche, » das Urteil kommt nicht mit einemmal, das Verfahren geht allmählich ins Urteil über. « » So ist es also «, sagte K. und senkte den Kopf. » Was willst du nächstens in deiner Sache tun? « fragte der Geistliche. » Ich will noch Hilfe suchen «, sagte K. und hob den Kopf, um zu sehen, wie der Geistliche es beurteile. » Es gibt noch gewisse Möglichkeiten, die ich nicht ausgenützt habe. « » Du suchst zuviel fremde Hilfe «, sagte der Geistliche mißbilligend, » und besonders bei Frauen. Merkst du denn nicht, daß es nicht die wahre Hilfe ist? « » Manchmal und sogar oft könnte ich dir recht geben «, sagte K., » aber nicht immer. Die Frauen haben eine große Macht. Wenn ich einige Frauen, die ich kenne, dazu bewegen könnte, gemeinschaftlich für mich zu arbeiten, müßte ich durchdringen. Besonders bei diesem Gericht, das fast nur aus Frauenjägern besteht. Zeig dem Untersuchungsrichter eine Frau aus der Ferne, und er überrennt, um nur rechtzeitig hinzukommen, den Gerichtstisch und den Angeklagten. « Der Geistliche neigte den Kopf zur Brüstung, jetzt erst schien die Überdachung der Kanzel ihn niederzudrücken. Was für ein Unwetter mochte draußen sein? Das war kein trüber Tag mehr, das war schon tiefe Nacht. Keine Glasmalerei der großen Fenster war imstande, die dunkle Wand auch nur mit einem Schimmer zu unterbrechen. Und gerade jetzt begann der Kirchendiener, die Kerzen auf dem Hauptaltar, eine nach der anderen, auszulöschen. » Bist du mir böse? « fragte K. den Geistlichen. » Du weißt vielleicht nicht, was für einem Gericht du dienst. « Er bekam keine Antwort. » Es sind doch nur meine Erfahrungen «, sagte K. Oben blieb es noch immer still. » Ich wollte dich nicht beleidigen «, sagte K. Da schrie der Geistliche zu K. hinunter: » Siehst du denn nicht zwei Schritte weit? « Es war im Zorn geschrien, aber gleichzeitig wie von einem, der jemanden fallen sieht und, weil er selbst erschrocken ist, unvorsichtig, ohne Willen schreit. Nun schwiegen beide lange. Gewiß konnte der Geistliche in dem Dunkel, das unten herrschte, K. nicht genau erkennen, während K. den Geistlichen im Licht der kleinen Lampe deutlich sah. Warum kam der Geistliche nicht herunter? Eine Predigt hatte er ja nicht gehalten, sondern K. nur einige Mitteilungen gemacht, die ihm, wenn er sie genau beachtete, wahrscheinlich mehr schaden als nützen würden. Wohl aber schien K. die gute Absicht des Geistlichen zweifellos zu sein, es war nicht unmöglich, daß er sich mit ihm, wenn er herunterkäme, einigen würde, es war nicht unmöglich, daß er von ihm einen entscheidenden und annehmbaren Rat bekäme, der ihm zum Beispiel zeigen würde, nicht etwa wie der Prozeß zu beeinflussen war, sondern wie man aus dem Prozeß ausbrechen, wie man ihn umgehen, wie man außerhalb des Prozesses leben könnte. Diese Möglichkeit mußte bestehen, K. hatte in der letzten Zeit öfters an sie gedacht. Wußte aber der Geistliche eine solche Möglichkeit, würde er sie vielleicht, wenn man ihn darum bat, verraten, obwohl er selbst zum Gerichte gehörte und obwohl er, als K. das Gericht angegriffen hatte, sein sanftes Wesen unterdrückt und K. sogar angeschrien hatte. » Willst du nicht herunterkommen? « sagte K. » Es ist doch keine Predigt zu halten. Komm zu mir herunter. « » Jetzt kann ich schon kommen «, sagte der Geistliche, er bereute vielleicht sein Schreien. Während er die Lampe von ihrem Haken löste, sagte er: » Ich mußte zuerst aus der Entfernung mit dir sprechen. Ich lasse mich sonst zu leicht beeinflussen und vergesse meinen Dienst. « K. erwartete ihn unten an der Treppe. Der Geistliche streckte ihm schon von einer oberen Stufe im Hinuntergehen die Hand entgegen. » Hast du ein wenig Zeit für mich? « fragte K. » Soviel Zeit, als du brauchst «, sagte der Geistliche und reichte K. die kleine Lampe, damit er sie trage. Auch in der Nähe verlor sich eine gewisse Feierlichkeit aus seinem Wesen nicht. » Du bist sehr freundlich zu mir «, sagte K., sie gingen nebeneinander im dunklen Seitenschiff auf und ab. » Du bist eine Ausnahme unter allen, die zum Gericht gehören. Ich habe mehr Vertrauen zu dir als zu irgend jemandem von ihnen, so viele ich schon kenne. Mit dir kann ich offen reden. « » Täusche dich nicht «, sagte der Geistliche. » Worin sollte ich mich denn täuschen? « fragte K. » In dem Gericht täuschst du dich «, sagte der Geistliche, » in den einleitenden Schriften zum Gesetz heißt es von dieser Täuschung: Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. › Es ist möglich ‹, sagt der Türhüter, › jetzt aber nicht ‹. Da das Tor zum Gesetz offensteht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehen. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: › Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meinem Verbot hineinzugehen. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehen aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr vertragen. ‹ Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet, das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen, tartarischen Bart, entschließt er sich doch, lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und läßt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragte ihn nach seiner Heimat aus und nach vielem anderen, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagte er ihm immer wieder, daß er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: › Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben. ‹ Während der vielen Jahre beobachtete der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergißt die anderen Türhüter, und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall in den ersten Jahren laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht schwach, und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird oder ob ihn nur die Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen ter ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muß sich tief zu ihm hinuntemeigen, denn die Größenunterschiede haben sich sehr zuungunsten des Mannes verändert. › Was willst du denn jetzt noch wissen? ‹ fragt der Türhüter, › du bist unersättlich. ‹ › Alle streben doch nach dem Gesetz ‹, sagt der Mann, › wie kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat? ‹ Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon am Ende ist, und um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: › Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn. ‹ « » Der Türhüter hat also den Mann getäuscht «, sagte K. sofort, von der Geschichte sehr stark angezogen. » Sei nicht übereilt «, sagte der Geistliche, » übernimm nicht die fremde Meinung ungeprüft. Ich habe dir die Geschichte im Wortlaut der Schrift erzählt. Von Täuschung steht darin nichts. « » Es ist aber klar «, sagte K., » und deine erste Deutung war ganz richtig. Der Türhüter hat die erlösende Mitteilung erst dann gemacht, als sie dem Manne nicht mehr helfen konnte. « » Er wurde nicht früher gefragt «, sagte der Geistliche, » bedenke auch, daß er nur Türhüter war, und als solcher hat er seine Pflicht erfüllt. « » Warum glaubst du, daß er seine Pflicht erfüllt hat? « fragte K., » er hat sie nicht erfüllt. Seine Pflicht war es vielleicht, alle Fremden abzuwehren, diesen Mann aber, für den der Eingang bestimmt war, hätte er einlassen müssen. « » Du hast nicht genug Achtung vor der Schrift und veränderst die Geschichte «, sagte der Geistliche. » Die Geschichte enthält über den Einlaß ins Gesetz zwei wichtige Erklärungen des Türhüters, eine am Anfang, eine am Ende. Die eine Stelle lautet: daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne, und die andere: dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Bestände zwischen diesen beiden Erklärungen ein Widerspruch, dann hättest du recht, und der Türhüter hätte den Mann getäuscht. Nun besteht aber kein Widerspruch. Im Gegenteil, die erste Erklärung deutet sogar auf die zweite hin. Man könnte fast sagen, der Türhüter ging über seine Pflicht hinaus, indem er dem Mann eine zukünftige Möglichkeit des Einlasses in Aussicht stellte. Zu jener Zeit scheint es nur seine Pflicht gewesen zu sein, den Mann abzuweisen, und tatsächlich wundern sich viele Erklärer der Schrift darüber, daß der Türhüter jene Andeutung überhaupt gemacht hat, denn er scheint die Genauigkeit zu lieben und wacht streng über sein Amt. Durch viele Jahre verläßt er seinen Posten nicht und schließt das Tor erst ganz zuletzt, er ist sich der Wichtigkeit seines Dienstes sehr bewußt, denn er sagt: › Ich bin mächtig ‹, er hat Ehrfurcht vor den Vorgesetzten, denn er sagt: › Ich bin nur der unterste Türhüter ‹, er ist nicht geschwätzig, denn während der vielen Jahre stellt er nur, wie es heißt, › teilnahmslose Fragen ‹, er ist nicht bestechlich, denn er sagt über ein Geschenk: › Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben ‹, er ist, wo es um Pflichterfüllung geht, weder zu rühren noch zu erbittern, denn es heißt von dem Mann, › er ermüdet den Türhüter durch sein Bitten ‹, schließlich deutet auch sein Äußeres auf einen pedantischen Charakter hin, die große Spitznase und der lange, dünne, schwarze, tartarische Bart. Kann es einen pflichttreueren Türhüter geben? Nun mischen sich aber in den Türhüter noch andere Wesenszüge ein, die für den, der Einlaß verlangt, sehr günstig sind und welche es immerhin begreiflich machen, daß er in jener Andeutung einer zukünftigen Möglichkeit über seine Pflicht etwas hinausgehen konnte. Es ist nämlich nicht zu leugnen, daß er ein wenig einfältig und im Zusammenhang damit ein wenig eingebildet ist. Wenn auch seine Äußerungen über seine Macht und über die Macht der anderen Türhüter und über deren sogar für ihn unerträglichen Anblick – ich sage, wenn auch alle diese Äußerungen an sich richtig sein mögen, so zeigt doch die Art, wie er diese Äußerungen vorbringt, daß seine Auffassung durch Einfalt und Überhebung getrübt ist. Die Erklärer sagen hierzu: › Richtiges Auffassen einer Sache und Mißverstehen der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus. ‹ Jedenfalls aber muß man annehmen, daß jene Einfalt und Überhebung, so geringfügig sie sich vielleicht auch äußern, doch die Bewachung des Eingangs schwächen, es sind Lücken im Charakter des Türhüters. Hiezu kommt noch, daß der Türhüter seiner Naturanlage nach freundlich zu sein scheint, er ist durchaus nicht immer Amtsperson. Gleich in den ersten Augenblicken macht er den Spaß, daß er den Mann trotz dem ausdrücklich aufrechterhaltenen Verbot zum Eintritt einlädt, dann schickt er ihn nicht etwa fort, sondern gibt ihm, wie es heißt, einen Schemel und läßt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Die Geduld, mit der er durch alle die Jahre die Bitten des Mannes erträgt, die kleinen Verhöre, die Annahme der Geschenke, die Vornehmheit, mit der er es zuläßt, daß der Mann neben ihm laut den unglücklichen Zufall verflucht, der den Türhüter hier aufgestellt hat – alles dieses läßt auf Regungen des Mitleids schließen. Nicht jeder Türhüter hätte so gehandelt. Und schließlich beugt er sich noch auf einen Wink hin tief zu dem Mann hinab, um ihm Gelegenheit zur letzten Frage zu geben. Nur eine schwache Ungeduld – der Türhüter weiß ja, daß alles zu Ende ist – spricht sich in den Worten aus: › Du bist unersättlich. ‹ Manche gehen sogar in dieser Art der Erklärung noch weiter und meinen, die Worte › Du bist unersättlich ‹ drücken eine Art freundschaftlicher Bewunderung aus, die allerdings von Herablassung nicht frei ist. Jedenfalls schließt sich so die Gestalt des Türhüters anders ab, als du es glaubst. « » Du kennst die Geschichte genauer als ich und längere Zeit «, sagte K. Sie schwiegen ein Weilchen. Dann sagte K.: » Du glaubst also, der Mann wurde nicht getäuscht? « » Mißverstehe mich nicht «, sagte der Geistliche, » ich zeige dir nur die Meinungen, die darüber bestehen. Du mußt nicht zuviel auf Meinungen achten. Die Schrift ist unveränderlich, und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber. In diesem Falle gibt es sogar eine Meinung, nach welcher gerade der Türhüter der Getäuschte ist. « » Das ist eine weitgehende Meinung «, sagte K. » Wie wird sie begründet? « » Die Begründung «, antwortete der Geistliche, » geht von der Einfalt des Türhüters aus. Man sagt, daß er das Innere des Gesetzes nicht kennt, sondern nur den Weg, den er vor dem Eingang immer wieder abgehen muß. Die Vorstellungen, die er von dem Innern hat, werden für kindlich gehalten, und man nimmt an, daß er das, wovor er dem Manne Furcht machen will, selbst fürchtet. Ja, er fürchtet es mehr als der Mann, denn dieser will ja nichts anderes als eintreten, selbst als er von den schrecklichen Türhütern des Innern gehört hat, der Türhüter dagegen will nicht eintreten, wenigstens erfährt man nichts darüber. Andere sagen zwar, daß er bereits im Innern gewesen sein muß, denn er ist doch einmal in den Dienst des Gesetzes aufgenommen worden, und das könne nur im Innern geschehen sein. Darauf ist zu antworten, daß er wohl auch durch einen Ruf aus dem Innern zum Türhüter bestellt worden sein könnte und daß er zumindest tief im Innern nicht gewesen sein dürfte, da er doch schon den Anblick des dritten Türhüters nicht mehr ertragen kann. Außerdem aber wird auch nicht berichtet, daß er während der vielen Jahre außer der Bemerkung über die Türhüter irgend etwas von dem Innern erzählt hätte. Es könnte ihm verboten sein, aber auch vom Verbot hat er nichts erzählt. Aus alledem schließt man, daß er über das Aussehen und die Bedeutung des Innern nichts weiß und sich darüber in Täuschung befindet. Aber auch über den Mann vom Lande soll er sich in Täuschung befinden, denn er ist diesem Mann untergeordnet und weiß es nicht. Daß er den Mann als einen Untergeordneten behandelt, erkennt man aus vielem, das dir noch erinnerlich sein dürfte. Daß er ihm aber tatsächlich untergeordnet ist, soll nach dieser Meinung ebenso deutlich hervorgehen. Vor allem ist der Freie dem Gebundenen übergeordnet. Nun ist der Mann tatsächlich frei, er kann hingehen, wohin er will, nur der Eingang in das Gesetz ist ihm verboten, und überdies nur von einem einzelnen, vom Türhüter. Wenn er sich auf den Schemel seitwärts vom Tor niedersetzt und dort sein Leben lang bleibt, so geschieht dies freiwillig, die Geschichte erzählt von keinem Zwang. Der Türhüter dagegen ist durch sein Amt an seinen Posten gebunden, er darf sich nicht auswärts entfernen, allem Anschein nach aber auch nicht in das Innere gehen, selbst wenn er es wollte. Außerdem ist er zwar im Dienst des Gesetzes, dient aber nur für diesen Eingang, also auch nur für diesen Mann, für den dieser Eingang allein bestimmt ist. Auch aus diesem Grunde ist er ihm untergeordnet. Es ist anzunehmen, daß er durch viele Jahre, durch ein ganzes Mannesalter gewissermaßen nur leeren Dienst geleistet hat, denn es wird gesagt, daß ein Mann kommt, also jemand im Mannesalter, daß also der Türhüter lange warten mußte, ehe sich sein Zweck erfüllte, und zwar so lange warten mußte, als es dem Mann beliebte, der doch freiwillig kam. Aber auch das Ende des Dienstes wird durch das Lebensende des Mannes bestimmt, bis zum Ende also bleibt er ihm untergeordnet. Und immer wieder wird betont, daß von alledem der Türhüter nichts zu wissen scheint. Daran wird aber nichts Auffälliges gesehen, denn nach dieser Meinung befindet sich der Türhüter noch in einer viel schwereren Täuschung, sie betrifft seinen Dienst. Zuletzt spricht er nämlich vom Eingang und sagt: › Ich gehe jetzt und schließe ihn ‹, aber am Anfang heißt es, daß das Tor zum Gesetz offensteht wie immer, steht es aber immer offen, immer, das heißt unabhängig von der Lebensdauer des Mannes, für den es bestimmt ist, dann wird es auch der Türhüter nicht schließen können. Darüber gehen die Meinungen auseinander, ob der Türhüter mit der Ankündigung, daß er das Tor schließen wird, nur eine Antwort geben oder seine Dienstpflicht betonen oder den Mann noch im letzten Augenblick in Reue und Trauer setzen will. Darin aber sind viele einig, daß er das Tor nicht wird schließen können. Sie glauben sogar, daß er, wenigstens am Ende, auch in seinem Wissen dem Manne untergeordnet ist, denn dieser sieht den Glanz, der aus dem Eingang des Gesetzes bricht, während der Türhüter als solcher wohl mit dem Rücken zum Eingang steht und auch durch keine Äußerung zeigt, daß er eine Veränderung bemerkt hätte. « » Das ist gut begründet «, sagte K., der einzelne Stellen aus der Erklärung des Geistlichen halblaut für sich wiederholt hatte. » Es ist gut begründet, und ich glaube nun auch, daß der Türhüter getäuscht ist. Dadurch bin ich aber von meiner früheren Meinung nicht abgekommen, denn beide decken sich teilweise. Es ist unentscheidend, ob der Türhüter klar sieht oder getäuscht wird. Ich sagte, der Mann wird getäuscht. Wenn der Türhüter klar sieht, könnte man daran zweifeln, wenn der Türhüter aber getäuscht ist, dann muß sich seine Täuschung notwendig auf den Mann übertragen. Der Türhüter ist dann zwar kein Betrüger, aber so einfältig, daß er sofort aus dem Dienst gejagt werden müßte. Du mußt doch bedenken, daß die Täuschung, in der sich der Türhüter befindet, ihm nichts schadet, dem Mann aber tausendfach. « » Hier stößt du auf eine Gegenmeinung «, sagte der Geistliche. » Manche sagen nämlich, daß die Geschichte niemandem ein Recht gibt, über den Türhüter zu urteilen. Wie er uns auch erscheinen mag, ist er doch ein Diener des Gesetzes, also zum Gesetz gehörig, also dem menschlichen Urteil entrückt. Man darf dann auch nicht glauben, daß der Türhüter dem Manne untergeordnet ist. Durch seinen Dienst auch nur an den Eingang des Gesetzes gebunden zu sein, ist unvergleichlich mehr, als frei in der Welt zu leben. Der Mann kommt erst zum Gesetz, der Türhüter ist schon dort. Er ist vom Gesetz zum Dienst bestellt, an seiner Würdigkeit zu zweifeln, hieße am Gesetz zweifeln. « » Mit dieser Meinung stimme ich nicht überein «, sagte K. kopfschüttelnd, » denn wenn man sich ihr anschließt, muß man alles, was der Türhüter sagt, für wahr halten. Daß das aber nicht möglich ist, hast du ja selbst ausführlich begründet. « » Nein «, sagte der Geistliche, » man muß nicht alles für wahr halten, man muß es nur für notwendig halten. « » Trübselige Meinung «, sagte K. » Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht. « K. sagte das abschließend, aber sein Endurteil war es nicht. Er war zu müde, um alle Folgerungen der Geschichte übersehen zu können, es waren auch ungewohnte Gedankengänge, in die sie ihn führte, unwirkliche Dinge, besser geeignet zur Besprechung für die Gesellschaft der Gerichtsbeamten als für ihn. Die einfache Geschichte war unförmlich geworden, er wollte sie von sich abschütteln, und der Geistliche, der jetzt ein großes Zartgefühl bewies, duldete es und nahm K.s Bemerkung schweigend auf, obwohl sie mit seiner eigenen Meinung gewiß nicht übereinstimmte. Sie gingen eine Zeitlang schweigend weiter, K. hielt sich eng neben dem Geistlichen, ohne zu wissen, wo er sich befand. Die Lampe in seiner Hand war längst erloschen. Einmal blinkte gerade vor ihm das silberne Standbild eines Heiligen nur mit dem Schein des Silbers und spielte gleich wieder ins Dunkel über. Um nicht vollständig auf den Geistlichen angewiesen zu bleiben, fragte ihn K.: » Sind wir jetzt nicht in der Nähe des Haupteinganges? « » Nein «, sagte der Geistliche, » wir sind weit von ihm entfernt. Willst du schon fortgehen? « Obwohl K. gerade jetzt nicht daran gedacht hatte, sagte er sofort: » Gewiß, ich muß fortgehen. Ich bin Prokurist einer Bank, man wartet auf mich, ich bin nur hergekommen, um einem ausländischen Geschäftsfreund den Dom zu zeigen. « » Nun «, sagte der Geistliche, und reichte K. die Hand, » dann geh. « » Ich kann mich aber im Dunkel allein nicht zurechtfinden «, sagte K. » Geh links zur Wand «, sagte der Geistliche, » dann weiter die Wand entlang, ohne sie zu verlassen, und du wirst einen Ausgang finden. « Der Geistliche hatte sich erst ein paar Schritte entfernt, aber K. rief schon sehr laut: » Bitte, warte noch! « » Ich warte «, sagte der Geistliche. » Willst du nicht noch etwas von mir? « fragte K. » Nein «, sagte der Geistliche. » Du warst früher so freundlich zu mir «, sagte K., » und hast mir alles erklärt, jetzt aber entläßt du mich, als läge dir nichts an mir. « » Du mußt doch fortgehen «, sagte der Geistliche. » Nun ja «, sagte K., » sieh das doch ein. « » Sieh du zuerst ein, wer ich bin «, sagte der Geistliche. » Du bist der Gefängniskaplan «, sagte K. und ging näher zum Geistlichen hin, seine sofortige Rückkehr in die Bank war nicht so notwendig, wie er sie dargestellt hatte, er konnte recht gut noch hierbleiben. » Ich gehöre also zum Gericht «, sagte der Geistliche. » Warum sollte ich also etwas von dir wollen. Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entläßt dich, wenn du gehst. « 10 Ende Am Vorabend seines einunddreißigsten Geburtstages – es war gegen neun Uhr abends, die Zeit der Stille auf den Straßen – kamen zwei Herren in K.s Wohnung. In Gehröcken, bleich und fett, mit scheinbar unverrückbaren Zylinderhüten. Nach einer kleinen Förmlichkeit bei der Wohnungstür wegen des ersten Eintretens wiederholte sich die gleiche Förmlichkeit in größerem Umfange vor K.s Tür. Ohne daß ihm der Besuch angekündigt gewesen wäre, saß K., gleichfalls schwarz angezogen, in einem Sessel in der Nähe der Tür und zog langsam neue, scharf sich über die Finger spannende Handschuhe an, in der Haltung, wie man Gäste erwartet. Er stand gleich auf und sah die Herren neugierig an. » Sie sind also für mich bestimmt? « fragte er. Die Herren nickten, einer zeigte mit dem Zylinderhut in der Hand auf den anderen. K. gestand sich ein, daß er einen anderen Besuch erwartet hatte. Er ging zum Fenster und sah noch einmal auf die dunkle Straße. Auch fast alle Fenster auf der anderen Straßenseite waren schon dunkel, in vielen die Vorhänge herabgelassen. In einem beleuchteten Fenster des Stockwerkes spielten kleine Kinder hinter einem Gitter miteinander und tasteten, noch unfähig, sich von ihren Plätzen fortzubewegen, mit den Händchen nacheinander. » Alte, untergeordnete Schauspieler schickt man um mich «, sagte sich K. und sah sich um, um sich nochmals davon zu überzeugen. » Man sucht auf billige Weise mit mir fertig zu werden. « K. wendete sich plötzlich ihnen zu und fragte: » An welchem Theater spielen Sie? « » Theater? « fragte der eine Herr mit zuckenden Mundwinkeln den anderen um Rat. Der andere gebärdete sich wie ein Stummer, der mit dem widerspenstigsten Organismus kämpft. » Sie sind nicht darauf vorbereitet, gefragt zu werden «, sagte sich K. und ging seinen Hut holen. Schon auf der Treppe wollten sich die Herren in K. einhängen, aber K. sagte: » Erst auf der Gasse, ich bin nicht krank. « Gleich aber vor dem Tor hängten sie sich in ihn in einer Weise ein, wie K. noch niemals mit einem Menschen gegangen war. Sie hielten die Schultern eng hinter den seinen, knickten die Arme nicht ein, sondern benützten sie, um K.s Arme in ihrer ganzen Länge zu umschlingen, unten erfaßten sie K.s Hände mit einem schulmäßigen, eingeübten, unwiderstehlichen Griff. K. ging straff gestreckt zwischen ihnen, sie bildeten jetzt alle drei eine solche Einheit, daß, wenn man einen von ihnen zerschlagen hätte, alle zerschlagen gewesen wären. Es war eine Einheit, wie sie fast nur Lebloses bilden kann. Unter den Laternen versuchte K. öfters, so schwer es bei diesem engen Aneinander ausgeführt werden konnte, seine Begleiter deutlicher zu sehen, als es in der Dämmerung seines Zimmers möglich gewesen war. » Vielleicht sind es Tenöre «, dachte er im Anblick ihres schweren Doppelkinns. Er ekelte sich vor der Reinlichkeit ihrer Gesichter. Man sah förmlich noch die säubernde Hand, die in ihre Augenwinkel gefahren, die ihre Oberlippe gerieben, die die Falten am Kinn ausgekratzt hatte. Als K. das bemerkte, blieb er stehen, infolgedessen blieben auch die andern stehen; sie waren am Rand eines freien, menschenleeren, mit Anlagen geschmückten Platzes. » Warum hat man gerade Sie geschickt! « rief er mehr, als er fragte. Die Herren wußten scheinbar keine Antwort, sie warteten mit dem hängenden, freien Arm, wie Krankenwärter, wenn der Kranke sich ausruhen will. » Ich gehe nicht weiter «, sagte K. versuchsweise. Darauf brauchten die Herren nicht zu antworten, es genügte, daß sie den Griff nicht lockerten und K. von der Stelle wegzuheben versuchten, aber K. widerstand. » Ich werde nicht mehr viel Kraft brauchen, ich werde jetzt alle anwenden «, dachte er. Ihm fielen die Fliegen ein, die mit zerreißenden Beinchen von der Leimrute wegstrebten. » Die Herren werden schwere Arbeit haben. « Da stieg vor ihnen aus einer tiefer gelegenen Gasse auf einer kleinen Treppe Fräulein Bürstner zum Platz empor. Es war nicht ganz sicher, ob sie es war, die Ähnlichkeit war freilich groß. Aber K. lag auch nichts daran, ob es bestimmt Fräulein Bürstner war, bloß die Wertlosigkeit seines Widerstandes kam ihm gleich zum Bewußtsein. Es war nichts Heldenhaftes, wenn er widerstand, wenn er jetzt den Herren Schwierigkeiten bereitete, wenn er jetzt in der Abwehr noch den letzten Schein des Lebens zu genießen versuchte. Er setzte sich in Gang, und von der Freude, die er dadurch den Herren machte, ging noch etwas auf ihn selbst über. Sie duldeten es jetzt, daß er die Wegrichtung bestimmte, und er bestimmte sie nach dem Weg, den das Fräulein vor ihnen nahm, nicht etwa, weil er sie einholen, nicht etwa, weil er sie möglichst lange sehen wollte, sondern nur deshalb, um die Mahnung, die sie für ihn bedeutete, nicht zu vergessen. » Das einzige, was ich jetzt tun kann «, sagte er sich, und das Gleichmaß seiner Schritte und der Schritte der beiden anderen bestätigte seine Gedanken, » das einzige, was ich jetzt tun kann, ist, bis zum Ende den ruhig einteilenden Verstand behalten. Ich wollte immer mit zwanzig Händen in die Welt hineinfahren und überdies zu einem nicht zu billigenden Zweck. Das war unrichtig. Soll ich nun zeigen, daß nicht einmal der einjährige Prozeß mich belehren konnte? Soll ich als ein begriffsstutziger Mensch abgehen? Soll man mir nachsagen dürfen, daß ich am Anfang des Prozesses ihn beenden wollte und jetzt, an seinem Ende, ihn wieder beginnen will? Ich will nicht, daß man das sagt. Ich bin dafür dankbar, daß man mir auf diesem Weg diese halbstummen, verständnislosen Herren mitgegeben hat und daß man es mir überlassen hat, mir selbst das Notwendige zu sagen. « Das Fräulein war inzwischen in eine Seitengasse eingebogen, aber K. konnte sie schon entbehren und überließ sich seinen Begleitern. Alle drei zogen nun in vollem Einverständnis über eine Brücke im Mondschein, jeder kleinen Bewegung, die K. machte, gaben die Herren jetzt bereitwillig nach, als er ein wenig zum Geländer sich wendete, drehten auch sie sich in ganzer Front dorthin. Das im Mondlicht glänzende und zitternde Wasser teilte sich um eine kleine Insel, auf der, wie zusammengedrängt, Laubmassen von Bäumen und Sträuchern sich aufhäuften. Unter ihnen, jetzt unsichtbar, führten Kieswege mit bequemen Bänken, auf denen K. in manchem Sommer sich gestreckt und gedehnt hatte. » Ich wollte ja gar nicht stehenbleiben «, sagte er zu seinen Begleitern, beschämt durch ihre Bereitwilligkeit. Der eine schien dem anderen hinter K.s Rücken einen sanften Vorwurf wegen des mißverständlichen Stehenbleibens zu machen, dann gingen sie weiter. Sie kamen durch einige ansteigende Gassen, in denen hie und da Polizisten standen oder gingen; bald in der Ferne, bald in nächster Nähe. Einer mit buschigem Schnurrbart, die Hand am Griff des Säbels, trat wie mit Absicht nahe an die nicht ganz unverdächtige Gruppe. Die Herren stockten, der Polizeimann schien schon den Mund zu öffnen, da zog K. mit Macht die Herren vorwärts. Öfters drehte er sich vorsichtig um, ob der Polizeimann nicht folgte; als sie aber eine Ecke zwischen sich und dem Polizeimann hatten, fing K. zu laufen an, die Herren mußten trotz großer Atemnot auch mit laufen. So kamen sie rasch aus der Stadt hinaus, die sich in dieser Richtung fast ohne Übergang an die Felder anschloß. Ein kleiner Steinbruch, verlassen und öde, lag in der Nähe eines noch ganz städtischen Hauses. Hier machten die Herren halt, sei es, daß dieser Ort von allem Anfang an ihr Ziel gewesen war, sei es, daß sie zu erschöpft waren, um noch weiter zu laufen. Jetzt ließen sie K. los, der stumm wartete, nahmen die Zylinderhüte ab und wischten sich, während sie sich im Steinbruch umsahen, mit den Taschentüchern den Schweiß von der Stirn. Überall lag der Mondschein mit seiner Natürlichkeit und Ruhe, die keinem anderen Licht gegeben ist. Nach Austausch einiger Höflichkeiten hinsichtlich dessen, wer die nächsten Aufgaben auszuführen habe – die Herren schienen die Aufträge ungeteilt bekommen zu haben –, ging der eine zu K. und zog ihm den Rock, die Weste und schließlich das Hemd aus. K. fröstelte unwillkürlich, worauf ihm der Herr einen leichten, beruhigenden Schlag auf den Rücken gab. Dann legte er die Sachen sorgfältig zusammen, wie Dinge, die man noch gebrauchen wird, wenn auch nicht in allernächster Zeit. Um K. nicht ohne Bewegung der immerhin kühlen Nachtluft auszusetzen, nahm er ihn unter den Arm und ging mit ihm ein wenig auf und ab, während der andere Herr den Steinbruch nach irgendeiner passenden Stelle absuchte. Als er sie gefunden hatte, winkte er, und der andere Herr geleitete K. hin. Es war nahe der Bruchwand, es lag dort ein losgebrochener Stein. Die Herren setzten K. auf die Erde nieder, lehnten ihn an den Stein und betteten seinen Kopf obenauf. Trotz aller Anstrengung, die sie sich gaben, und trotz allem Entgegenkommen, das ihnen K. bewies, blieb seine Haltung eine sehr gezwungene und unglaubwürdige. Der eine Herr bat daher den anderen, ihm für ein Weilchen das Hinlegen K.s allein zu überlassen, aber auch dadurch wurde es nicht besser. Schließlich ließen sie K. in einer Lage, die nicht einmal die beste von den bereits erreichten Lagen war. Dann öffnete der eine Herr seinen Gehrock und nahm aus einer Scheide, die an einem um die Weste gespannten Gürtel hing, ein langes, dünnes, beiderseitig geschärftes Fleischermesser, hielt es hoch und prüfte die Schärfe im Licht. Wieder begannen die widerlichen Höflichkeiten, einer reichte über K. hinweg das Messer dem anderen, dieser reichte es wieder über K. zurück. K. wußte jetzt genau, daß es seine Pflicht gewesen wäre, das Messer, als es von Hand zu Hand über ihm schwebte, selbst zu fassen und sich einzubohren. Aber er tat es nicht, sondern drehte den noch freien Hals und sah umher. Vollständig konnte er sich nicht bewähren, alle Arbeit den Behörden nicht abnehmen, die Verantwortung für diesen letzten Fehler trug der, der ihm den Rest der dazu nötigen Kraft versagt hatte. Seine Blicke fielen auf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch angrenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch, schwach und dünn in der Ferne und Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus. Wer war es? Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer, der teilnahm? Einer, der helfen wollte? War es ein einzelner? Waren es alle? War noch Hilfe? Gab es Einwände, die man vergessen hatte? Gewiß gab es solche. Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, widersteht sie nicht. Wo war der Richter, den er nie gesehen hatte? Wo war das hohe Gericht, bis zu dem er nie gekommen war? Er hob die Hände und spreizte alle Finger. Aber an K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm tief ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K., wie die Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachteten. » Wie ein Hund! « sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.

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Tom Sawyer by Mark Twain Aligned by: András Farkas (autoalignment) Source: Project Gutenberg Die Abenteuer Tom Sawyers Mark Twain Vorwort des Autors. Die meisten der hier erzählten Abenteuer haben sich tatsächlich zugetragen. Das eine oder das andere habe ich selbst erlebt, die anderen meine Schulkameraden. Huck Finn ist nach dem Leben gezeichnet, nicht weniger Tom Sawyer, doch entspricht dieser nicht einer bestimmten Persönlichkeit, sondern wurde mit charakteristischen Zügen mehrerer meiner Altersgenossen ausgestattet und darf daher jenem gegenüber als einigermaßen kompliziertes psychologisches Problem gelten. Ich muß hier bemerken, daß zur Zeit meiner Erzählung - - vor dreißig bis vierzig Jahren - - unter den Unmündigen und Unwissenden des Westens noch die seltsamsten, unwahrscheinlichsten Vorurteile und Aberglauben herrschten. Obwohl dies Buch vor allem zur Unterhaltung der kleinen Welt geschrieben wurde, so darf ich doch wohl hoffen, daß es auch von Erwachsenen nicht ganz unbeachtet gelassen werde, habe ich doch darin versucht, ihnen auf angenehme Weise zu zeigen, was sie einst selbst waren, wie sie fühlten, dachten, sprachen, und welcher Art ihr Ehrgeiz und ihre Unternehmungen waren. Erstes Kapitel.,, Tom! " Keine Antwort.,, Tom! " Alles still.,, Soll mich doch wundern, wo der Bengel wieder steckt! Tom! " Die alte Dame schob ihre Brille hinunter und schaute darüber hinweg; dann schob sie sie auf die Stirn und schaute darunter weg. Selten oder nie schaute sie nach einem so kleinen Ding, wie ein Knabe ist, durch die Gläser dieser ihrer Staatsbrille, die der Stolz ihres Herzens war und mehr stilvoll als brauchbar; sie würde durch ein paar Herdringe ebensoviel gesehen haben. Unruhig hielt sie einen Augenblick Umschau und sagte, nicht gerade erzürnt, aber doch immer laut genug, um im ganzen Zimmer gehört zu werden:,, Ich werde strenges Gericht halten müssen, wenn ich dich erwische, ich werde - - " Hier brach sie ab, denn sie hatte sich inzwischen niedergebeugt und stocherte mit dem Besen unter dem Bett herum, und dann mußte sie wieder Atem holen, um ihrem Ärger Ausdruck zu verleihen. Sie hatte nichts als die Katze aufgestöbert.,, So ein Junge ist mir noch gar nicht vorgekommen! " Sie ging zur offenen Tür, blieb stehen und spähte zwischen den Weinranken und dem blühenden Unkraut, welche zusammen den,, Garten " ausmachten, hindurch. Kein Tom. So erhob sie denn ihre Stimme und rief in alle Ecken hinein:,, Tom, Tom! " Hinter ihr wurde ein schwaches Geräusch hörbar und sie wandte sich noch eben rechtzeitig um, um einen kleinen Burschen zu erwischen und an der Flucht zu hindern.,, Also, da steckst du? An die Speisekammer habe ich freilich nicht gedacht! Was hast du denn da wieder gemacht, he? ",, Nichts. ",, Nichts! Schau deine Hände an und deinen Mund. Was ist das? ",, Bei Gott, ich weiß es nicht, Tante! ",, Aber ich weiß es, ' s ist Marmelade. Wie oft habe ich dir gesagt, wenn du über die Marmelade gingest, würde ich dich bläuen. Gib mir den Stock her! " Der Stock zitterte in ihren Händen. Die Gefahr war dringend.,, Holla, Tante, sieh dich mal schnell um! " Die alte Dame fuhr herum und brachte ihre Röcke in Sicherheit, während der Bursche, den Augenblick wahrnehmend, auf den hohen Bretterzaun kletterte und jenseits verschwand. Tante Polly stand sprachlos, dann begann sie gutmütig zu lächeln.,, Der Kuckuck hole den Jungen! Werde ich denn das niemals lernen? Hat er mir denn nicht schon Streiche genug gespielt, daß ich immer wieder auf den Leim krieche? Aber alte Torheit ist die größte Torheit, und ein alter Hund lernt keine neuen Kunststücke mehr. Aber, du lieber Gott, er macht jeden Tag neue, und wie kann jemand bei ihm wissen, was kommt! Es scheint, er weiß ganz genau, wie lange er mich quälen kann, bis ich dahinter komme, und ist gar zu gerissen, wenn es gilt, etwas ausfindig zu machen, um mich für einen Augenblick zu verblüffen oder mich wider Willen lachen zu machen, es ist immer dieselbe Geschichte, und ich bringe es nicht fertig, ihn zu prügeln. Ich tue meine Pflicht nicht an dem Knaben, wie ich sollte, Gott weiß es., Spare die Rute, und du verdirbst dein Kind ', heißt es. Ich begehe vielleicht unrecht und kann es vor mir und ihm nicht verantworten, fürcht ' ich. Er steckt voller Narrenspossen und allerhand Unsinn - - aber einerlei! Er ist meiner toten Schwester Kind, ein armes Kind, und ich habe nicht das Herz, ihn irgendwie am Gängelband zu führen. Wenn ich ihn sich selbst überlasse, drückt mich mein Gewissen, und so oft ich ihn schlagen muß, möchte mit das alte Herz brechen. Nun, mag's drum sein, der weibgeborene Mensch bleibt halt sein ganzes Leben durch in Zweifel und Irrtum, wie die heilige Schrift sagt, und ich denke, es ist so. Er wird wieder den ganzen Abend Blindekuh spielen, und ich sollte ihn von Rechts wegen, um ihn zu strafen, morgen arbeiten lassen. Es ist wohl hart für ihn, am Samstag stillzusitzen, wenn alle anderen Knaben Feiertag haben, aber er haßt Arbeit mehr als irgend sonst was, und ich will meine Pflicht an ihm tun, oder ich würde das Kind zu Grunde richten. " Tom spielte Blindekuh und fühlte sich sehr wohl dabei. Zur rechten Zeit kehrte er ganz frech nach Hause zurück, um Jim, dem kleinen, farbigen Bengel, zu helfen, noch vor Tisch das Holz für den nächsten Tag zu sägen und zu spalten - - und schließlich hatte er Jim die Abenteuer des Tages erzählt, während Jim drei Viertel der Arbeit getan hatte. Toms jüngerer Bruder (oder vielmehr Halbbruder) Sid war bereits fertig mit seinem Anteil an der Arbeit, dem Zusammenlesen des Holzes, denn er war ein phlegmatischer Junge und hatte keinerlei Abenteuer und kühne Unternehmungen. Während Tom nun seine Suppe aß und nach Möglichkeit Zuckerstückchen stahl, stellte Tante Polly allerhand Fragen an ihn, arglistige und verfängliche Fragen, denn sie brannte darauf, ihn in eine Falle zu locken. Wie so viele gutherzige Geschöpfe, bildete sie sich auf ihr Talent in der höheren Diplomatie nicht wenig ein und betrachtete ihre sehr durchsichtigen Anschläge als wahre Wunder inquisitorischer Verschlagenheit.,, Tom, " sagte sie,,, es war wohl ziemlich heiß in der Schule? ",, M - - ja ",, Sehr heiß, he? ",, M - - ja. ",, Hattest du nicht Lust, zum Schwimmen zu gehen? " Tom stutzte - - ein ungemütlicher Verdacht stieg in ihm auf. Er schaute forschend in Tante Pollys Gesicht, aber es war nichts darin zu lesen. So sagte er:,, Nein - - das heißt - - nicht so sehr. " Die alte Dame streckte ihre Hand nach ihm aus, befühlte seinen Kragen und sagte:,, Jetzt, scheint mir, kann dir jedenfalls nicht mehr zu warm sein, nicht? " Auf diese Art, dachte sie, habe sie sich von der vollkommenen Trockenheit seines Kragens überzeugt, ohne ihre wahre Absicht von fern merken zu lassen. Aber Tom hatte trotzdem begriffen, woher der Wind wehte. So beeilte er sich wohlweislich, allen etwaigen Fragen zuvorzukommen.,, Einige von uns haben sich den Kopf unter die Pumpe gehalten - - meiner ist noch feucht - - fühl nur. " Tante Polly ärgerte sich, eine so wichtige Indizie übersehen zu haben; so hatte sie von vornherein ihre Waffen aus der Hand gegeben. Dann kam ihr aber ein neuer Gedanke.,, Tom, du hast doch wohl nicht den Kragen, den ich dir an die Jacke genäht hatte, beim Unter - die - Pumpe - halten des Kopfes abgenommen? Mach doch mal die Jacke auf! " Toms Mienen hellten sich auf. Er öffnete seine Jacke. Sein Kragen saß ganz fest.,, Wirklich. Na ' s ist gut, du kannst gehen. Ich hätte darauf geschworen, daß du im Wasser gewesen seiest. Nun, dir geht es diesmal wie der gebrannten Katze, ich habe dich zu Unrecht in Verdacht gehabt - - diesmal, Tom. " Sie war halb verdrießlich, so aus dem Felde geschlagen zu sein, und doch freute sie sich, daß Tom doch wirklich mal gehorsam gewesen war. Plötzlich sagte Sidney:,, Ich hab ' aber doch gesehen, daß du seinen Kragen mit weißem Zwirn genäht hast - - und jetzt ist er auf einmal schwarz! ",, Freilich hab ' ich weißen genommen - - Tom! " Aber Tom hatte sich schon aus dem Staube gemacht.,, Na, warte, Sidney, das sollst du mir büßen, " damit war er aus der Tür. An einem sicheren Plätzchen beschaute Tom dann zwei lange Nadeln, welche unter dem Kragen seines Rockes steckten, die eine mit schwarzem, die andere mit weißem Zwirn.,, Sie allein hätte es nie gemerkt, " dachte er,,, ohne diesen Sid. Einmal schwarzen, das andere Mal weißen - - zum Teufel, ich wollte, sie entschiede sich für einen, damit ich wüßte, woran ich wäre. Und Sid - - na, seine Prügel sind ihm sicher; wenn ich's nicht tue, soll man mir die Ohren abschneiden. " Tom war kein Musterknabe, aber er kannte einen und haßte ihn von Herzen. Ein Augenblick - - und Tom hatte alle seine Kümmernisse vergessen. Nicht, daß sie auf einmal geringer geworden wären oder weniger auf dem Herzen des kleinen Mannes gelastet hätten, - - aber Tom hatte eine neue, wundervolle Beschäftigung, und die richtete ihn auf und half ihm über alles hinweg - - für den Augenblick; wie eben ein Mann alles Mißgeschick beim Gedanken an neue Taten verschmerzt. Diese neue Beschäftigung war eine ganz neue Art, zu pfeifen, die ihm irgend ein Negerbengel vor kurzem beigebracht hatte, und die jetzt ungestört geübt werden mußte. Die wichtige Erfindung beruhte auf einem vogelartigen, schmetternden Triller, mit gleichzeitigem, durch Zungenschlag hervorgebrachten Geschwindmarsch von Tönen. Der Leser weiß, wie man diese delikate Musik ausübt - - oder er ist niemals jung gewesen. Tom hatte mit Fleiß und Aufmerksamkeit bald den Trick heraus und schlenderte, den Mund voll Harmonie und Stolz im Herzen, die Dorfstraße hinunter. Er fühlte sich wie ein Sterngucker, der ein neues Gestirn entdeckt hat. Nur daß keines Sternguckers Freude und Genugtuung so tief und ungetrübt hatte sein können wie die Toms. Der Sommerabend war lang und noch hell. Plötzlich hörte Tom auf zu pfeifen. Ein Fremder stand vor ihm, ein Bursche, kaum größer als er selbst. Eine neue Bekanntschaft, einerlei, welchen Alters und Geschlechts, war in dem armseligen, kleinen St. Petersburg schon ein Ereignis. Dieser Bursche war gut gekleidet - - zu gut für einen Werktag. Sonderbar. Seine Mütze war zierlich, seine enganliegende blaue Jacke neu und sauber, ebenso seine Hose. Er hatte Schuhe an, und es war erst Freitag! Er hatte sogar ein Halstuch um, ein wahres Monstrum von einem Tuch. Überhaupt hatte er etwas an sich, was den Naturmenschen in Tom herausforderte. Je mehr Tom das neue Weltwunder anstarrte, um so mehr rümpfte er die Nase über solche Geziertheit, und sein eigenes Äußere erschien ihm immer schäbiger. Beide schwiegen. Wollte einer ausweichen, so wollte auch der andere ausweichen, natürlich nach derselben Seite. So schauten sie lange einander herausfordernd in die Augen. Endlich sagte Tom:,, Soll ich dich prügeln? ",, Das möchte ich doch erst einmal sehen! ",, Das wirst du allerdings sehen! ",, Du kannst es ja gar nicht! ",, Wohl kann ich's! ",, Pah! ",, Wohl kann ich's! ",, Nicht wahr! ",, Doch wahr! " Eine ungemütliche Pause. Darauf wieder Tom:,, Wie heißt du denn? ",, Das geht dich nichts an, Straßenjunge! ",, Ich will dir schon zeigen, daß mich's was angeht! ",, Na, warum tust du's denn nicht? ",, Wenn du noch viel sagst, tu ich's! ",, Viel - - viel - - viel, - - so, nun tu's! ",, Ach, du hältst dich wohl für mehr als mich? Wenn ich nur wollte, könnte ich dich mit einer Hand unterkriegen! ",, Na, warum tust du's denn nicht? Du sagst nur immer, daß du's kannst! ",, Wenn du frech wirst, tu ich's! ",, Pah - - das kann jeder sagen! ",, Du bist wohl was Rechts, du Windhund! ",, Was du für einen dummen Hut aufhast! ",, Wenn er dir nicht gefällt, kannst du ihn ja herunterschlagen! Schlag ihn doch runter, wenn du ein paar Ohrfeigen haben willst! ",, Lügner! ",, Selbst Lügner! ",, Prahlhans, du bist ja zu feig! ",, Ach, mach, daß du weiter kommst! ",, Du, wenn du noch lange Blödsinn schwatzt, schmeiß ich dir ' nen Stein an den Kopf! ",, Na, so wag's doch! ",, Ich tu's auch! ",, Warum tust du's denn nicht? Du sagst es ja immer nur. Tu's doch mal! Du bist ja zu bange! ",, Ich bin nicht bange! ",, Natürlich bist du bange! ",, Nicht wahr! ",, Doch wahr! " Wieder eine Pause. Beide starren sich an, gehen umeinander herum und beschnüffeln sich wie junge Hunde. Plötzlich liegen sie in schönster Kampfstellung Schulter an Schulter. Tom schrie:,, Scher dich fort! ",, Fällt mir gar nicht ein! ",, Fällt mir auch nicht ein! " So standen sie, jeder einen Fuß als Stütze zurückgestellt, aus aller Kraft aneinander herumschiebend und sich wütend anstarrend. Aber keiner konnte dem Gegner einen Vorteil abgewinnen. Von diesem stillen Kampf heiß und atemlos, hielten beide gleichzeitig inne, und Tom sagte:,, Du bist doch ein Feigling und ein Aff obendrein! Ich werd's meinem großen Bruder sagen, der kann dich mit dem kleinen Finger verhauen, und ich werd's ihm sagen, daß er's tut! ",, Was schert mich dein Bruder! Ich hab ' einen Bruder, der noch viel stärker ist als deiner. Der wirft deinen Bruder über den Zaun da! " Beide Brüder waren natürlich durchaus imaginär.,, Das lügst du! ",, Das weißt du! " Tom zog mit dem Fuß einen Strich durch den Sand und sagte:,, Komm herüber und ich hau dich, daß du liegen bleibst! " Sofort sprang der andere hinüber und sagte herausfordernd:,, So, nun tu's! ",, Mach mich nicht wütend, rat ich dir! ",, Beim Deuker, für zwei Penny würd ' ich's wirklich tun! " Im nächsten Augenblick hatte der feine Junge ein Zweipennystück aus der Tasche geholt und hielt es Tom herausfordernd vor die Nase. Tom schlug es ihm aus der Hand. Im nächsten Augenblick rollten beide Jungen im Schmutz, ineinander verbissen wie zwei Katzen, und während ein paar Minuten rissen und zerrten sie sich an den Haaren und Kleidern, schlugen und zerkratzten sich die Nasen und bedeckten sich mit Staub und Ruhm. Plötzlich klärte sich die Situation, und aus dem Kampfgewühl tauchte Tom empor, auf dem andern reitend und ihn mit den Fäusten traktierend.,, Sag: Genug! " Der Bengel setzte seine krampfhaften Bemühungen, sich zu befreien, fort, vor Wut schreiend.,, Sag: Genug! " Und Tom prügelte lustig weiter. Schließlich stieß der andere ein halb ersticktes,, Genug " hervor. Tom ließ ihn aufstehen und sagte:,, So, nun weißt du's! Das nächste Mal sieh dich besser vor, mit wem du anbindest! " Der Fremde trollte sich, sich den Staub von den Kleidern schlagend, schluchzend, sich die Nase reibend, von Zeit zu Zeit sich umsehend, um Tom zu drohen, daß er ihn das nächste Mal verhauen werde, worauf Tom höhnisch lachte und seelenvergnügt nach Hause schlenderte. Und sobald er den Rücken gewandt hatte, hob der andere einen Stein auf, zielte, traf Tom zwischen die Schultern und rannte davon mit der Geschwindigkeit einer Antilope. Tom verfolgte den Verräter bis zu dessen Wohnung und fand so heraus, wo er wohne. Als tapferer Held blieb er dann herausfordernd eine Zeitlang an einem Zaun stehen, um zu warten, ob der Feind es wagen werde, wieder herauszukommen; aber der Feind begnügte sich, ihm durch die Fenster Gesichter zu schneiden und hütete sich, den neutralen Boden zu verlassen. Schließlich erschien des Feindes Mutter und nannte Tom ein schlechtes, lasterhaftes, gemeines Kind und jagte ihn davon. So ging Tom also fort, aber er sagte,,, er hoffe, den Feind doch noch einmal zu erwischen. " Er kam ein bißchen spät nach Haus, und indem er behutsam in das Fenster kletterte, entdeckte er einen Hinterhalt in Gestalt seiner Tante; und als sie den Zustand seiner Kleider sah, war ihr Entschluß unumstößlich gefaßt, ihn am Samstag in strenge Haft zu nehmen und ordentlich schwitzen zu lassen. Zweites Kapitel. Samstag morgen war gekommen, und es war ein heller, frischer Sommermorgen und sprühend von Leben. Jedes Herz war voll Gesang, und wessen Herz jung war, der hatte ein Lied auf den Lippen. Freude glänzte auf allen Gesichtern, und die Lust, zu springen, zuckte in aller Füßen. Die Akazien blühten, und ihr süßer Duft erfüllte die Luft. Cardiff Hill, in der Nähe des Hauses und dasselbe überragend, war von Grün bedeckt und war gerade entfernt genug, um wie das gelobte Land, träumerisch, ruhevoll und unberührt zu erscheinen. Tom erschien auf der Bildfläche mit einem Eimer voll Farbe und einem großen Pinsel. Er überblickte die Umzäunung - - und aller Glanz schwand aus der Natur, und tiefe Schwermut bemächtigte sich seines Geistes. Dreißig Yards lang und neun Fuß hoch war der unglückliche Zaun! Das Leben erschien ihm traurig. Er empfand sein kleines Dasein als Last. Seufzend tauchte er den Pinsel in den Topf und strich einmal über die oberste Planke, wiederholte die Operation, und nochmals, und verglich das kleine gestrichene Stückchen mit der unendlichen noch zu erledigenden Strecke - - und hockte sich entmutigt auf einen Baumstumpf. Jim kam mit einem Zinneimer aus der Tür,,, Buffalo Gals " singend. Wasser von der Pumpe zu holen, war Tom bisher immer als eine der unwürdigsten Verrichtungen erschienen, jetzt schien es ihm anders. Er sagte sich, daß er dort Gesellschaft finden werde; Weiße, Mulatten und Neger, Knaben und Mädchen traf man immer dort, die, bis an sie die Reihe, zu pumpen kam, herumlungerten, irgend ein Spiel trieben, sich zankten, prügelten und Wetten anstellten. Und dann überlegte er, daß die Pumpe zwar nur einhundertundfünfzig Yards entfernt sei, Jim trotzdem aber nie unter einer Stunde brauchte, um einen Eimer Wasser zu holen, und dann auch noch gewöhnlich geholt werden mußte. Er sagte also:,, Du, Jim, ich will Wasser holen, wenn du inzwischen anstreichen willst. " Jim schüttelte den Kopf und antwortete:,, Es geht nicht, Master Tom. Alte Dame sagen mir zu gehen und holen Wasser und nix aufhalten mit irgendwem. Sie sagen, sie wissen, daß Master Tom werden versuchen zu gewinnen mich zu streichen, und so sie sagen, Jim zu gehen nach sein eigenes Geschäft und nix zu streichen. ",, Ach was, Jim, laß sie nur reden! So macht sie's immer. Gib mir nur den Eimer - - du sollst sehen, ich bin gleich wieder da! Sie braucht's ja nicht zu wissen. ",, Nein, Master Tom, ich nix tun! Alte Dame wollen ihm Kopf abreißen, wenn er tut so. Sicher, Master Tom! ",, Sie? Sie kann ja gar nicht schlagen - - sie fährt einem mit dem Fingerhut über den Kopf, und wer macht sich daraus was? Ihre Worte sind gefährlich, hm, - - ja, aber sagen, ist doch nicht tun, wenn sie nur nicht so viel dabei weinen wollte. - - Du, Jim, ich geb dir auch ' ne Murmel! Oder ' ne Glaskugel! " Jim begann zu schwanken.,, Eine weiße Glaskugel, Jim - - und horch mal, was für ' nen schönen Klang hat sie! ",, Ach, sein das schöne, wunderschöne Glaskugel! Aber Master Tom, ich haben so furchtbar Angst vor alte Dame! " Aber Jim war auch nur ein Mensch - - diese Verführungskünste waren zu stark für ihn. Er setzte seinen Eimer hin und griff nach der Kugel. Im nächsten Augenblick sauste er die Straße hinunter mit seinem Eimer und einem Schreckensschrei, - - Tom arbeitete mit Vehemenz, und Tante Polly, einen Pantoffel in der Hand und Triumph im Auge, kehrte vom Felde zurück. Aber Toms Energie hielt nicht lange an. Er begann, an all die Streiche zu denken, die er für heute geplant hatte, und sein Kummer wurde immer größer. Bald würden seine Spielgefährten, frei und sorglos, vorbeikommen, um auf alle möglichen Expeditionen auszugehen und die würden ihre Witze reißen über ihn, der dastand und arbeiten mußte - - der bloße Gedanke daran brannte wie Feuer. Er kramte seine weltlichen Schätze aus und hielt Heerschau: allerhand selbsterfundenes Spielzeug, Murmel und Plunder - - genug, um sich einen Arbeitstausch zu erkaufen, aber nicht genug, um dadurch auch nur für eine halbe Stunde die Freiheit zu bekommen. So steckte er seine armselige Habe wieder in die Tasche und gab den Gedanken auf, einen Bestechungsversuch bei den Jungen zu machen. Mitten in diese trüben und hoffnungslosen Betrachtungen kam plötzlich ein Einfall über ihn. Durchaus kein großer, glänzender Einfall. Er nahm seinen Pinsel wieder auf und setzte ruhig die Arbeit fort. Ben Rogers erschien in Sicht, der Junge aller Jungen, der sich über alle lustig machen durfte. Bens Gang war springend, tanzend, hüpfend - - Beweis genug, daß sein Herz leicht und seine Gedanken und Pläne großartig waren. Er knupperte an einem Apfel und ließ ein langes, melodiöses ho! ho! hören, gefolgt von einem gegrunzten: ding, dong, ding! ding, dong, dong! - - denn er war in diesem Augenblick ein Dampfboot. Als er näher kam, mäßigte er seine GeschwindigKeit, nahm die Mitte der Straße, bog nach Steuerbord über und legte elegant und mit vielem Geschrei und Umstand bei, denn er vertrat hier die Stelle des,, Big Missouri " und hatte neun Fuß Tiefgang. Er war Dampfboot, Kapitän, Bemannung zugleich und sah sich selbst auf der Kommandobrücke stehend, Befehle gebend und ihre Ausführung überwachend.,, Stopp!! Ling - - a, ling, ling!! " Die Hauptroute war zu Ende, und er wandte sich langsam einem Nebenarme des Flusses zu.,, Stopp! Zurück!! Ling - - a, ling, ling! " Seine Arme sanken ermüdet herunter.,, Steuerbord wenden! Ling - - a, ling, ling! Tschschschuh! Tschuh! Tschuuuhhh!!! " Sein Arm beschrieb jetzt große Kreise, denn er stellte ein Rad von 40 Fuß Durchmesser dar.,, Backbord zurück! Ling - - a, ling, ling! Tschschuh! Tschuh! Tschuuuhhh!! " Wieder beschrieb der Arm - - diesmal der linke - - gewaltige Kreise.,, Steuerbord stopp!! Ling - - a, ling, ling! Backbord stopp! Halt! Langsam überholen! Ling - - a, ling, ling! Tschschuh! Tschuh! Tschuuuhhh!! Heraus mit dem Tau dort! Lustig, hoho! Heraus damit! He - - wird's bald?! Ein Tau dort um den Pfeiler - - so, nun los, Jungens - - los!! Maschine stopp!! Ling - - a, ling, ling!! ",, Tschschuh! Schscht! Schscht!! " (Läßt den Dampf ausströmen.) Tom war ganz vertieft in seine Anstreicherei, er merkte nichts von der Ankunft des Dampfbootes! Ben blieb einen Moment stehen, dann sagte er:,, Ho, ho, Strafarbeit, Tom, he? " Keine Antwort. Tom überschaute seine Arbeit mit dem Auge eines Künstlers. Dann machte er mit dem Pinsel noch einen eleganten Strich und übte wieder Kritik. Ben rannte zu ihm hin, Tom wässerte der Mund nach dem Apfel, aber er stellte sich ganz vertieft in seine Arbeit. Ben sagte:,, Hallo, alter Bursche, Strafarbeit, was? ",, Ach, bist du's, Ben. Ich hatte dich nicht bemerkt. ",, Weißt, ich geh ' grad zum Schwimmen. Würdest du gern mitgehen können? Aber, natürlich, bleibst du lieber bei deiner Arbeit, nicht? " Tom schaute den Burschen erstaunt an und sagte:,, Was nennst du Arbeit? ",, Na, ist das denn keine Arbeit? " Tom betrachtete seine Malerei und sagte nachlässig:,, Na, vielleicht ist das Arbeit, oder es ist keine Arbeit, jedenfalls macht es Tom Sawyer Spaß. ",, Na, na, du willst doch nicht wirklich sagen, daß dir das da Spaß macht!? " Der Pinsel strich und strich.,, Spaß? Warum soll's denn kein Spaß sein? Kannst du vielleicht jeden Tag einen Zaun anstreichen? " Ben erschien die Sache plötzlich in anderem Lichte. Er hörte auf, an seinem Apfel zu knuppern. Tom fuhr mit seinem Pinsel bedächtig hin und her, hin und her, hielt an, um sich von der Wirkung zu überzeugen, half hier und da ein bißchen nach, prüfte wieder, während Ben immer aufmerksamer wurde, immer interessierter. Plötzlich sagte er:,, Du, Tom, laß mich ein bißchen streichen! " Tom überlegte, war nahe daran, einzuwilligen, aber er besann sich:,, Ne, ne. Ich würde es herzlich gern tun, Ben. Aber - - Tante Polly gibt so viel gerade auf diesen Zaun, gerade an der Straße - - weißt du. Aber wenn es der schwarze Zaun wäre, wär's mir recht und ihr wär's auch recht. Ja, sie gibt schrecklich viel auf diesen Zaun, deshalb muß ich das da sehr sorgfältig machen! Ich glaube von tausend, was - - zweitausend Jungen ist vielleicht nicht einer, der's ihr recht machen kann, wie sie's haben will. ",, Na - - wirklich? - - Du - - gib her, nur mal versuchen, nur ein klein - - bißchen versuchen. Ich würde dich lassen, wenn's meine Arbeit wäre, Tom. ",, Ben, ich würd's wahr - - haf - - tig gern tun; aber Tante Polly - - weißt du, Jim wollt's auch schon tun, aber sie ließ ihn nicht. Sid wollte es tun, aber sie ließ es ihn auch nicht tun! Na, siehst du wohl, daß es nicht geht? Wenn du den Zaun anstrichest und es passierte was, Ben - - ",, O, Unsinn! Ich will's so vorsichtig machen! Nur mal versuchen! Wenn ich dir den Rest von meinem Apfel geb '? ",, Na, dann - - ne, Ben, tu's nicht, ich hab ' solche Angst - -! ",, Ich geb ' dir den ganzen Apfel! " Tom gab mit betrübter Miene den Pinsel ab - - innerlich frohlockend. Und während der Dampfer,, Big Missouri " in der Sonnenhitze arbeitete und schwitzte, saß der Künstler, ausruhend, auf einem Baumstumpf im Schatten des Zaunes, schlug die Beine übereinander, verzehrte seinen Apfel und grübelte, wie er noch mehr Unschuldige zu seinem Ersatz anlocken könne. Opfer genug waren vorhanden. Jeden Augenblick schlenderten Knaben vorbei. Sie kamen, um ihn zu verhöhnen und blieben, um zu streichen. Nach einiger Zeit war Ben müde geworden, Tom hatte als Nächsten Billy Fisher ins Auge gefaßt, der ihm eine tote Ratte und eine Schnur, um die Ratte daran durch die Luft fliegen zu lassen, anbot; und von Johnny Miller bekam er eine gut erhaltene Sackpfeife, und so immer weiter - - stundenlang. Und als der Nachmittag halb vergangen war, war aus dem armen, verlassenen Tom vom Morgen ein buchstäblich in Reichtum schwimmender Tom geworden. Er besaß außer den angeführten Sachen zwölf Murmel, ein Stück eines Brummeisens, ein Stück blau gefärbtes Glas zum Durchschauen, eine Spielkanone, ein Messer, das gewiß nie jemand Schaden getan hatte oder jemals tun konnte, ein bißchen Kreide, einen Glasstöpsel, einen Zinnsoldaten, den Kopf eines Frosches, sechs Feuerschwärmer, ein Kaninchen mit einem Auge, einen messingnen Türgriff, ein Hundehalsband (aber keinen Hund), den Griff eines Messers, vier Orangeschalen und einen kaputten Fensterrahmen. Er hatte einen sorglosen, bequemen, lustigen Tag gehabt, eine Menge Gesellschafter - - und der Zaun hatte eine dreifache Lage Farbe bekommen! Wäre nicht der Zaun jetzt fertig gewesen - - Tom hätte noch alle Jungens des Dorfes bankerott gemacht. Tom dachte bei sich, die Welt wäre schließlich doch wohl nicht so buckelig. Er war, ohne es selbst recht zu wissen, hinter ein wichtiges Gesetz menschlicher Tätigkeit gekommen, das nämlich, daß, um jemand, groß oder klein, nach etwas lüstern zu machen, es nur nötig ist, dieses Etwas schwer erreichbar zu machen. Wäre er ein großer und weiser Philosoph gewesen, gleich dem Verfasser dieses Buches, er würde jetzt begriffen haben, daß, was jemand tun muß, Arbeit, was man freiwillig tut, dagegen Vergnügen heißt. Er würde ferner verstanden haben, daß künstliche Blumen machen oder in der Tretmühle ziehen,,, Arbeit " ist, Kegelschieben aber oder den Mont Blanc besteigen,,, Vergnügen ". Es gibt reiche Engländer, die einen Viererzug zwanzig bis dreißig Meilen in einem Tage laufen lassen, weil dieser Spaß sie einen Haufen Geld kostet; würden sie aber dafür bezahlt werden, so würden sie es als,, Arbeit " ansehen und darauf verzichten. Drittes Kapitel. Tom präsentierte sich Tante Polly, welche in einem gemütlichen, zugleich als Schlaf -, Frühstücks - und Speisezimmer dienenden Raum am offenen Fenster saß und fleißig mit Handarbeit beschäftigt gewesen war. Die balsamische Sommerluft, die vollkommene Ruhe, Blumenduft und Summen der Bienen, alles hatte seine Wirkung geübt - - sie war über ihrer Beschäftigung eingenickt. Sie hatte nur die Katze zur Gesellschaft gehabt, und die schlief in ihrem Korbe. Die Brille hatte sie (Tante Polly) zur Vorsicht auf ihren grauen Kopf weiter hinaufgeschoben. Sie mochte geglaubt haben, Tom sei längst wieder flüchtig geworden und wunderte sich nun, ihn ungeniert neben sich sitzen zu sehen.,, Darf ich jetzt spielen gehen, Tante? " fragte Tom unschuldig.,, Was, schon wieder? Was hast du denn heut getan? ",, Alles fertig, Tante! ",, Tom, lüg ' nicht! Ich glaub's nicht! ",, Ich lüge aber nicht, Tante. Es ist alles fertig. " Tante Polly setzte kein besonderes Vertrauen in seine Beteuerungen. Sie ging hinaus, um selbst zu sehen, und sie wäre zufrieden gewesen, hätte sie zwanzig Prozent von Toms Worten wahr gefunden; als sie sah, daß wirklich der ganze Zaun gestrichen und nicht nur leicht gestrichen, sondern gründlich und mehrfach mit Farbe bedeckt, und noch ein Stück Boden obendrein eine Farbschicht abbekommen hatte, war ihr Erstaunen unaussprechlich. Sie sagte:,, Na, das hätt ' ich nicht für möglich gehalten! Ich sehe, Tom, du kannst arbeiten, wenn du willst. " Und dann dämpfte sie das Kompliment, indem sie hinzufügte:,, Aber es ist mächtig selten, daß du willst - - leider. ' s ist gut, geh ' jetzt und spiel. Schau aber, daß du in einer Woche spätestens wieder hier bist, oder ich hau ' dich - - - - " Sie war so überrascht durch den Glanz seiner Heldentat, daß sie ihn in die Speisekammer zog und einen auserwählten Apfel hervorsuchte und ihn ihm gab - - mit dem salbungsvollen Hinweis darauf, wie getane Arbeit jeden Genuß erhöhe und veredele - - wenn sie fleißig, ehrlich und ohne Kniffe und Betrügerei getan werde. Und während sie mit einer passenden Bibelstelle schloß, hatte er ein Stück Kuchen stibitzt. Dann hüpfte er davon und sah Sid gerade die Außentreppe hinaufklettern, die auf einen Hinterraum im zweiten Boden führte. Erdklumpen waren genug vorhanden, und im nächsten Moment sausten eine ganze Menge durch die Luft. Sie fielen wie ein Hagelwetter um Sid herum nieder. Und bevor Tante Polly ihre überraschten Lebensgeister sammeln konnte und zu Hilfe eilen, hatten sechs oder sieben Geschosse ihr Ziel erreicht, und Tom war über den Zaun und davon. Es war zwar eine Tür in demselben, aber wie man sich denken kann, hatte Tom es viel zu eilig, um da durchzugehen. Er fühlte sich erleichtert, nun er sich mit Sid wegen dessen Verrates auseinandergesetzt und ihm eine tüchtige Lektion gegeben hatte. Tom umging einen Häuserblock und gelangte in eine schlammige Allee, die zu Tante Pollys Kuhstall führte. Tom machte sich schleunigst aus dem Gebiet, wo Gefangenschaft und Strafe drohten und strebte dem öffentlichen Spielplatz des Dorfes zu, wo sich zwei feindliche Truppen von Knaben Rendezvous geben sollten - - nach vorhergegangener Verabredung. Tom war der Anführer der einen, sein Busenfreund Joe Harper kommandierte die andere. Diese beiden großen Generale ließen sich nicht herab, selbst zu kämpfen - - das schickt sich für den großen Haufen - - sondern saßen zusammen auf einem Hügel und leiteten die Operationen durch Befehle an die Unterführer. Toms Armee gewann einen großen Sieg - - nach einer langen, hartnäckigen Schlacht. Dann wurden die Toten beerdigt, die Gefangenen ausgetauscht, die Bestimmungen für das nächste Zusammentreffen getroffen und der Tag dafür festgesetzt, worauf sich die Armeen in Kolonnen formierten und zurückmarschierten - - Tom marschierte allein nach Haus. Als er an dem Hause des Jeff Thatcher vorbeikam, sah er im Garten ein unbekanntes Mädchen, ein liebliches, kleines, blauäugiges Geschöpf mit hellem, in zwei Zöpfen gebundenem Haar, weißem Sommerkleid und gestickten Höschen. Der ruhmreiche Held fiel, ohne einen Schuß getan zu haben. Eine gewisse Amy Lawrence war mit einem Schlage aus seinem Herzen verstoßen und ließ nicht einmal eine Erinnerung darin zurück. Er hatte sie bis zum Wahnsinn zu lieben geglaubt; seine Liebe war ihm als Anbetung erschienen; und nun zeigte es sich, daß es nur eine schwache, unbeständige Neigung gewesen sei. Er hatte durch Monate um sie geseufzt, sie hatte seine Liebe vor kaum einer Woche erst mit ihrer Gegenliebe belohnt; er war vor kurzen sieben Tagen noch der glücklichste und stolzeste Bursche der Welt gewesen, und jetzt, in einem Augenblick war sie gleich irgend einer beliebigen Fremden, der man flüchtig begegnet ist, aus seinem Herzen verschwunden. Er betrachtete diesen neuen Engel mit glänzenden Augen, bis er merkte, daß sie ihn entdeckt habe. Dann stellte er sich, als wisse er gar nichts von ihrer Anwesenheit, und begann dann, nach rechter Jungensmanier, sich zu spreizen, um ihre Bewunderung zu erregen. Diese Torheiten trieb er eine Weile, schielte dann hinüber und sah, daß das kleine Mädchen sich dem Hause zugewandt hatte. Tom kletterte auf den Zaun und balancierte oben herum, machte ein trübseliges Gesicht und hoffte, sie werde sich dadurch zu längerem Verweilen bewegen lassen. Sie blieb auch einen Augenblick stehen, dann ging sie weiter der Tür zu. Tom stieß einen tiefen Seufzer aus, als sie die Türschwelle betrat, aber seine Mienen hellten sich auf, leuchteten vor Vergnügen, denn sie hatte in dem Moment, ehe sie verschwand, ein Stiefmütterchcn über den Zaun geworfen. Tom rannte herzu und blieb dicht vor der Blume stehen, beschattete seine Augen und schaute die Straße hinunter, als hätte er dort etwas von größtem Interesse entdeckt. Dann nahm er einen Strohhalm auf und begann ihn auf der Nase zu balancieren, indem er den Kopf zurückwarf. So sich rechts und links drehend, kam er der Blume immer näher. Schließlich ruhte sein bloßer Fuß darauf, seine Zehen nahmen sie auf, und er hüpfte mit seinem Schatz davon und verschwand um die nächste Ecke. Aber nur für eine Minute - - bis er die Blume unter seiner Jacke versteckt hatte, auf seinem Herzen oder auch auf dem Bauche, denn er war in der Anatomie nicht sehr bewandert und durchaus nicht kritisch. Dann kehrte er zurück, lungerte auf seinem Zaun herum und ließ seine Augen nach ihr herumspazieren, bis die Nacht anbrach; aber die Kleine ließ sich nicht wieder sehen. Tom tröstete sich mit dem Gedanken, daß sie hinter irgend einem Fenster gestanden und von seinen Aufmerksamkeiten Notiz genommen habe. Endlich ging er nach Hause, den Kopf voll angenehmer Vorstellungen. Während des ganzen Abendessens war er so geistesabwesend, daß sich seine Tante wunderte, was in ihn gefahren sein könne. Er bekam wegen seiner Beschießung Sids Schelte und schien sich weiter gar nichts daraus zu machen. Er versuchte, seiner Tante vor der Nase Zucker zu stehlen und bekam was auf die Finger. Er sagte:,, Tante, du schlägst Sid nie, wenn er so was macht! ",, Na, Sid treibt's auch nicht so arg wie du. Du würdest den ganzen Tag im Zucker sein, wenn ich nicht aufpaßte. " Gleich darauf ging sie in die Küche, und Sid, auf seine Unverletzlichkeit pochend, griff nach der Zuckerdose, mit einer Selbstüberhebung gegen Tom, die diesem unerträglich dünkte. Aber Sids Finger glitten aus, und die Zuckerdose fiel auf den Boden und zerbrach. Tom war außer sich vor Vergnügen, so außer sich, daß er sogar seine Zunge im Zaume hielt und verstummte. Er nahm sich vor, kein Wort zu sagen, auch nicht, wenn seine Tante wieder hereinkomme - - solange, bis sie frage, wer dieses Verbrechen begangen habe. Dann wollte er es sagen, und niemand auf der Welt würde so glücklich sein wie er, wenn dieser Musterknabe auch einmal was auf die Pfoten bekam. Er war so voll Erwartung, daß er sich kaum zurückhalten konnte, als die alte Dame dann kam und vor den Scherben stand und Zornesblitze über den Rand ihrer Brille schleuderte. Er sagte zu sich: Jetzt kommt's! Und im nächsten Augenblick zappelte er auf dem Fußboden! Eine drohende Hand schwebte über ihm, um ihn nochmals zu treffen; Tom brüllte:,, Halt, halt, warum prügelst du mich? Sid hat sie zerbrochen! " Tante Polly hielt erschrocken inne, und Tom sah sofort, daß sich das Mitleid bei ihr zu regen begann. Aber sie sagte nur:,, Auf! Ich denke, bei dir schadet kein Schlag. Du hast manches auf dem Kerbholz, wofür du keine Prügel bekommen hast. " Dann aber empfand sie doch Reue und hätte gerne etwas Liebevolles, Versöhnendes gesagt. Aber sie dachte, das könne als Zugeständnis ihres Unrechts gelten, und dadurch würde die Disziplin leiden. So schwieg sie und ging betrübten Herzens ihren Geschäften nach. Tom verkroch sich in einen Winkel und wühlte in seinen Leiden. Er wußte, daß seine Tante innerlich vor ihm auf den Knien lag, und er fühlte wilde Genugtuung bei diesem Gedanken. Er würde sich nichts merken lassen und,, nicht dergleichen tun. " Er wußte, daß liebevolle Blicke auf ihm ruhten, aber er spielte den Gleichgültigen. Er stellte sich vor, wie er krank oder tot daliege und seine Tante händeringend über ihm, um ein verzeihendes Wort bettelnd; aber er würde sich abwenden und sterben, ohne das Wort zu sagen. Was würde sie dann wohl empfinden? Dann wieder sah er sich, vom Fluß nach Hause getragen, tot, mit triefenden Haaren, steifen Gliedern und für immer erstarrtem Herzen. O, wie würde sie sich über ihn werfen, wie würden ihre Tränen fließen und wie würde sie zu Gott flehen, ihn ihr wiederzugeben, und sie würde ihn nie, nie wieder mißhandeln! Aber er würde kalt und blaß daliegen und sich nicht regen, ein kleiner Märtyrer, dessen Leiden für immer zu Ende sind. So schraubte er seine Gefühle durch eingebildetes Elend künstlich in die Höhe, daß er fast daran erstickt wäre - - er war so leicht gerührt! Seine Augen schwammen in einem trüben Nebel, welcher zu Tränen wurde, sobald er blinzelte, und herabrann und von der Spitze seiner Nase troff. Und solche Wollust bereitete ihm sein Kummer, daß er sich nicht um die Welt von irgend jemand hätte trösten oder aufheitern lassen; er war viel zu zart für eine solche Berührung mit der Außenwelt. Und als seine Cousine Mary nach einem eine ganze Woche langen Besuch auf dem Lande lustig und guter Dinge hereinhüpfte, sprang er auf und schlich in Einsamkeit und Kälte zu einer Tür hinaus, während sie Gesang und Sonnenschein zur anderen hereinbrachte. Er vermied die Orte, an denen sich seine Freunde herumzutreiben pflegten und suchte vielmehr trostlos - verlassene Gegenden, die mit seiner Stimmung mehr im Einklang wären. Ein Holzfloß auf dem Flusse lud ihn ein; er setzte sich ans äußerste Ende und versenkte sich in die traurige Eintönigkeit um ihn her und wünschte nichts anderes, als tot und ertrunken zu sein - - aber ohne vorher einen häßlichen Todeskampf durchmachen zu müssen. Danach zog er seine Blume hervor. Sie war zerknittert und verwelkt und erhöhte noch das süße Gefühl der Selbstbemitleidung. Ob sie Mitleid mit ihm haben würde, wenn sie wüßte? Würde sie weinen und sich danach sehnen, die Arme um ihn zu schlingen und ihn wieder zu erwärmen? Oder würde sie sich gleich der übrigen Welt kalt abwenden? Dieses Bild schien ihm so rührend, daß er es sich immer und immer wieder ausmalte und ausschmückte, bis er es greifbar vor sich sah. Schließlich stand er seufzend auf und schlich in die Finsternis hinaus. Um halb zehn oder zehn Uhr gelangte er in die Straße, in welcher die angebetete Unbekannte wohnte. Er blieb einen Augenblick stehen; kein Ton traf sein lauschendes Ohr; aus einem Fenster des zweiten Stockes fiel ein schwacher Lichtschimmer. War dieser Raum durch ihre Anwesenheit geheiligt? Er erkletterte den Zaun und bahnte sich seinen eigenen Weg durch das Buschwerk, bis er unter dem Fenster stand. Lange und aufmerksam spähte er hinauf. Dann legte er sich auf die Erde nieder, die Hände über der Brust gefaltet und in den Händen seine arme, verwelkte Blume. Und so wollte er sterben - - draußen, in der kalten Welt, kein Dach über sich, ohne eine freundliche Hand, die ihm den Todesschweiß von der Stirn wischen würde, ohne ein mitleidiges Gesicht, das sich, wenn der Todeskampf kam, über ihn beugen würde - - und würde sie wohl eine Träne weinen über seinen armen toten Leib, würde es ihr weh tun, ein blühendes, junges Leben so grausam geknickt, so nutzlos vernichtet zu sehen? Das Fenster ging auf; eines Dienstmädchens mißtönende Stimme entweihte die stille Ruhe und ein Strom Wasser überschüttete die Überreste des Märtyrers. Halb erstickt sprang unser Held auf, prustend und sich schüttelnd. Ein Wurfgeschoß durchsauste die Luft, ein unterdrückter Fluch, das Klirren einer zerbrochenen Fensterscheibe - - und eine kleine unbestimmte Gestalt kroch über den Zaun und verschwand in der Dunkelheit. Nicht lange danach, als Tom bereits zum Schlafengehen entkleidet, seine durchnäßten Sachen beim Scheine eines Talglichtes besichtigte, erwachte Sid. Er wollte seine Glossen dazu machen, hielt es aber doch für besser, zu schweigen, denn aus Toms Augen schossen Blitze. Tom kroch ins Bett, ohne sich lange mit Beten aufzuhalten, und Sid merkte sich das gehörig, um gelegentlich Gebrauch davon zu machen. Viertes Kapitel. Die Sonne ging über einer ruhigen Welt auf und schien über das Dorf wie ein Segensspruch. Nach dem Frühstück hielt Tante Polly Hausandacht. Sie begann mit einem aus den kräftigsten Bibelstellen bestehenden, mit ein bißchen eigenen Gedanken verbrämten Gebet. Und von dieser Höhe aus gab sie ein grimmiges Kapitel des mosaischen Gesetzes zum besten - - wie vom Sinai herab. Danach gürtete Tom, um diesen Ausdruck zu gebrauchen, seine Lenden und machte sich ans Werk, sich seine Bibelverse einzutrichtern. Sid hatte die natürlich schon am Tage vorher gelernt. Tom brachte es mit Aufbietung aller Energie auf fünf Verse - - die er aus der Bergpredigt gewählt hatte, da er keine kürzeren finden konnte. Nach einer halben Stunde hatte Tom eine unbestimmte, allgemeine Idee von seiner Lektion. Weiter kam er nicht, denn seine Gedanken spazierten durch das ganze Gebiet menschlichen Denkens, und seine Finger hatten allerhand zerstreuende Nebenbeschäftigungen. Schließlich nahm Mary sein Buch, um ihn zu überhören, und er machte krampfhafte Anstrengungen, um seinen Weg durch den Nebel zu finden.,, Selig sind die - - ä - - ä - - ä - - ",, Die da arm sind - - ",, Ja - - arm sind; selig sind, die da arm sind - - ä - - ä - - ä - - ",, Im Geiste - - ",, Im Geiste; selig sind, die da arm sind im Geiste, denn sie - - sie - - ",, Ihrer - - ",, Denn ihrer; selig sind, die da arm sind im Geiste, denn ihrer - - ist das Himmelsreich! ",, Selig sind, die da Leid tragen, denn sie - - sie - - ä - - ä - - ",, So - - - - ",, Denn sie s - - o - - ",, S - - o - - l - - l - -? ",, Denn sie soll - -. Ach was, ich weiß nichts weiter! ",, Sollen - - ",, Ach so: sollen! Denn sie sollen - - denn sie sollen - - ä - - ä - - sollen Leid tragen - -, denn sie sollen - - ä - - sollen - - was? Warum sagst du mir's nicht. Mary! Sei doch nicht so eklig! ",, Ach, Tom, du armer, dickköpfiger Kerl, ich quäl ' dich ja nicht. Das fällt mir gar nicht ein. Du mußt dich halt nochmal dahinter setzen. Nur nicht mutlos. Tom, du wirst es schon zwingen - - und wenn du's kannst, Tom, geb ich dir ganz, ganz was Schönes! Na also, sei ein braver Junge! ",, Meinetwegen. - - Du, Mary, was ist es denn? ",, Jetzt noch nicht, Tom. Wenn ich sage, ' s ist was Schönes, dann ist's was Schönes! ",, Da hast du recht, Mary. Na also, ich werd's noch mal tun! " Und er machte sich nochmal darüber. Und unter dem doppelten Ansporn der Neugier und der Erwartung des Gewinnes machte er sich mit solcher Vehemenz darüber, daß er einen schönen Erfolg hatte. Mary gab ihm ein nagelneues Taschenmesser, zwölf und einen halben Pence mindestens im Wert; ein Schauer des Entzückens fuhr ihm durch die Glieder. Es ist wahr, zum Schneiden war das Messer nicht gerade zu brauchen, aber es war ein echtes,, Barlow " und von unaussprechlicher Pracht; und wenn unter den Burschen des,, Wild - West " die Behauptung aufgestellt worden ist, dieses Messer trage seine Bezeichnung als,, Waffe " durchaus zu Unrecht, so ist das eine kolossale Lüge; so ist's, mögen sie sagen, was sie wollen. Tom versuchte die Tischkante damit anzuschneiden, und war eben in voller Tätigkeit, als man ihn abrief, um zur Sonntagsschule Staat zu machen. Mary gab ihm einen Zinneimer und Seife, und er ging zur Tür hinaus und setzte den Eimer auf eine kleine Bank; dann tauchte er die Seife ins Wasser und legte sie daneben; krempelte sich die Ärmel auf, ließ das Wasser auslaufen, ging in die Küche zurück und begann hinter der Tür sich das Gesicht mit dem Tuch eifrig abzutrocknen. Aber Mary entriß ihm das Tuch und sagte:,, Schämst du dich nicht, Tom? Du sollst nicht immer so schlecht sein. Ein bißchen Wasser schadet dir wahrhaftig nicht. " Tom war einen Augenblick in Verwirrung. Der Eimer wurde wieder gefüllt, und diesmal blieb er eine Weile darüber gebeugt stehen, Mut sammelnd. Ein tiefer Seufzer - - und los! Als er dann wieder in die Küche zurückkam, beide Augen geschlossen, und nach dem Tuch griff, tropften Schmutz und Wasser von seinem Gesicht herunter - - ein ehrenvolles Zeichen seines Mutes. Aber als er hinter dem Tuche wieder auftauchte, sah er durchaus noch nicht einwandfrei aus; das reine Gebiet hörte an Mund und Ohren auf. Jenseits dieser Linie breitete sich eine undurchdringlich schwarze Fläche bis in den Nacken aus. Mary nahm ihn jetzt in die Mache und als sie mit ihm fertig war, sah er wie ein tadelloser Gentleman aus, fleckenlos und mit hübschen Sonntagslocken in gleichmäßiger Verteilung. (Er selbst haßte diese Locken von Herzen und versuchte, sie auf den Kopf niederzubürsten; denn er hielt Locken für weibisch, und sie erfüllten sein Leben mit Bitterkeit.) Dann kam Mary mit einem Anzuge, den er während zweier Jahre nur an Sonntagen getragen hatte und der allgemein nur als die,, anderen Kleider " bezeichnet wurde - - woraus man auf den Stand seiner Garderobe schließen kann. Das Mädchen schubste ihn noch ein bißchen zurecht, nachdem er sich selbständig angezogen hatte. Sie verlieh ihm einen gewissen (ganz ungewohnten) Schein von Zierlichkeit, zog den Hemdkragen herunter, bürstete ihn ab und krönte ihn mit seinem farbigen Strohhut. So sah er außerordentlich sanftmütig und behaglich aus. Und er fühlte sich auch so. Sein Widerwillen gegen ganze und saubere Kleider war unverwüstlich. Er hoffte, Mary werde wenigstens die Stiefel vergessen, aber diese Hoffnung wurde zunichte. Sie bestrich sie, wie es sich gehört, mit Talg und brachte sie ihm. Jetzt verlor er die Geduld und sagte, er solle immer tun, was er nicht möchte. Aber Mary sagte überredend:,, Na, komm, Tom, sei ein braver Bursche! " So fuhr er brummend in seine Stiefel. Mary war bald fertig, und die drei Kinder gingen zur Sonntagsschule, ein Ort, der Tom gründlich verhaßt war. Aber Sid und Mary gingen sehr gern hin. Die Zeit der Sonntagsschule war von neun bis halb zehn Uhr; dann kam der Gottesdienst. Zwei der Kinder blieben stets mit Vergnügen zur Predigt da, das dritte blieb auch - - ja, aber aus anderen Gründen. Die hochlehnigen, schmucken Kirchenstühle konnten über dreihundert Personen fassen; das Gebäude selbst war klein, vollgestopft - - mit einer Art fichtenem Kasten als Turm darauf. An der Tür blieb Tom ein bißchen zurück und hielt einen sonntäglich gekleideten Kameraden an:,, Sag, Bill, hast du ein gelbes Billett? ",, M - - ja! ",, Was willst du dafür haben? ",, Was willst du geben? ",, Ein Stück Zuckerstange und einen Angelhaken. ",, Zeig her. " Tom zeigte seine Tauschobjekte. Sie waren befriedigend, und das Geschäft wurde gemacht. Dann erhandelte Tom einige blaue und rote Zettel gegen ähnliche Kleinigkeiten. Er stellte die anderen Jungen, wie sie ihm in den Weg kamen, und verkaufte, indem er Zettel der verschiedenen Farben dagegen kaufte. Dann ging er in die Kirche, inmitten eines Schwarmes geputzter, lärmender Knaben und Mädchen, schlängelte sich auf seinen Platz und fing mit dem ersten besten Streit an. Der Lehrer, ein würdiger, bejahrter Mann, trat dazwischen. Dann wandte er sich einen Augenblick um, und Tom riß einen Knaben in der vorderen Bank an den Haaren und war vertieft in sein Buch, als der Knabe herumfuhr. Darauf stach er einen anderen mit einer Nadel, dieser schrie auf, und Tom erhielt abermals einen Verweis. Toms ganze Klasse war eine Musterklasse - - nach seinem Muster - - unruhig, vorlaut und lärmend. Als es ans Aufsagen der Lektion ging, wußte nicht ein einziger seine Verse gründlich, alles stümperte und war unsicher. Indessen - - sie kamen durch, und jeder erhielt seine Bestätigung in Form eines blauen Zettels, jeder mit einem Bibelspruch darauf; jeder solcher Zettel galt für zwei aufgesagte Verse. Zehn blaue Zettel waren gleich einem roten und konnten gegen einen solchen umgetauscht werden; zehn rote machten einen gelben aus, und für diesen gab der Superintendent eine sehr einfach gebundene Bibel (heutzutage gewiß vierzig Cents wert). Wie viele meiner Leser würden Fleiß und Aufmerksamkeit genug haben, um zweitausend Verse auswendig zu lernen, und handelte es sich um eine Doréesche Bibel? Und doch hatte Mary auf diese Weise zwei Bibeln erworben; es war das Werk zweier Jahre; ein Knabe deutscher Abkunft hatte es gar auf vier oder fünf gebracht. Einmal hatte er dreitausend Verse hergesagt, ohne zu stocken. Aber die geistige Anstrengung war zu groß gewesen, und er war von dem Tage an nicht viel besser als ein Idiot - - ein böses Mißgeschick für die Schule, denn vor diesem Ereignis hatte der Superintendent bei besonderen Gelegenheiten den Knaben vortreten und,, sich blähen " lassen (wie Tom das nannte). Nur die gesetzteren Schüler gaben sich die Mühe, ihre Zettel aufzubewahren, und ihr langweiliges Werk solange fortzusetzen, bis sie Anspruch auf eine Bibel hatten. So war die Erlangung eines solchen Preises ein seltenes und bemerkenswertes Ereignis; der Sieger war an seinem Ehrentage eine so große, hervorragende Person, daß heiliger Ehrgeiz die Brust eines jeden Schülers erfüllte und oft mehrere Wochen anhielt. Es ist möglich, daß Toms Streben niemals auf einen solchen Preis gerichtet war, zweifellos aber sehnte sich sein ganzes Sein nach dem Ruhm und Aufsehen, die ein solches Ereignis mit sich brachten. Der Geistliche stand jetzt vor der Versammlung, einen geschlossenen Psalter in der Hand und den vierten Finger zwischen die Blätter geschoben. Er befahl Ruhe. Wenn nämlich ein Sonntagsschullehrer seine gewohnte kleine Rede vom Stapel lassen will, ist ein Psalterbuch in seiner Hand so notwendig, wie die Notenblätter in der Hand eines Sängers, der im Konzert vom Podium aus ein Solo vortragen soll - - wer weiß, warum? Denn niemals werden Psalterbuch oder Notenblätter beim Vortrag geöffnet. Der Superintendent war ein schmächtiger Mann von fünfunddreißig Jahren, mit sandgelbem Ziegenbart und kurzgeschorenem sandgelbem Haar. Er trug einen steifen Stehkragen, dessen oberer Rand seine Ohren streifte und dessen scharfe Ecken bis zu den Mundwinkeln vorsprangen - - eine Planke, die ihn zwang, den Kopf stets vorzustrecken und den ganzen Körper zu drehen, wenn er zur Seite blicken wollte. Sein Kinn war in eine riesige Krawatte gezwängt, die so breit und lang war, wie eine Banknote und spitze Enden hatte. Mr. Walter war äußerst ernsthaft von Aussehen und sehr gutmütig und ehrenhaft von Charakter. Und er hielt geistige Dinge und Angelegenheiten so sehr in Ehren und wußte sie so streng von allem Weltlichen zu trennen, daß seine Sonntagsschulstimme ihm selbst unbewußt einen gewissen Klang angenommen hatte, von dem sie an Wochentagen vollkommen frei war. Er begann also:,, Nun, Kinder, sitzt einmal so ruhig und gesittet, als es euch nur immer möglich ist, und paßt einmal ein paar Minuten tüchtig auf, denn darauf kommt es vor allem an! Das sollten alle braven Knaben und Mädchen stets tun! Ich sehe ein kleines Mädchen, das zum Fenster hinausschaut - - ich fürchte, sie bildet sich ein, ich wäre irgendwo draußen, vielleicht in einem Baum und hielte den Vögeln meine Rede?! (Unterdrücktes Kichern.) Ich möchte euch sagen, daß es mich glücklich macht, so viele frische, helle Kindergesichter an diesem Ort versammelt zu sehen, um zu lernen, recht tun und gut sein. " In diesem Stil ging's immer weiter. Es ist nicht nötig, den Rest der Rede hierherzusetzen. Sie war ganz nach bekanntem Muster - - wir alle haben sie mal gehört. Das letzte Drittel der Rede wurde durch die Wiederaufnahme des Kampfes zwischen gewissen bösen Buben gestört und durch Unruhe und Geschwätz hier und dort, deren Wellen sogar an den Grundlagen solcher Felsen der Folgsamkeit und Bravheit, wie Sid und Mary, nagten. Aber mit dem Schwächerwerden von Mr. Walters Stimme wurde auch das allgemeine Summen schwächer, und der Schluß der Rede wurde mit stiller Heiterkeit begrüßt. Zum guten Teil war die Unaufmerksamkeit hervorgerufen worden durch ein ziemlich seltenes Vorkommnis: das Erscheinen von Besuchern: Richter Thatcher, begleitet von einem sehr schwachen, alten Mann, einem vornehmen, mittelalterlichen Gentleman mit eisengrauem Haar, und einer würdevollen Dame, zweifellos der Frau des letzteren. Die Dame führte ein Kind an der Hand. Tom war bis dahin unruhig und schuldbewußt gewesen - - er konnte den Blick aus Amy Lawrences Augen nicht ertragen - - es sprach zu viel Liebe aus diesem Blick! Aber als er diesen kleinen Ankömmling sah, war seine Beklommenheit auf einmal vorbei. Im nächsten Augenblick ließ er wieder seine Künste spielen - - er knuffte andere Knaben, riß sie an den Haaren, schnitt Fratzen, mit einem Wort, tat alles, was nur irgend eines Mädchens Aufmerksamkeit erregen und ihren Beifall gewinnen kann. Aber seine Exaltation wurde rasch gedämpft, er erinnerte sich seiner Erlebnisse im Garten dieses Engels; aber diese Erinnerung wurde rasch durch das Glücksgefühl, von dem sein Herz plötzlich erfüllt war, fortgeschwemmt. Den Besuchern wurden die höchsten Ehrenbezeugungen erwiesen, und nach Beendigung von Mr. Walters Anrede führte er sie in der Schule herum. Der mittelalterliche Mann schien ein bedeutender Mann zu sein. Er war der oberste Richter des Kreises - - gewiß die erhabenste Persönlichkeit, die diese Kinder bis jetzt gesehen hatten; und sie grübelten darüber, aus welchem Stoff der wohl gemacht sein könne; und dann waren sie begierig auf seine Stimme und dann zitterten sie wieder davor, sie zu hören. Er war aus Konstantinopel - - zwölf Meilen entfernt, - - er war also durch die ganze Welt gekommen und hatte alles gesehen; diese Augen hatten das Staatshaus gesehen, von dem man sagte, es habe ein wirkliches Zinndach! Die scheue Ehrfurcht, welche diese Vorstellungen hervorriefen, war aus dem absoluten Schweigen und den starr auf ihn gerichteten Augen deutlich zu lesen. Das also war der große Richter Thatcher, der Bruder ihres Bürgermeisters. Von Jeff Thatcher hieß es sogleich, er sei mit dem großen Mann verwandt, und den beherbergte die Schule! Es würde Musik für Jeffs Ohren gewesen sein, hätte er gehört, was man von ihm flüsterte.,, Sieh nur, Jim, er ist wahrhaftig vorgegangen! Donnerwetter, er will ihm die Hand geben. Er hat ihm die Hand gegeben. Bei Jingo, möchtet wohl auch Jeff sein, he? " Mr. Walter suchte sich jetzt in Geltung zu bringen durch möglichste Geschäftigkeit, erteilte Befehle, fällte Urteile, gab Winke hier und dort und überall, und zeigte, daß er am rechten Platz sei. Darauf,, zeigte " sich der Bücherverwalter, rannte mit Stößen von Büchern herum, klapperte mit den Bücherbrettern und vollführte einen Spektakel, daß es für jeden Vorgesetzten eine wahre Lust sein mußte. Die jungen Lehrerinnen,, zeigten " sich auch, taten schön mit Kindern, die sie eben geprügelt hatten, hoben warnend ihre niedlichen Finger gegen böse Buben und streichelten brave, kleine Mädchen. Die jungen Lehrer,, zeigten " sich mit kleinen Ermahnungen und anderen Beweisen ihrer Autorität und ihrer Sorgfalt. Und alle Lehrenden beiderlei Geschlechts machten sich mit Vorliebe am Klassenpult zu tun, und es schienen Geschäfte zu sein, die fortwährend wiederholt werden mußten (und wie sie dabei ärgerlich waren!). Die kleinen Mädchen,, zeigten " sich auf verschiedene Weise, und die Knaben,, zeigten " sich mit solchem Nachdruck, daß die Luft mit Papierkugeln und halb unterdrücktem Gezänk angefüllt war. Und bei alledem saß der große Mann da, hatte ein erhabenes Richterlächeln für die ganze Schule und wärmte sich im Glanze seiner eigenen Größe, denn er,, zeigte " sich erst recht. Aber eins fehlte, was Mr. Walters Glück vollgemacht hätte, das war die Gelegenheit, einen Bibelpreis auszuteilen und eins seiner Wunderkinder zu zeigen. Mehrere Schüler hatten eine Menge kleinerer Zettel, aber niemand hatte genug. Er hätte die Welt darum gegeben, seinen kleinen Deutschen für eine einzige Stunde wiederzuhaben. Da - - trat Tom Sawyer vor, neun gelbe Zettel, neun rote und zehn blaue, und verlangte eine Bibel! Das wirkte wie ein Blitz aus heiterm Himmel! So etwas hätte Walter nicht erwartet - - in den nächsten zehn Jahren sicher nicht. Aber es war nichts auszusetzen - - da lagen die nötigen Zettel beisammen und nahmen sich hübsch genug aus. Tom erhielt also seinen Platz beim Richter und den anderen Auserwählten, und die unerhörte Neuigkeit wurde nach allen Himmelsgegenden ausposaunt. Es war zweifellos die staunenswerteste Tatsache des Jahrzehnts; und so tief war die Erregung, daß sie den neuen Helden auf die Höhe des Kreisrichters hob und die Schule zwei Weltwunder aus einmal zu bestaunen hatte. Die Jungen waren durch die Bank von Neid erfüllt. Aber die am tiefsten Beleidigten waren diejenigen, welche zu spät einsahen, daß sie selbst zu diesem unerhörten Glanz beigetragen hatten, indem sie Tom Billetts verkauften für die Schätze, welche er durch Übertragung der Anstreich - Gerechtsame erworben hatte. Sie verachteten sich selbst, da sie sich durch einen listigen Betrüger hatten anführen lassen. Der Preis wurde Tom überreicht, mit so viel Salbung, als der Superintendent unter solchen Umständen auftreiben konnte. Aber es war doch nicht der rechte Schwung darin, denn sein Instinkt sagte ihm, hierbei müsse ein Geheimnis walten, das wohl nicht ganz gut das Licht der Sonne vertragen würde. Es war ganz einfach unglaublich, daß dieser Knabe zweitausend Bibelverse in seinem Kopfe aufgespeichert haben sollte - - ein Dutzend schon hätte zweifellos seine Kräfte überstiegen. Amy Lawrence war ganz rot vor Stolz und versuchte, es Tom zu zeigen, aber er wollte nicht sehen. Sie wunderte sich; dann grämte sie sich ein bißchen; schließlich stieg ein leiser Verdacht in ihr auf und verflog und kam wieder. Sie paßte auf. Ein heimlicher Blick verriet ihr Welten, und dann brach ihr Herz, und sie wurde eifersüchtig und wütend, und die Tränen kamen, und sie haßte alle, alle, Tom natürlich am meisten. Tom wurde vor den Richter geführt. Aber seine Zunge klebte am Gaumen, der Schweiß trat ihm auf die Stirn, sein Herz klopfte - - teils infolge der Größe des Mannes, aber mehr noch, weil er ihr Vater war. Er hätte, wäre es dunkel gewesen, vor ihm niederfallen und ihn anbeten mögen. Der Richter legte die Hand auf Toms Kopf und nannte ihn einen tüchtigen, kleinen Mann und fragte ihn nach seinem Namen. Der Junge stammelte, hustete und stieß endlich mühsam heraus:,, Tom! ",, O nein - - nicht Tom, sondern - - ",, Thomas. ",, Richtig. Ich dachte mir doch, daß noch etwas fehlte. Gut. Aber ich glaube, du hast noch einen Namen, und du wirst ihn mir nennen, nicht? ",, Nenne dem Herrn deinen anderen Namen, Thomas, und sage: Herr! Nicht vergessen, was sich schickt! ",, Thomas Sawyer - - Herr! ",, So - - so ist's recht! Ein guter Junge. Ein braver Junge. Ein braver, kleiner Junge. Zweitausend Verse sind viel - - sehr, sehr viel! Und Sie brauchen die Mühe, die es Ihnen bereitet hat, es ihm beizubringen, sicher nicht zu bereuen; denn Kenntnisse sind gewiß mehr wert, als irgend etwas anderes in der Welt. Sie machen große Männer und große Menschen. - - Du wirst eines Tages ein großer Mann sein und ein großer Mensch, Thomas, und dann wirst du zurückblicken und sagen: Das alles verdanke ich der herrlichen Sonntagsschule meines Heimatsdorfes; alles meinen lieben Lehrern, die mich angehalten haben, zu lernen; alles dem guten Superintendenten, der mich anfeuerte und über mir wachte und mir eine wundervolle Bibel schenkte, eine herrliche, prächtige Bibel, damit ich sie immer, immer bei mir haben möge; alles meiner Erziehung! Das wirst du sagen, Thomas! Und du würdest dir mit keinem Geld deinen Schatz von zweitausend Versen bezahlen lassen - - nein, wahrhaftig nicht! - - Und jetzt kannst du mir und dieser Dame eine große Freude machen und uns einige deiner Verse aufsagen - - du wirst es gern tun, denn wir freuen uns ja so sehr über einen fleißigen Knaben. Ohne Zweifel kennst du die Namen aller zwölf Jünger. Willst du uns also die Namen der beiden zuerst erwählten Jünger nennen? " Tom zupfte an einem Knopf und sah möglichst einfältig aus. Er wurde rot und senkte die Augen. Mr. Walters Herz sank mit. Er sagte sich, es sei gar nicht möglich, von diesem Jungen Antwort auf die einfachste Frage zu bekommen - - und den gerade mußte der Richter fragen! Doch fühlte er sich veranlaßt, zu Hilfe zu kommen und sagte:,, Antworte dem Herrn, Thomas, - - fürchte dich nicht! " Tom wurde immer röter.,, Nun, ich weiß, mir wirst du es sagen, " mischte sich hier die Dame ein.,, Die Namen der zwei ersten Jünger waren - - ",, David und Goliath! " Decken wir den Schleier der Nächstenliebe über das, was nun folgte! Fünftes Kapitel. Ungefähr um halb zehn Uhr begann die kleine Glocke der Kirche zu läuten, und sogleich begann das Volk zur Morgenpredigt herbeizuströmen. Die Sonntagsschulkinder zerstreuten sich durchs ganze Haus und nahmen Plätze bei ihren Eltern ein, um unter Aufsicht zu sein. Tante Polly kam, und Tom, Sid und Mary saßen bei ihr. Tom wurde zunächst der Kanzel plaziert, um so weit wie möglich vom offenen Fenster und dem Sommer draußen entfernt zu sein. Das Volk füllte die Kirche. Der alte, gichtbrüchige Postmeister, der bessere Tage gesehen hatte, der Mayor und seine Frau - - denn es gab einen Mayor, neben vielen anderen unnützen Dingen, - - der Ortsrichter, die Witwe Douglas, zart, klein und lebhaft, eine edle, gutherzige Seele und immer obenauf (ihr Haus war das einzige steinerne im Dorf, und das gastfreieste und bei Festlichkeiten verschwenderischste, das St. Petersburg aufweisen konnte); Lawyer Riverson; dann die Schönheit des Dorfes, gefolgt von einem Haufen elegant gekleideter, mit allerhand Firlefanz behangener junger Herzensbrecher; dann all die jungen Ladendiener des Dorfes, alle gleichzeitig, denn sie hatten im Vestibül gestanden, Süßholz raspelnd - - eine öltriefende, einfältige Schutztruppe - - bis das letzte Mädchen Spießruten gelaufen war. Und zuletzt von allen kam der Musterknabe, Willie Mufferson, seine Mutter so sorgsam an der Hand führend, als wäre sie aus Glas. Er brachte seine Mutter stets zur Kirche und war der Liebling aller alten Damen. Das junge Volk haßte ihn - - er war zu gut; und dann war er ihnen gar zu oft als Muster vorgehalten worden. Sein weißes Taschentuch hing ihm aus der Tasche - - so war es damals am Sonntag Mode. Tom hatte kein Taschentuch und verachtete jeden Jungen, der eins hatte. Da die Versammlung jetzt so ziemlich vollzählig war, läutete die Glocke nochmals, zur Mahnung für Nachzügler und Müßige, und dann senkte sich eine große Stille auf die Kirche, nur unterbrochen durch das Kichern und Wispern auf dem Chor. Der Chor kicherte und wisperte immer und überall während des ganzen Gottesdienstes. Es hat einmal einen Kirchenchor gegeben, der nicht schlecht erzogen war, aber ich weiß nicht mehr wo. Es ist schon eine ganze Reihe von Jahren her, und ich kann mich wahrhaftig nicht mehr an die Einzelheiten erinnern - - aber ich glaube, es war in einem fremden Lande. Der Geistliche gab das Lied an und las es nach einer ganz besonderen, in dieser Gegend sehr beliebten Manier in singendem Ton herunter. Seine Stimme begann mit schwachem Flüstern, wuchs beständig an, bis sie einen Punkt erreichte, wo sie unter Herausstoßung des letzten Wortes plötzlich abbrach und wie ein Springbrunnen herunterplumpste. Er galt als wundervoller Vorleser. Bei allen kirchlichen Versammlungen wurde er aufgefordert, Verse vorzutragen, und wenn er damit fertig war, hoben die Ladies ihre Hände und ließen sie wieder in den Schoß fallen und verdrehten die Augen und schüttelten die Köpfe, als wollten sie sagen: Worte können hier nichts sagen, es ist zu wundervoll, zu wundervoll für diese Erde! Nach dem Liede begann der Reverend Mr. Sprague eine Art Tagesbericht, indem er sich über Nachrichten von Meetings und Versammlungen und tausenderlei Dinge verbreitete, bis alle Weltlust aus dem heiligen Hause gewichen zu sein schien - - eine seltsame Mode, die überall in Amerika zu finden ist, sogar in den großen Städten und bis in unser Zeitalter des Zeitungs - Überflusses hinein. Und jetzt kam die Predigt. Es war eine gute, leutselige Predigt und ging bis ins einzelne. Sie beschäftigte sich mit der Kirche und mit den Kindern der Kirche; mit den anderen Kirchen des Dorfes; mit dem Dorfe selbst; mit dem Lande; mit dem Staat; mit den Behörden der einzelnen Staaten; mit den Vereinigten Staaten; mit dem Kongreß; mit dem Präsidenten; mit den Staatsdienern; mit den armen, sturmumtosten Seefahrern; mit den unter dem Joch ihrer Monarchen seufzenden Millionen Europas und des Orients; mit den Glücklichen und Reichen, die nicht Augen haben, zu sehen und Ohren, zu hören; mit den armen Seelen auf fernen Inseln; und schloß mit der Bitte, daß seine Worte auf guten Boden fallen und dereinst hundertfältige Frucht tragen möchten. Amen. Darauf folgte Kleiderrascheln, und die Versammlung setzte sich. Der Knabe, dessen Geschichte dieses Buch enthält, hatte keine Freude an dieser Predigt, er hörte sie einfach an - - und vielleicht auch das nicht. Doch merkte er sich einzelne Details daraus, ganz unbewußt, denn, wie gesagt, er achtete kaum darauf, aber er kannte den Sermon des Geistlichen schon längst und bemerkte es sofort, wenn mal irgend ein neuer Passus eingeschoben war, und das empfand er dann unangenehm; er hielt Beisätze und Abweichungen von dem Althergebrachten für unnobel und unrecht. Während der Predigt setzt sich eine Fliege auf den Sitz des Kirchenstuhls vor ihm und marterte ihn durch das fortwährende Aneinanderreiben ihrer Beine. Dann umarmte sie ihren eigenen Kopf und drückte ihn so stark, daß die Glieder am Kopfe angewachsen zu sein schienen, fesselte ihre Flügel mit den Hinterbeinen und preßte sie an den Körper, wie einen Überrock und verrichtete ihre ganze Toilette mit einer Ruhe, als fühle sie sich vollkommen sicher. Und so war es auch. Denn als sich Toms Hand ihr näherte, um sie zu erwischen, blieb sie ruhig sitzen. - - Tom dachte, wenn sich ihm diese Beschäftigung bei Beginn der Predigt geboten hätte, würde es ein angenehmer Zeitvertreib für seinen Geist gewesen sein. - - Aber beim Schlußsatz begann seine Hand sich zu krümmen und sich vorwärts zu bewegen; und im Augenblick, da das,, Amen " gesprochen wurde, war die Fliege eine Kriegsgefangene. Seine Tante sah es und veranlaßte ihre Befreiung. Der Geistliche gab seinen Text an und behandelte den ersten Teil mit so gründlicher Langweile, daß manch ein Kopf zu nicken begann; ein anderer Teil wieder war so voll Feuer und Schwefel und setzte der Versammlung so zu, daß sie ganz geknickt und so klein und nichtig erschien, daß es kaum der Erwähnung wert ist. Tom zählte die Seiten der Predigt, und nach dem Gottesdienst wußte er stets ganz genau, wie viel es gewesen waren, aber über die Predigt selbst wußte er selten etwas anzugeben. Diesmal indessen gab er doch für eine kleine Weile Obacht. Der Geistliche gab eine lange und rührende Schilderung vom Wiedersehen irdischer Schafe im Paradiese, wenn Löwe und Lamm beieinander liegen würden und ein kleines Kind sie am Gängelbande führen könnte. Aber Pathos, Eifer, Moral - - alles war verloren an dem kleinen Burschen; er dachte bloß an die Herrlichkeit dieses Heldendarstellers unter den unsichtbaren Wesen; und er stellte sich vor, wie schön es sein müsse, dieses Kind darzustellen - - wenn der Löwe ein zahmer Löwe sein würde. Bei der Schlußbetrachtung geriet er dann wieder in tiefe Leiden. Er erinnerte sich plötzlich eines Schatzes, den er besaß und zog ihn hervor. Es war ein großes, schwarzes Ungeheuer, mit schrecklichen Kinnbacken - - Kneifzangen, sagte Tom. Es befand sich in einer Zündholzschachtel. Das erste, was das Tier tat, war, ihn in den Finger zu beißen. Ein tüchtiger Nasenstüber folgte, und das Tier flog in einen Kirchenstuhl, wo es liegen blieb - - der verwundete Finger wanderte in Toms Mund. Das Tier lag auf dem Rücken, hilflos mit den Beinen strampelnd, unfähig, aufzustehen. Tom sah es und griff danach, aber es befand sich außerhalb seines Bereiches. Irgend jemand wollte sich auf den Stuhl niederlassen, sah das Tier ebenfalls und warf es kurzerhand herunter. Plötzlich kam ein herrenloser Pudel des Weges, trübselig, faul infolge der Sommerhitze, gelangweilt durch die Gefangenschaft, und sich nach einem Abenteuer umsehend. Er entdeckte das Tier. Sein Schwanz richtete sich empor und begann zu wedeln. Er betrachtete seinen Fund, ging um ihn herum, beschnüffelte ihn aus sicherer Entfernung, ging wieder im Kreis herum, kam näher und beschnüffelte ihn dreister, hob dann die Lefzen, schnappte nach ihm, ohne ihn zu fassen, wiederholte diese Prozedur mehrmals, begann zu spielen, legte sich, das Tier zwischen den Pfoten, und setzte seine Untersuchungen fort, wurde bald müde, gleichgültig und vergaß schließlich sein Spielzeug. Sein Kopf sank herab, und sein Kinn drückte immer mehr auf den Feind, welcher ihn plötzlich gepackt hielt. Es ertönte ein scharfes Geheul, des Pudels Kopf schnellte in die Höhe, und das Tier flog ein paar Meter weit fort und lag nun wieder hilflos auf dem Rücken. Die nächstsitzenden Zuschauer stießen sich mit geheimem Vergnügen an, einzelne Gesichter verschwanden hinter Fächern und Taschentüchern, und Tom war ganz glücklich. Der Hund machte ein böses Gesicht und war wohl auch so gestimmt. Er war im Herzen gekränkt und brütete Rache. So ging er wieder zu dem Tier und machte einen neuen, heftigen Angriff, indem er von verschiedenen Punkten eines Kreises aus, dessen Mittelpunkt sein Opfer bildete, auf dieses zusprang, mit den Vorderpfoten dicht vor seinen Augen fuchtelte, mit den Zähnen nach ihm schnappte und den Kopf dicht vor ihm schüttelte, daß die Ohren flogen. Nach einer Weile wurde es ihm wieder langweilig. Er begann ein Spiel mit einer Fliege, aber das bot keinen rechten Ersatz. Darauf lief er ein paarmal im Kreis herum, die Schnauze dicht an der Erde und bekam auch das satt. Er gähnte, seufzte, vergaß das Tier völlig und setzte sich gerade darauf. Wieder ein durchdringender Schrei, und der Pudel sprang hilfesuchend auf einen Stuhl. Das Geschrei dauerte fort, und der Pudel tanzte dicht vor dem Altar herum, lief einen Gang hinunter, sprang an der Tür in die Höhe und flehte um menschliche Hilfe. Seine Angst nahm fortwährend zu, bis er plötzlich wie ein behaarter Komet in seinem Weltenraum herumfuhr. Schließlich verließ der zum Wahnsinn getriebene Dulder seine Bahn und sprang auf den Schoß seines Herrn. Dieser warf ihn aus dem Fenster, und die Stimme des unglücklichen Geschöpfes entfernte sich und erstarb in der Ferne. Inzwischen saß die ganze Versammlung, rot vor unterdrücktem Lachen, und die Predigt hatte völlig aufgehört. Jetzt wurde sie wieder aufgenommen, aber sie ging stockend und abgerissen vor sich, und mit der Aufmerksamkeit war es nichts mehr. Denn selbst die heiligste Andacht war beeinflußt durch schlecht unterdrückte höchst unheilige Heiterkeit, als wenn der arme Geistliche irgend einen schlechten Witz gemacht hätte. Es bedeutete eine wahre Erleichterung für die Versammlung, als der Gottesdienst zu Ende und der Segen gesprochen war. Tom schlenderte höchst gemütlich heim und dachte bei sich, so ein Gottesdienst wäre doch ganz nett, wenn ein bißchen Abwechselung dabei sei. Nur ein Gedanke quälte ihn; er hatte allerdings die Absicht gehabt, den Hund mit seiner,, Beißzange " spielen zu lassen, aber er hätte sie nicht fortschleppen sollen. Sechstes Kapitel. Der Montagmorgen fand Tom höchst übler Laune. Jeder Montagmorgen fand ihn so, denn er eröffnete eine neue Woche voll von Schul - Leiden und - Sorgen. Stets wurde dieser Tag mit Seufzen begonnen; er hätte in diesem Augenblick gewünscht, daß es gar keine die Woche unterbrechenden Feiertage geben möge; denn doppelt schwer war es danach, sich in neue Sklaverei und Fronarbeit zu begeben. Tom lag und dachte nach. Plötzlich kam ihm dann der Wunsch, krank zu sein, um zu Hause bleiben zu können. Das war ein Gedanke. Er überlegte sich die Sache. Aber er konnte keine Krankheit finden und grübelte und grübelte. Einmal glaubte er Anzeichen von Kolik zu entdecken und fing bereits an, sich trügerischen Hoffnungen hinzugeben. Aber bald wurden diese Symptome wieder schwächer, um endlich ganz zu verschwinden. Also mußte er weiter denken. Plötzlich entdeckte er etwas. Einer seiner Oberzähne war locker. Das war ein Glücksfall. Er war im Begriff, anzufangen zu stöhnen (,, Starter " pflegte er eine solche Improvisation zu nennen), als ihm noch rechtzeitig einfiel, daß seine Tante, wenn er damit zutage trat, den Zahn ganz einfach ausziehen würde, und das würde weh tun. So nahm er sich vor, die Sache mit dem Zahn in Reserve zu halten und nach etwas anderem zu suchen. Während einiger Zeit wollte ihm nichts einfallen, dann aber entsann er sich, den Doktor von einem gewissen,, Etwas " reden gehört zu haben, das zwei oder drei Wochen auf einem Patienten gelastet und ihn beinahe einen Finger gekostet habe. So zog er seine wunde Zehe unter der Bettdecke hervor und unterzog sie einer genauen Untersuchung. Jetzt aber wußte er nicht, welches die nötigen Symptome seien. Immerhin schien sich hier eine Aussicht zu bieten, er fing also voll Geistesgegenwart an, zu stöhnen. Aber Sid schlief felsenfest. Tom stöhnte lauter und bildete sich ein, in seiner Zehe wirklich Schmerz zu empfinden. Keine Wirkung auf Sid. Tom fing an, vor Anstrengung Herzklopfen zu bekommen. Er machte einen letzten Versuch, sog sich voll Luft und stieß eine Reihe wundervoller Seufzer heraus. Sid schnarchte weiter. Tom wurde schlimm.,, Sid, Sid, " sagte er und stieß ihn an. Der Stoß wirkte, und Tom konnte wieder anfangen, zu stöhnen. Sid gähnte, streckte sich, richtete sich auf einem Ellbogen auf und begann Tom anzustarren. Tom stöhnte aus Leibeskräften. Sid sagte:,, Tom, du, Tom! " Keine Antwort.,, So hör doch, Tom, Tom! Was hast du, Tom? " Und er stieß ihn an und schaute ihm ängstlich ins Gesicht. Tom mit kläglicher Stimme:,, Tu's nicht, Sid. Stoß mich nicht! ",, Warum - - was gibt's, Tom? Ich will Tante rufen. ",, Nein, nein! Es wird schon allmählich vorübergehen. Ruf niemand. ",, Aber, ich muß es tun! Stöhn ' nicht so, Tom, es ist gräßlich! Wie lange dauert das schon? ",, Stundenlang! Au, au!! Stör ' mich nicht, Sid, du wirst mich töten! ",, Tom, warum hast du mich nicht früher geweckt? Nicht, Tom, tu's nicht! Es geht mir durch und durch, das zu hören! - - Sag, Tom!? ",, Ich vergebe dir alles, Sid. (Stöhnen.) Alles, was du mir mal getan hast. Wenn ich tot bin - - ",, Tom, du bist verrückt, glaub ' ich! Du sollst nicht sterben - - nicht, Tom? ",, Ich vergebe allen, Sid. (Stöhnen.) Sag's ihnen, Sid. - - Und Sid, meine gelbe Türklinke und meine Katze - - die mit dem einen Auge - - sollst du dem neuen Mädchen geben, das gestern gekommen ist, und sag ' ihr - - " Aber Sid war in seine Kleider gefahren und war fortgelaufen. Tom stöhnte jetzt wirklich, so lebhaft hatte er sich alles eingebildet; so hatte sein Stöhnen einen ganz natürlichen Ton bekommen. Sid flog hinunter und schrie:,, O, Tante Polly, komm, Tom stirbt! ",, Stirbt?! ",, Ja doch! Komm doch nur schnell! ",, Ach Unsinn! Ich glaub's nicht. " Trotzdem rannte sie die Treppe hinauf, Sid und Mary hinter ihr drein. Ihr Gesicht war ganz weiß, und die Lippen bebten. Am Bett angekommen, stieß sie aus:,, Tom, Tom! Was ist das mit dir? ",, Ach, Tante, ich - - ",, Was ist mit dir? Was ist mit dir, Kind? ",, Ach, Tante, meine wehe Zehe tut so schrecklich weh! " Die alte Dame fiel in einen Stuhl, lachte ein wenig, weinte ein wenig, dann beides gleichzeitig. Das erleichterte sie, und sie sagte:,, Tom, wie hast du mich erschreckt! Aber nun fertig mit dem Unsinn, aufstehen! " Das Stöhnen hörte auf, und der Schmerz wich aus der Zehe. Tom kam sich ein bißchen töricht vor und sagte kleinlaut:,, Tante Polly, es schien schrecklich und tat so weh, daß ich sogar meinen Zahn darüber vergessen hatte. ",, So, deinen Zahn! Was ist denn mit deinem Zahn? ",, Einer ist lose und tut ganz schrecklich weh! ",, Na, schon gut, schon gut! Fang nur nicht wieder an zu stöhnen! Mund auf! Ja, der Zahn ist lose, aber du wirst nicht dran sterben. Mary, gib mir ein Stück Faden und eine glühende Kohle aus dem Ofen! ",, Ach, bitte, bitte, Tante, " bettelte Tom,,, nicht ausziehen, ' s tut gar nicht mehr weh! Ich will nicht mehr aufstehen können, wenn's noch weh tut! Bitte, tu's nicht, Tante! Ich will ja gar nicht mehr aus der Schule bleiben! ",, Wirklich nicht? Also all der Lärm, weil du aus der Schule bleiben wolltest und fischen gehen, wahrscheinlich? Tom, Tom, ich habe dich so lieb, und du scheinst keinen anderen Wunsch zu haben, als mein altes Herz zu brechen mit deinen Torheiten! " Inzwischen waren die zahnärztlichen Marterwerkzeuge gekommen. Die alte Dame legte das eine Ende der Schnur um Toms Zahn, das andere um den Bettpfosten. Dann nahm sie die Kohle und hielt sie plötzlich dicht vor Toms Gesicht. Im nächsten Augenblick hing der Zahn am Bettpfosten. Aber jedes Unglück hat sein Gutes. Als Tom nach dem Frühstück zur Schule bummelte, war er der Gegenstand des Neides bei allen Jungen, denn die Lücke in seiner Zahnreihe befähigte ihn, auf ganz neue und wunderbare Weise auszuspucken. Bald hatte er ein ganzes Gefolge, das seinen Vorführungen mit höchstem Interesse beiwohnte. Und einer mit einem geschnittenen Finger, der bisher der Mittelpunkt der Verehrung und Bewunderung gewesen war, sah sich auf einmal ohne Anhänger und seines Glanzes beraubt. Das Herz wurde ihm schwer und eine Verachtung heuchelnd, die er nicht fühlte, meinte er, es wäre wohl was Rechtes, ausspucken zu können wie Tom Sawyer. Aber die anderen riefen ihm zu:,, Saure Trauben! " und er ging davon - - ein gestürzter Held. Kurz darauf begegnete Tom dem jugendlichen Paria des Dorfes, Huckleberry Finn, dem Sohn des Dorf - Trunkenboldes. Huckleberry war riesig verhaßt und gefürchtet bei allen Müttern des Ortes, denn er war unerzogen, ruchlos, gemein und schlecht - - und deswegen von allen Kindern so bewundert und seine Gesellschaft so gesucht und ihr Wunsch so heiß, zu sein wie er. Tom war, wie alle wohlerzogenen Knaben, neidisch auf Huckleberrys freies, ungehindertes Leben und hatte strengen Befehl, nicht mit ihm zu spielen. Natürlich spielte er darum erst recht mit ihm, wo sich's tun ließ. Huckleberry war stets in abgelegte Kleider Erwachsener gekleidet, und diese Kleider mußten jahrelang aushalten und flogen in Fetzen um ihn herum. Sein Hut war eine trostlose Ruine, mit großen Lücken in dem herunterhängenden Rande. Sein Rock - - wenn er einen hatte - - baumelte ihm fast bis auf die Hacken und hatte die hinteren Knöpfe in der Höhe des Knies. Ein Tragband hielt seine Hosen. Der Hosenboden hing sackartig hinunter - - ein luftleerer Raum, sozusagen. Huckleberry kam und ging, wie er mochte. Er schlief auf Türschwellen bei schönem Wetter und in Regentonnen bei schlechtem; er brauchte weder zur Schule zu gehen, noch zur Kirche, keinen Herrn anzuerkennen und niemand zu gehorchen. Er konnte fischen und schwimmen, wann und wo er nur wollte, und sich dabei solange aufhalten, wie es ihm beliebte. Im Frühling war er stets der erste, der barfuß lief und der letzte, der im Herbst sich wieder in das dumme Leder bequemte. Er brauchte sich weder zu waschen, noch reine Kleider anzuziehen. Fluchen konnte er herrlich. Mit einem Worte - - was das Leben kostbar machte - - er hatte es. So dachten alle die wohlerzogenen, sittsamen, respektablen Buben in St. Petersburg. Tom rief den romantischen Helden sofort an:,, Holla, Huckleberry! ",, Holla, du, wie geht's dir? ",, Was hast du da? ",, Ne tote Katze. ",, Laß sehen, Huck. Donnerwetter, wie steif sie ist! Woher hast du die? ",, Von ' nem Jungen gekauft. ",, Was hast du dafür gegeben? ",, Einen blauen Zettel und eine Schweinsblase aus dem Schlachthaus. ",, Und woher hattest du den blauen Zettel? ",, Vor zwei Wochen von Ben Rogers für einen Stock gekauft. ",, Sag - - was machst du mit der toten Katze? ",, Was? Warzen heilen. ",, So. Wirklich? Ich weiß was Besseres. ",, Wird was sein! Was ist's denn? ",, Na - - faules Wasser! ",, Faules Wasser! Geb dir keinen Heller für dein faules Wasser! ",, So, nicht? Hast du's vielleicht probiert? ",, Ich nicht, Bob Tanner. ",, Wer hat dir das gesagt? ",, Na, er hat's Jeff Thatcher gesagt, und Jeff hat's Johnny Baker gesagt, und Johnny dem Jim Hollis, und Jim Hollis dem Ben Rogers, und Ben sagte's ' nem Neger, und der hat's mir gesagt. So, nun weißt du's! ",, Na, weißt du, die haben alle gelogen. Alle, bis auf den Neger, den kenn ich nicht. Aber ich hab ' nie einen Neger gesehen, der nicht gelogen hätte. Aber sag ' doch, wie macht's Bob Tanner denn, Huck? ",, Na, er nimmt seine Hand und taucht sie in einen verfaulten Baumstumpf, worin faules Wasser ist. ",, Am Tage? ",, Natürlich! ",, Mit dem Gesicht nach dem Baum? ",, Ja - - das heißt, ich glaube. ",, Sagte er was? ",, Ich glaube nicht - - aber ich weiß nicht. ",, Na - - der will darüber sprechen, wie man Warzen heilt - - so ein alter Schafskopf! Da hätt ' er auch sonst was tun können! Also, du mußt mitten in den Wald gehen, wo du weißt, daß ein Baumstamm mit faulem Wasser ist, und gerade um Mitternacht mußt du das Gesicht gegen den Baum wenden und die Hand hineinstecken, und dann sagst du:, Ist das Wasser faul und dumpf - - Frißt's die Warz ' mit Stiel und Stumpf! ' und dann trittst du langsam zurück, elf Schritt, mit geschlossenen Augen, und dann drehst du dich dreimal herum und gehst nach Hause, ohne mit jemand zu sprechen. Denn sonst hilft's nichts. ",, Ja, das kann sein; aber Bob Tanner hat's anders gesagt. ",, Na, weißt du, dann versteht er's halt nicht. Darum hat er auch am meisten Warzen von allen im Dorf, und er hätte nicht eine, wenn er das mit dem faulen Wasser wüßte, wie's ist. Ich hab ' auf diese Weise tausend Warzen fortgekriegt, Huck. Ich bekomme so viel Frösche in die Hand, daß ich immer eine Masse Warzen habe. - - Zuweilen mach ' ich sie mit ' ner Bohne ab. ",, Ja, Bohne ist gut, damit hab ' ich's auch schon gemacht. ",, So? Wie machst du's denn? ",, Na, man nimmt die Bohne und schneidet sie durch, und dann schneidet man die Warze, bis Blut herauskommt, und dann läßt man das auf die eine Hälfte der Bohne tropfen, und dann nimmt man die und gräbt bei Vollmond am Kreuzweg ein Grab, und da tut man sie dann hinein. Dann, weißt du, zieht die eine Hälfte der Bohne, wo das Blut darauf ist, die andere Hälfte an, und so hilft das Blut, um die Warze fortzuziehen, so lang, bis sie fort ist. ",, Ja, Huck, das ist ganz richtig. Nur, wenn du sie begräbst und dazu sagst:, Bohne fort - - komm nicht mehr an diesen Ort, ' ist's noch besser. So macht's John Harper, und der ist schon mal bis Coonville und überall gewesen. Aber sag ' - - wie heilst du sie denn mit ' ner toten Katze? ",, Weißt du, du nimmst die Katze und gehst auf den Kirchhof gegen Mitternacht, dahin, wo ein Gottloser begraben ist. Wenn's dann Mitternacht ist, kommt ein Teufel - - oder auch zwei oder drei - - du kannst ihn aber nicht sehen, sondern hörst nur so was wie den Wind, oder hörst ihn sprechen. Und wenn sie dann den Kerl fortschleppen, wirfst du die Katze hinterher und rufst:, Teufel hinterm Leichnam her, Katze hinterm Teufel her, Warze hinter der Katze her - - Seh ' euch alle drei nicht mehr! ' Das heilt jede Warze. ",, Das läßt sich hören. Hast du's schon mal versucht, Huck? ",, Nein, aber die alte Hopkins hat's mir erzählt. ",, Ja, ich glaub ', ' s ist so, denn die sieht aus wie ' ne Hexe. ",, Das glaub ' ich! Weißt du, Tom, sie ist eine Hexe! Sie hat meinen Alten behext. Er hat's selbst gesagt. Er begegnete ihr mal ganz allein und sah, daß sie ihn behexen wollte, da hob er einen Stein auf, und wenn sie sich nicht gebückt hätte, hätt ' er sie geworfen. Na, in der Nacht darauf fiel er von einem Schuppen, auf dem er besoffen gelegen hatte, und brach den Arm. ",, Das ist ja schrecklich! Woher wußte er, daß sie ihn behext hatte? ",, Gott, das weiß mein Alter halt. Er sagt, wenn die dich recht steif anschaut, behext sie dich, besonders wenn sie dabei murmelt. Dann spricht sie nämlich das Vaterunser rückwärts. ",, Sag, Huck, wann willst du das mit der Katze probieren? ",, Diese Nacht. Ich denke, sie werden diese Nacht den alten Hoss Williams holen. ",, Aber der ist doch am Samstag schon beerdigt, Huck. Haben sie ihn nicht schon Samstag nacht geholt? ",, Ach, Unsinn! Wie konnten sie's denn vor Mitternacht? Und dann war's Sonntag. Am Sonntag kommen doch die Teufel nicht herauf! ",, Daran hab ' ich nicht gedacht. Dann ist's richtig. Darf ich mitgehen? ",, Meinetwegen - - wenn du dich nicht fürchtest? ",, Fürchten? Das ist das wenigste. Willst du miauen? ",, Ja, und du mußt auch miauen, wenn du kommen kannst. Letztes Mal hast du mich so lange warten lassen, bis der alte Hays einen Stein nach mit warf und schrie:, Der Teufel hol ' die Katz! ' Da hab ' ich ihm einen Stein ins Fenster geschmissen - - aber sag's nicht weiter! ",, Bewahre! Damals konnte ich nicht miauen, weil mir meine Tante aufpaßte; aber diesmal werde ich bestimmt miauen. - - Du, Huck, was ist das? ",, Das? Ach, nur ' ne Baumwanze. ",, Woher hast du die? ",, Aus dem Wald mitgebracht ",, Was willst du dafür haben? ",, Ich - - ich weiß nicht. Ich will sie gar nicht verkaufen. ",, Na ja, ' s ist ja auch nur ' ne lump'ge Wanze. ",, Oho, nach so ' ner Wanze kannst du lange laufen. Mir gefällt sie schon. ",, ' s gibt ' ne Menge solcher Wanzen. Wenn ich wollte, könnt ich tausend solche haben. ",, So, warum willst du denn nicht? Weil du ganz gut weißt, daß du's nicht kannst! Dies ist eine ganz besondere Wanze. Es ist die erste, die ich dies Jahr gesehen hab '. ",, Du, Huck, ich geb ' dir meinen Zahn dafür. ",, Laß sehen. " Tom holte ein Papier hervor und rollte es sorgfältig auf. Huckleberry untersuchte es genau. Dann sagte er:,, Ist er auch echt? " Tom machte den Mund auf und zeigte seine Zahnlücke.,, Gut. " sagte Huckleberry,,, er ist echt. " Tom verschloß die Wanze in der Schachtel, die vorher das Gefängnis der,, Kneifzange " gewesen war, und die beiden trennten sich, jeder höchlichst zufrieden mit seinem Tausch. Als Tom das kleine, einsam gelegene Schulhaus erreicht hatte, ging er ganz lustig, wie einer, der sich möglichst beeilt hat, hinein. Er hängte seine Mütze auf und setzte sich mit geschäftiger Eile auf seinen Platz. Der Lehrer, auf einem großen Lehnstuhl thronend, hatte ein bißchen geschlafen und fuhr bei Toms Anstalten in die Höhe.,, Thomas Sawyer! " Tom wußte, daß, wenn sein Name ganz gesprochen wurde, die Situation kritisch war.,, Herr! ",, Komm vor! Wo bist du denn wieder mal so lange gewesen? " Tom wollte seine Zuflucht zu einer Lüge nehmen, als er zwei lange, helle Zöpfe einen Rücken herabhängen sah und sie infolge geheimer Sympathie erkannte. Und daneben, auf der Mädchen - Seite, war der einzigste Freiplatz! Sofort entgegnete er:,, Ich mußte mit Huckleberry Finn etwas besprechen. " Des Lehrers Pulse stockten, er starrte hilflos um sich. Alles Geräusch der Arbeitenden verstummte. Die Schüler glaubten, dieser kühne Bursche habe den Verstand verloren. Der Lehrer fragte nochmals:,, Du - - du mußtest was? ",, Mit Huckleberry Finn sprechen. " Ein Irrtum war nicht mehr denkbar.,, Thomas Sawyer, das ist die staunenerregendste Antwort, die ich je erhalten habe. Darauf kann nur die Rute antworten. Zieh die Jacke aus! " Des Lehrers Arm arbeitete, bis er völlig ermattet und die Rute kaput war. Dann hieß es:,, So, nun geh, und setz dich zu den Mädchen! Und laß dir das zur Warnung dienen! " Das Kichern, welches jetzt durch das Schulzimmer ging, schien Tom in Verlegenheit zu bringen, in Wahrheit aber war es vielmehr die wundervolle Nähe seines unbekannten Idols und die mit Ehrfurcht gemischte Freude dieses Glücksfalls. Er ließ sich auf dem Ende der Bank nieder, und das Mädchen wandte sich ab, indem es ostentativ den Kopf drehte. Kichern, Flüstern und Tuscheln erfüllten das Zimmer, aber Tom saß mäuschenstill, die Arme auf das lange Pult vor sich gelegt, und schien eifrig zu lernen. Nach und nach legte sich die allgemeine Beschäftigung mit ihm, und das gewöhnliche Schulsummen füllte wieder die Luft. Sofort begann Tom verstohlen glänzende Blicke auf das Mädchen zu werfen. Dieses merkte es, schnitt ihm ' ne Grimasse und drehte für die Zeit einer Minute den Kopf von ihm ab. Als sie vorsichtig wieder herumsah, lag ein Pfirsich vor ihr. Sie stieß ihn weg. Tom schob ihn ihr liebenswürdig wieder zu; sie schob ihn nochmals fort, aber weniger heftig. Tom legte ihn geduldig zum dritten Mal auf ihren Platz.,, Bitte - - nimm, ich hab ' noch mehr! " Das Mädchen lächelte bei dieser Anrede, machte aber sonst kein Zeichen des Einverständnisses. Nun begann der Bursche etwas auf seine Tafel zu zeichnen, wobei er sein Werk sorgfältig mit der Hand bedeckte. Eine Zeitlang tat das Mädel gleichgültig; aber ihre Neugier begann sich doch bald bemerkbar zu machen durch begehrliche Blicke. Tom arbeitete weiter, ohne eine Ahnung davon. Das Mädel bewerkstelligte eine Art Verrenkung, um einen Blick auf Toms Werk werfen zu können, der aber merkte noch immer nichts. Schließlich gab sie nach und flüsterte zögernd:,, Laß mich sehen! " Tom enthüllte sofort eine klägliche Karikatur eines Hauses mit zwei schiefen Giebeln und korkzieherförmigem Rauch über dem Schornstein. Das Interesse der Kleinen an dem Werk wurde immer lebhafter, sie vergaß alles darüber. Als es beendet war, betrachtete sie es einen Moment und flüsterte dann:,, Zu niedlich! Mach einen Mann! " Der Künstler errichtete im Vordergrund einen Mann, einen wahren Mastbaum. Er hätte mit Leichtigkeit über das Haus wegsteigen können; aber die Kleine war nicht kritisch. Sie war zufrieden mit dem Monstrum.,, Ein wundervoller Mann - - jetzt mach mich, wie ich daher komme! " Tom malte so etwas wie ein Zifferblatt, darüber einen Vollmond auf einem Strohhalm von Hals, und Arme, in deren ausgespreizten Fingern ein mächtiger Fächer steckte. Das Mädchen sagte:,, Reizend, Tom. Ich wollte, ich könnte auch zeichnen. ",, ' s ist ganz leicht, " flüsterte Tom,,, ich will's dich lehren. ",, Ja, willst du? Wann? ",, Am Mittag. Gehst du zum Essen nach Haus? ",, Wenn du bleibst, bleib ich auch. ",, Na, gut also. - - Wie heißt du denn? ",, Becky Thatcher. - - Und du? Ach, ich weiß: Thomas Sawyer. ",, So heiß ich, wenn ich was getan hab '. Wenn ich brav bin, nennt man mich Tom. Du wirst mich Tom nennen, nicht wahr? ",, Ja. " Nun begann Tom etwas auf die Tafel zu kritzeln, was das Mädchen wieder nicht sehen sollte. Aber sie ließ sich nicht mehr abweisen. Sie verlangte, es zu sehen.,, Es ist nichts, " sagte Tom gleichgültig.,, Es ist doch was. ",, Nein, es ist nichts. Du brauchst's nicht zu sehen. ",, Doch, ich will's sehen. Ich will. - - Laß mich sehen, bitte! ",, Ich will's dir sagen. ",, Nein, ich will nicht - - ich will, ich will, ich will es sehen! ",, Aber du sagst es doch niemand? So lang du lebst? ",, Nein, ich sag's niemand. Jetzt laß mich sehen! " Und sie legte ihre kleine Hand auf seine, und ein kleines Handgemenge folgte. Tom tat, als wehre er sich im Ernst, ließ aber doch seine Hand langsam abgleiten, bis die Worte sichtbar wurden:,, Ich liebe dich! ",, Garstiger Junge! " Dabei gab sie ihm einen kleinen Klaps, schien aber doch nicht allzu böse zu sein. Gerade in diesem schönen Moment fühlte Tom einen schweren Griff am Ohr und eine unwiderstehlich emporziehende Gewalt. So wurde er durch das Schulzimmer eskortiert und auf seinen eigenen Platz befördert, unter einem Kreuzfeuer von Spott und Gelächter der ganzen Schule. Dann blieb der Lehrer während eines schrecklichen Augenblickes neben ihm stehen und kehrte dann endlich auf seinen Thron zurück, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Aber obwohl Toms Ohr schmerzte, war sein Herz doch voll Jubel. Als die Schule wieder beruhigt war, machte Tom einen sehr ehrenwerten Versuch, zu arbeiten, aber der Sturm in ihm war zu heftig. Dann sollte er lesen und brachte ein klägliches Gestümper zu Tage, in der Geographiestunde machte er Seen zu Bergen, Berge zu Flüssen, Flüsse zu Erdteilen, bis das Chaos wieder hereinbrach. Schließlich beim Buchstabieren wühlte er sich durch eine Menge einzelner Worte und Silben, bis er sich völlig festgerannt hatte und die Zinn - Medaille, die er vor Monaten als besondere Auszeichnung gewonnen hatte, wieder abgeben mußte. Siebentes Kapitel. Je gewissenhafter Tom sich bemühte, seine Gedanken an das Buch zu fesseln, um so mehr schweiften sie in die Ferne. So gab er es schließlich mit einem Seufzer auf und gähnte. Es wollte ihm scheinen, als werde es heute niemals Mittagszeit. Die Luft stand bewegungslos; kein Hauch. Es war der schläfrigste aller schläfrigen Tage. Das halb erstickte Murmeln der fünfundzwanzig Kinder, die da so eifrig studierten, lullte Toms Seele ein, gleich dem Gesumse der Bienen. Draußen im prallen Sonnenschein reckte Cardiff Hill sein im saftigsten Grün prangendes Haupt durch den schimmernden Schleier der Luft, die aus der Ferne gesehen, die Farbe des Purpurs angenommen hatte - - infolge der großen Hitze. Ein paar Vögel wiegten sich auf müßigen Schwingen hoch im Zenith. Sonst war kein Lebewesen sichtbar, außer ein paar Kühen, und die schliefen auch. Toms Herz lechzte nach Freiheit oder wenigstens irgend welcher Beschäftigung, um damit diese traurigen Stunden totzuschlagen. Seine Hand wanderte in die Tasche, und über sein Gesicht huschte ein Schimmer freudiger Dankbarkeit, ihm selbst unbewußt. Dann wurde die Zündholzschachtel ans Tageslicht befördert. Er befreite die Wanze und setzte sie vor sich auf die Bank. Das unvernünftige Tier wurde wahrhaftig von demselben Ausdruck des Dankes verschönt, aber es hatte zu früh frohlockt, denn als es Miene machte, sich dankerfüllt davonzubegeben, schubste Tom es mit dem Griffel zurück und zwang es, eine andere Richtung einzuschlagen. Toms Busenfreund saß neben ihm, seufzend, wie es Tom noch eben getan hatte; jetzt war er sofort von tiefstem und dankbarstem Interesse erfüllt für diesen reizenden Zeitvertreib. Dieser Busenfreund war Joe Harper. Die beiden Burschen waren die Woche hindurch unzertrennliche Freunde - - Samstags waren sie erbitterte Feinde. Joe zog einen Griffel aus seinem Kasten und begann sich an den Exerzitien des Gefangenen zu beteiligen. Der neue Sport gewann von Minute zu Minute an Interesse. Aber bald bemerkte Tom, daß sie einander ins Gehege kamen und eigentlich keiner recht was von der Wanze habe. So legte er Joes Tafel auf den Tisch und zog daran entlang einen senkrechten Strich mit dem Griffel.,, So, " sagte er,,, so lange sie auf deiner Seite ist, kannst du mit ihr herumschubsen, und ich lasse sie in Ruhe, sobald du sie aber auf meine Seite entkommen läßt, mußt du sie in Ruhe lassen, und ich darf sie behalten, so lange ich sie auf meiner Seite halten kann. ",, Na, also - - los! " Die Wanze entschlüpfte sofort von Toms Gebiet und überschritt den Äquator. Joe drangsalierte sie eine Weile, und dann kroch sie wieder zu Tom. So ging es mehrmals hin und her. Während sich einer der beiden voll Eifer mit der Wanze herumschlug, schaute der andere begierig zu; beider Köpfe waren, dicht aneinander gedrängt, über den Tisch gebeugt, und beider Geist war von gleichem Interesse erfüllt. Schließlich schien sich das Glück für Joe zu entscheiden. Die Wanze versuchte dies und das, schlug immer neue Wege ein und wurde so hitzig und aufgeregt wie die Jungen selbst, aber jedesmal, wenn sie Joe überlistet und den Sieg davongetragen zu haben schien, und es Tom bereits in den Fingern zuckte, zu beginnen, trieb Joes Griffel die Wanze noch im letzten Augenblick zurück und hielt sie wiederum gefangen. Schließlich konnte Tom es nicht länger aushalten. Die Versuchung war zu groß. So holte er aus und half mit seinem Griffel ein bißchen nach. Das ärgerte Joe mächtig.,, Tom, laß das! ",, Ich will sie jetzt auch mal wieder ein bißchen zum Spielen haben, Joe. ",, Halt, das gibt's nicht; laß sie los! ",, Sag, was du willst - - ich muß sie jetzt mal haben! ",, Ich sag dir - - laß sie! ",, Fällt mit grad ein! ",, Du sollst aber - - sie ist auf meiner Seite! ",, Du hör ', Joe - - wem gehört die Wanze? ",, Ist mit ganz egal, wem sie gehört - - sie ist auf meiner Seite, und du sollst sie nicht anfassen! ",, Sooo - - ich will aber - - nu grade! Zum Teufel, mir gehört die Wanze! Ich werd ' doch mit ihr tun dürfen, was ich will! " Tom fühlte einen schrecklichen Schlag auf der Schulter, im nächsten Augenblick fühlte Joe ihn, und während der nächsten Minuten flog der Staub in dichten Wolken von ihren Jacken, und die ganze Schule jubilierte. Die beiden waren viel zu sehr in ihren Streit vertieft gewesen, um die plötzliche Stille zu bemerken, die sich über die Klasse gelagert hatte, während der Lehrer auf den Zehen von seinem Pult heruntergeschlichen kam. Er hatte einen guten Teil der Auseinandersetzung mit angehört, bis er tätig eingriff. Als die Schule mittags aus war, schlich Tom zu Becky und flüsterte ihr ins Ohr:,, Setz deinen Hut auf und tu so, als wenn du nach Hause gingest. Wenn du um die Ecke bist, laß die anderen laufen und komm durch die Seitengasse zurück. Ich will ' nen anderen Weg gehen und komme dann auch zurück. " So ging eins mit einem Trupp Schüler fort, das andere mit ' nem andern. Eine kurze Weile danach trafen sie sich am Ende des Gäßchens wieder, und als sie wieder bei der Schule anlangten, waren sie da ganz ungestört. Dann saßen sie zusammen, vor sich eine Tafel, und Tom gab Becky seinen Griffel, führte ihr die Hand, und sie zeichneten zusammen ein wundervolles Haus. Sobald das Interesse an der Kunst zu schwinden begann, fingen sie an, sich was zu erzählen. Tom schwamm in Seligkeit.,, Hast du Ratten gern? " fragte er Becky.,, Pfui, ich hasse sie! ",, Ja, ich auch - - das heißt lebendige. Aber ich meinte tote, die man an ' nem Strick sich um den Kopf herumschwingen lassen kann. ",, Nein, ich mag überhaupt gar keine Ratten. Ich möchte Gummi zum Kauen. ",, Das mein ich! Ich wollt ', ich hätt ' welchen! ",, Möchtest du? Ich hab ' welchen. Du kannst ihn ' ne Weile kriegen, aber dann mußt du ihn mir wiedergeben! " Und dann kauten sie Gummi und stemmten die Knie gegen die Bank und waren seelenvergnügt.,, Warst du schon mal im Zirkus? " fragte Tom.,, M - - ja, mein Papa hat mich schon ' n paarmal mitgenommen, wenn ich artig war. ",, Ich bin schon drei - oder viermal dort gewesen - - vielmal! - - Die Kirche ist gräßlich langweilig neben dem Zirkus. Ich möchte immer in den Zirkus gehen. Wenn ich groß bin, will ich Clown im Zirkus werden. ",, Ach, willst du wirklich? Das ist aber nett. Die sind alle so hübsch geputzt. ",, M - - ja. Und dann verdienen sie eine Unmenge Geld - - Ben Rogers sagt, mehr als einen Dollar täglich. - - Sag, Becky, warst du schon mal verlobt? ",, Was ist das? ",, Nun - - wenn man sich heiraten will. ",, Nein. ",, Möcht's du's mal sein? ",, Ich weiß nicht. Ich denke ja. Ist denn das nett? ",, Nett? Ich weiß nicht, was netter ist. Du brauchst nur zu einem Knaben zu sagen, du möchtest keinen anderen jemals als ihn, niemals, niemals, niemals, und dann küßt ihr euch - - und dann ist's fertig. Jeder kann das. ",, Küssen? Warum denn küssen? ",, Weil das halt zu schön ist, weißt du! Die Leute tun das immerfort. ",, Immer? ",, Natürlich, jeder, der ' nen andern lieb hat, tut's. Weißt du nicht mehr, was ich auf die Tafel geschrieben habe? ",, J - - ja ",, Was denn? ",, Ich - - ich kann's nicht sagen. ",, Soll ich's dir sagen? ",, J - - ja - - aber ein andermal. ",, Nein, jetzt. ",, Nein, nicht jetzt - - morgen. ",, Nein - - jetzt, Becky. Bitte! Ich will's auch ganz leise sagen; ins Ohr will ich's dir sagen. " Als Becky zögerte, nahm Tom ihr Stillschweigen für Zustimmung, schlang seinen Arm um ihre Schulter, legte seinen Mund an ihr Ohr und flüsterte ihr die alte Zauberformel zu. Und dann sagte er:,, Nun, mußt du's mir sagen - - grad so! " Sie wehrte sich eine Weile und bat dann:,, Aber, du mußt das Gesicht fortwenden, daß du's nicht sehen kannst - - dann tu ich's. Aber du darfst es niemand sagen, willst du, Tom? Na, sag, willst du? ",, Selbstverständlich, Becky! Also jetzt! " Er drehte den Kopf zur Seite. Sie beugte sich hinüber, bis ihr Atem ihn berührte, und flüsterte dann ganz leise:,, Ich - - liebe - - dich! " Und dann sprang sie auf und lief um Tische und Bänke herum, Tom hinterher, und flüchtete schließlich in einen Winkel, ihre weiße Schürze vor dem Gesicht. Tom faßte sie um und sprach leise auf sie ein.,, Na, Becky - - ' s ist ja schon gut - - alles, bis auf den Kuß! Fürchte dich nur nicht davor, ich tu dir gewiß nichts. Sei gut, Becky! " Damit zupfte er an der Schürze und an den Händen. Allmählich gab sie nach und ließ die Hände sinken. Ihr Gesichtchen, glühend vor Scham, erschien wieder. Tom küßte sie auf die roten Lippen und sagte:,, So, nun ist's ganz vorbei, Becky! Und jetzt weißt du wohl, darfst du nie wieder ' nen anderen gern haben, außer mir, und darfst auch keinen heiraten, außer mir, nie, nie nie! Willst du? ",, Nein, ich will nie ' nen anderen lieb haben als dich, Tom, und ich will nie ' nen anderen heiraten als dich, und du darfst auch nie eine andere heiraten als mich, niemals. ",, Na, gewiß! Versteht sich doch! Und, wenn wir jetzt wieder in die Schule gehen, oder wenn wir von der Schule nach Haus kommen, mußt du immer mit mir gehen, wenn's die anderen nicht sehen - - und du wählst mich und ich dich beim Spazierengehen - - so ist's unter Verlobten! ",, Nett ist das. Ich hatte davon noch nie gehört. ",, O, es ist so lustig! Als ich und Amy Lawrence - - " Die erstaunten Augen belehrten Tom über seine Dummheit, und er hielt verwirrt inne.,, Ach, Tom, also bin ich nicht die erste, mit der du verlobt warst? " Das Mädchen begann zu heulen. Tom bat:,, Nicht weinen, Becky. Ich mag sie ja gar nicht mehr leiden. ",, Doch, du magst sie noch, Tom, du weißt ganz gut, daß du sie noch magst! " Tom versuchte, seinen Arm um ihren Hals zu legen, aber sie stieß ihn fort, drehte das Gesicht nach der Wand und fing wieder an zu heulen. Tom machte mit seinen süßesten Schmeicheleien einen neuen Versuch und wurde abermals abgeschlagen. Da erwachte sein Stolz, er wandte sich ab und ging hinaus. Draußen blieb er ein wenig stehen, schwankend und unentschlossen, schielte nach der Tür und hoffte, sie würde bereuen und ihm nachkommen. Aber sie kam nicht. Schließlich wurde er weich; er fühlte, daß das Unrecht auf seiner Seite wäre. Es war wohl sehr sauer, ihr nochmals entgegenzukommen, aber er machte sich selbst Mut und ging hinein. Sie stand immer noch in ihrem Winkel, das Gesicht zur Wand gekehrt. Toms Herz wollte brechen. Er ging zu ihr, stand einen Augenblick zögernd und wußte nicht, was tun. Dann sagte er ganz schüchtern:,, Becky - - ich - - ich kümmere mich um keine andere als dich. " Keine Antwort. Schluchzen.,, Becky, " in bittendem Ton.,, Becky, willst du nicht wenigstens was sagen? " Immer lauteres Schluchzen. Tom zog seinen kostbarsten Schatz hervor, den abgebrochenen Knopf irgend eines alten Hausgerätes, hielt ihn ihr dicht vor die Augen und schmeichelte:,, Na, Becky, willst du den haben? " Sie schlug ihn ihm aus der Hand, daß er bis zur Tür flog. Da marschierte Tom denn aus der Tür, über Berg und Tal, um an dem Tage nicht mehr zur Schule zurückzukehren. Sofort drehte sich Becky um. Sie lief zur Tür. Er war nicht mehr zu sehen. Sie rannte hinaus auf den Spielplatz. Er war nicht dort. Nun begann sie aus Leibeskräften zu schreien:,, Tom, komm zurück - - Tom!! " Sie horchte angestrengt, aber keine Antwort kam. Sie war also allein in der Stille und Verlassenheit ringsum. So fing sie wieder an zu schreien, um sich selbst zu ermutigen, bis die Schüler wieder zur Schule zu kommen begannen und sie ihren Kummer hinunterschlucken und ihr gebrochenes Herz einstweilen beruhigen mußte. So nahm sie ihr Kreuz eines ganzen langweiligen Nachmittags auf sich, ohne unter all diesen Fremden eine einzige mitfühlende Seele zu finden, die ihren Schmerz mit ihr geteilt hätte. Achtes Kapitel. Tom schlenderte immer weiter durch die Gassen, bis er zu weit von der Schule entfernt war, um noch zum Nachmittagsunterricht gehen zu können, dann setzte er sich in Trab. Ein paarmal passierte er kleine,, Flußarme ", da ihm ein weitverbreiteter, jugendlicher Aberglaube sagte, daß er sich dadurch vor Verfolgung sichern könne. Nach einer halben Stunde war er hinter Douglas Mansion auf dem Gipfel von Cardiff Hill verschwunden, das Schulhaus lag weit unten im Nebel, kaum noch sichtbar. Er,, nahm " einen dichten Wald, schlug einen Weg in das Innere ein, der keiner war, und setzte sich auf eine Moosbank unter das weite Blätterdach einer Eiche. Kein Lüftchen regte sich. Die schwere Nachmittagsluft ließ sogar die Vögel verstummen. Die ganze Natur lag in starrer Dumpfheit, nur zuweilen unterbrochen durch entferntes Pochen eines Spechtes, wodurch das Schweigen und das Gefühl des Alleinseins nur um so fühlbarer wurde. Der kleine Bursche versank in melancholische Träume. Seine Empfindungen standen vollkommen in Einklang mit seiner Umgebung. Lange saß er, die Ellbogen auf die Knie gestemmt, das Kinn in der Hand, und dachte nach. Es wollte ihm scheinen, daß das ganze Leben im besten Fall eitel Kummer und Sorge sei, und er beneidete mehr als je Jimmy Hodges. Es muß sehr friedvoll sein, dachte er, für immer zu liegen und zu schlummern und zu träumen, wenn der Wind in den Blättern flüstert und Gras und Blumen auf dem Grab fächelt - - und von nichts mehr gedrückt und belästigt zu werden - - nie mehr. Hätte er nur ein gutes Sonntagsschulzeugnis gehabt - - wie leicht hätte er für immer dem Leben Valet gesagt. Und dann dieses Mädchen. Was hatte er ihr eigentlich getan? Nichts! Er hatte die beste Absicht von der Welt gehabt und war artig gewesen wie ein Hund - - wie ein wohlerzogener Hund. Sie würde ein paar Tage traurig sein - - vielleicht! Ach, wenn er doch für einige Zeit wenigstens hätte sterben können. Aber der leichte Sinn der Jugend läßt sich nicht lange niederdrücken. Tom begann sehr bald wieder in sein altes Lebenselement zurückzutreiben. Wie, wenn er jetzt fortging und auf geheimnisvolle Weise verschwände? Wenn er weit, weit in unbekannte Länder, jenseits des großen Wassers, gelangte und nie wieder zurückkäme. Was würde sie dann wohl fühlen? Der Gedanke, ein Clown zu werden, kam ihm wieder, wurde aber mit Abscheu abgewiesen. Für dumme Witze und Possen und gemalte Kleider war sein Geist, der sich eben noch in den kühnsten Träumen verloren hatte im Reich der Romantik, wenig disponiert. Nein, er wollte Soldat werden und nach langen Jahren als kriegserfahrener, berühmter Mann zurückkehren. Oder noch besser, er wollte zu den Indianern gehen, mit ihnen Büffel jagen, in den wilden Bergen und den verlassenen Prärien den Kriegspfad beschreiten, um dann einmal als großer Häuptling, geschmückt mit Federn, mit allen nur denkbaren Farben scheußlich bemalt, zurückzukommen, eines schönen Morgens mit blutdürstigem Kriegsgeheul in die Sonntagsschule einbrechen und alle seine Gefährten in unerträglichem Neid vergehen zu sehen! Aber ihm fiel etwas noch Großartigeres ein! Ein Pirat wollte er werden! Das war's! Jetzt erst lag seine Zukunft klar vor ihm, strahlend in unaussprechlichem Glanz. Wie würde sein Name die Welt erfüllen und die Menschen schaudern machen. Wie stolz würde er die schäumende See durchfurchen auf seinem großen, kohlschwarzen Dreimaster, dem,, Sturmgeist ", mit der gräßlichen Flagge am Mast! Und dann, auf dem Höhepunkt seines Ruhmes angelangt, würde er plötzlich in dem alten Dorfe erscheinen, und, ein braungebrannter, wetterfester Held in schwarzer Jacke, langschaftigen Seemannsstiefeln, hochroter Schärpe, den Hut mit wallenden Federn geschmückt, die schwarze Fahne mit den Totenschädeln und den gekreuzten Gebeinen darauf entfaltet, mit lähmendem Entsetzen die guten Leute in der Kirche erfüllen!,, Es ist Tom Sawyer, der Pirat! Der schwarze Rächer des spanischen Meeres!! " Ja - - es war beschlossen, sein Schicksal besiegelt. Er wollte von zu Hause fortlaufen und drauf los! Gleich am nächsten Morgen mußte er anfangen. Deshalb hieß es jetzt mit den Vorbereitungen beginnen. Er wollte zunächst seine Schätze zusammenscharren. Er ging zu einem hohlen Baum in der Nähe und begann am Fuße desselben mit seinem Messer den Boden aufzukratzen. Bald traf er auf hohlklingendes Holz. Er legte seine Hand drauf und deklamierte mit feierlicher Stimme:,, Was nicht hier ist, komme, was schon hier ist, bleibe! " Dann entfernte er die Erde und förderte einen von Schindeln gebildeten Behälter zu Tage. Er hob ihn auf und öffnete eine kleine Schatzkammer, deren Boden und Seiten gleichfalls durch Schindeln gebildet wurden. Darin lag eine Glaskugel. Toms Erstaunen war grenzenlos! Er schüttelte den Kopf, machte ein verdutztes Gesicht und sagte:,, Nun, das ist stark! " Dann schleuderte er die Glaskugel wütend von sich und versank in Nachdenken. Die Wahrheit war, daß hier ein alter Aberglaube zunichte geworden war, den er und alle seine Kameraden stets für unfehlbar gehalten hatten. Wenn man nämlich eine Glaskugel mit gewissen vorgeschriebenen Worten vergrub und nach einer Zeitlang die Grube mit den gleichen Worten wieder öffnete, so fand man alle Kugeln, die man nur jemals besessen und verloren hatte, beisammen, und wären sie auch noch so weit zerstreut gewesen. Und nun war das auf so schmerzliche Weise und so augenscheinlich fehlgeschlagen. Toms ganzer Glaube war in seinen Grundfesten erschüttert. Er hatte wohl sehr oft von derartigen geglückten Unternehmungen, niemals aber von fehlgeschlagenen gehört. Es fiel ihm nicht ein, daß er es schon mehrmals versucht und nachher den Platz des Begräbnisses nicht hatte wiederfinden können. Er grübelte eine Zeitlang darüber nach und entschied schließlich, daß irgend eine Hexe den Zauber gestört haben müsse. Er dachte sich von diesem Punkt zu überzeugen, so suchte er, bis er eine Sandstelle mit einer trichterartigen Vertiefung darin fand. Gleich legte er sich nieder, preßte den Mund fest darauf und rief:,, Wanze, komm herauf vom Grund, Tu mir, was ich möchte, kund! " Der Sand begann sich zu heben und eine kleine, schwarze Wanze erschien für einen Augenblick, verschwand aber schleunigst wieder.,, Sie wagt's nicht! Es war also eine Hexe! Ich wußte es ja! " Er sah sofort die Nutzlosigkeit eines Kampfes gegen Hexen ein und gab es mutlos auf. Aber wenigstens hätte er die eben fortgeworfene Glaskugel gern wieder gehabt und begann sofort umherzusuchen, konnte sie aber nicht finden. Nun ging er zu seiner Schatzkammer zurück und stellte sich genau so, wie er vorher gestanden, als er die Kugel fortwarf. Dann zog er eine andere aus der Tasche, warf sie ebenso fort und deklamierte dabei:,, Bruder, such den Bruder! " Er paßte genau auf, wo sie niederfiel, ging dorthin und suchte umher. Aber sie mußte entweder näher oder weiter geflogen sein - - er wiederholte also den Versuch noch zweimal. Der letzte Versuch hatte Erfolg. Die beiden Kugeln lagen kaum einen Fuß voneinander. In diesem Augenblick drang der Ton einer Zinntrompete durch den Wald herüber. Tom entledigte sich blitzartig seiner Jacke und Hose, machte sich aus einem Hosenträger einen Gürtel, räumte einen Haufen Gestrüpp hinter dem hohlen Baum fort, holte einen rohgeschnitzten Bogen und Pfeil hervor, ein hölzernes Schwert, eine Zinntrompete, raffte alles zusammen und raste davon, barbeinig, in flatterndem Hemd. Bald hielt er unter einer großen Ulme, stieß antwortend in die Trompete und schlich auf den Zehen vorwärts, um vorsichtig nach allen Richtungen auszulugen. Zu einer eingebildeten Heldenschar gewandt, flüsterte er:,, Halt, tapfere Gefährten! Haltet hier, bis ich blase! " In diesem Augenblick erschien Joe Harper, ebenso gekleidet und bewaffnet wie Tom. Tom rief:,, Halt! Wer kommt ohne meine Erlaubnis in den Sherwood - Wald?! ",, Guy von Guisborne wagt's! Wer bist du, daß - - daß - - ",, Daß du es wagen darfst, so zu sprechen, " ergänzte Tom prompt, denn sie spielten,, nach dem Buch " und deklamierten aus dem Gedächtnis.,, Daß du es wagen darfst, so zu sprechen? ",, Wer ich bin? Robin Hood, wie dein schuftiger Leichnam bald fühlen soll! ",, Du wärest in der Tat jener berühmte Geächtete? Mit Vergnügen will ich mit dir um die Herrschaft dieses herrlichen Waldes streiten! Paß auf! " Sie zogen ihre hölzernen Schwerter, warfen alle anderen Waffen auf die Erde, nahmen eine Fechterstellung an, Fuß bei Fuß, und begannen einen heißen, kühnen Kampf,, zwei oben und zwei unten. " Plötzlich sagte Tom:,, Du, wenn's dir recht ist - - stärker! " So gingen sie denn noch stärker los, schnaufend und schwitzend. Zuweilen stieß Tom hervor:,, Fall ', fall ', warum fällst du nicht?! ",, Fällt mir nicht ein! Warum fällst du nicht selbst? Du bekommst die meisten Schläge! ",, Ach, das ist ja gleich! Ich kann doch nicht fallen! Das steht doch nicht im Buch! Im Buch steht doch: Und mit einem schrecklichen Hieb fällte er den armen Guy von Guisborne! Du mußt dich umdrehen, und ich geb dir eins hinten drauf! " Gegen solche Autorität ließ sich nicht streiten, Joe drehte sich um, erhielt seinen Hieb und fiel.,, So, " sagte er, sich wieder aufrappelnd,,, nun laß du mich dich töten. Das ist recht und billig! ",, Gibt's nicht, steht nicht im Buch! ",, So? Na, meinetwegen. ' s ist aber eine rechte Gemeinheit von dem Buch! - - So, jetzt kannst du Friar Tuck sein, Tom, oder Much, des Müllers Sohn, und mich mit einem Zaunpfahl lahm prügeln; oder ich bin der Sheriff von Nottingham, und du bist jetzt mal Robin Hood und tötest mich. " Tom war's zufrieden, und auch diese Abenteuer wurden durchgefochten. Dann war wieder Joe Robin Hood und bekam von der verräterischen Nonne die Erlaubnis, all seine furchtbare Kraft mit dem Blut seiner Wunden davonfließen zu sehen. Zuletzt schleifte ihn Joe, der jetzt eine ganze Bande weinender Geächteter repräsentierte, vorsichtig davon, gab ihm seinen Bogen in die schwache Rechte, und Tom flüsterte mit ersterbender Stimme:,, Wo dieser Pfeil niederfällt, da begrabt den armen Robin Hood unter grünen Bäumen. " Dann schoß er einen Pfeil ab, fiel zurück und würde tot gewesen sein - - aber er hatte sich in Nesseln geworfen und sprang in die Höhe - - etwas zu schnell für einen Toten. Sie zogen sich wieder an, verbargen ihre Kriegsgeräte und gingen fort, bedauernd, daß es keine Geächteten mehr gab, und sich fragend, was die moderne Zivilisation getan habe, um diesen Verlust verschmerzen zu lassen. Sie waren sich beide vollkommen klar, daß sie lieber ein Jahr hindurch Geächtete im Sherwood - Walde gewesen wären als für Lebenszeit Präsident der Vereinigten Staaten. Neuntes Kapitel. Um halb neun wurden Tom und Sid, wie gewöhnlich, zu Bett geschickt. Sie sprachen ihre Gebete, und Sid war bald eingeschlafen. Tom lag wach und wartete in peinvoller Ungeduld. Als es ihm schien, daß es bald wieder Tag werden müsse, hörte er es zehn Uhr schlagen. Das war zum Verzweifeln. Er hätte um sich schlagen mögen, wie es seine Nerven verlangten, aber er fürchtete, Sid aufzuwecken. So lag er still und starrte in die Dunkelheit. Es war so schrecklich still! Allmählich begannen aus der Stille heraus kleine, geheimnisvolle, kaum hörbare Stimmen sich bemerkbar zu machen. Zuerst vernahm er nur das Ticken der Uhr. Dann begannen morsche Balken geheimnisvoll zu brechen. Auch im Fußboden regte es sich. Es war kein Zweifel, daß Geister ihr Wesen trieben. Ein dumpfer, sich regelmäßig wiederholender Ton drang aus Tante Pollys Schlafzimmer herauf. Und jetzt begann das eintönige Zirpen einer Grille, das keine menschliche Macht zum Schweigen zu bringen vermag. Dann wieder ließ das unheimliche Klopfen des Totenkäfers in einem Balken über seinem Kopf Tom erschauern - - gewiß waren irgend jemandes Tage gezählt. Jetzt erfüllte das langgezogene Heulen eines Hundes die nächtliche Stille und wurde sofort durch ein noch entfernteres Heulen beantwortet. Tom lag halb betäubt. Er glaubte, alle Zeit habe aufgehört und die Ewigkeit beginne. Trotz aller Anstrengung schlief er ein. Die Uhr schlug elf, aber er hörte nichts mehr. Und dann mischte sich in seine halbbewußten Träume ein höchst melancholisches Katzengeheul. Das Aufreißen eines benachbarten Fensters schreckte ihn in die Höhe. Der wütende Ruf:,, Hol der Teufel die verfluchte Katze! " und der Anprall einer leeren Flasche gegen die Rückwand von Tante Pollys Holzschuppen ermunterten ihn vollends; eine Minute später war er völlig angekleidet, stieg aus dem Fenster und noch auf allen Vieren am Dach eines kleinen Anbaues entlang. Während dieses Spazierganges miaute er ein - oder zweimal halblaut, dann kletterte er auf das Dach des Holzschuppens und sprang von dort zur Erde. Huckleberry Finn war da mit seiner toten Katze. Die Jungen machten sich davon und verschwanden in der Dunkelheit. Eine halbe Stunde später wateten sie durch das nasse Gras des Kirchhofes. Es war ein Kirchhof in der althergebrachten Art des Westens. Er lag auf einem Hügel, über ein und eine halbe Meile vom Dorfe entfernt. Umgeben war er von einem halb morschen alten Zaun, der sich bald nach innen, bald nach außen lehnte und doch sich immer noch aufrecht erhielt. Gras und Unkraut überwucherten den ganzen Gottesacker. Die meisten der älteren Gräber waren längst eingesunken. Nicht ein einziger Grabstein war zu sehen. Roh geschnitzte, wurmstichige Holzkreuze steckten auf den Hügeln, einen Anhalt suchend und keinen findend.,, Zum ewigen Gedächtnis ", das und ähnliches war auf einige gemalt, aber man konnte es meistens nicht mehr lesen - - auch nicht bei hellem Tageslicht. Ein leichter Wind säuselte in den Bäumen, und Tom argwöhnte, daß es Stimmen von Toten sein könnten, die sich über die Störung ihrer Ruhe beklagten. Nur leise, mit verhaltenem Atem, wagten die beiden zu sprechen, Zeit und Stunde und die trostlose Schwermut und Verlassenheit ihrer Umgebung bedrückten ihren Geist. Sie fanden das neugeschaufelte Grab, das sie suchten, und stellten sich in den Schutz und Schatten dreier mächtiger Ulmen, welche, ein paar Schritte vom Grabe entfernt, sich dicht aneinander drängten. Dann warteten sie lange schweigend auf das, was da kommen sollte. Das Husten einer entfernten Eule war der einzige Ton, der die tiefe Stille zuweilen unterbrach. Toms Beklemmung wuchs. Er mußte durchaus sprechen. So sagte er mit flüsternder Stimme:,, Hucky, glaubst du, daß die Toten es leiden werden, daß wir hier sind? " Huckleberry gab flüsternd zurück:,, Ich wollte, ich wüßte es. ' s ist schrecklich traurig hier, nicht? ",, Ich glaub ' wohl! " Während der nächsten Minuten schwiegen beide, die Frage innerlich weiter verarbeitend. Dann wisperte Tom wieder:,, Sag, Hucky - - meinst du, daß Hoss Williams uns sprechen hört? ",, O, sicher, wenigstens sein Geist. " Nach einer Pause Tom wieder:,, Hätt ' ich doch nur Herr Williams gesagt! Aber ich hab's ja nie anders gehört. Alle nennen ihn einfach Hoss. ",, Ja. Tom, man kann gar nicht vorsichtig genug sein in dem, was man über die Leute da unten sagt. " Dies war ungemütlich, und die Unterhaltung erstarb wieder. Plötzlich packte Tom seinen Kameraden am Arm und raunte:,, Pscht! ",, Was denn, Tom? " Und die beiden drängten sich klopfenden Herzens aneinander.,, Pscht! Da ist's wieder! Hast du denn nichts gehört? ",, Ich - - ",, Da! Nun hörst du's doch! ",, Herr Gott, Tom, sie kommen! Sie kommen ganz bestimmt! Was tust du? ",, Ich? Nichts! Meinst du, daß sie uns sehen werden? ",, O, Tom, die sehen in der Dunkelheit wie die Katzen. - - Ich wollte nur, ich wär ' nicht hergekommen! ",, Ach was, fürchte dich nicht! Ich glaub ' nicht, daß sie uns was tun! Wir haben ja nichts Schlechtes getan. Wenn wir ganz still sind, werden sie uns vielleicht gar nicht bemerken! ",, Ich will's versuchen, Tom, aber, Herr Gott, ich bin halb tot vor Angst! ",, Still! " Sie steckten die Köpfe zusammen und wagten kaum zu atmen. Dumpfes Stimmengewirr wurde vom anderen Ende des Kirchhofes hörbar.,, Sieh, sieh doch! " flüsterte Tom.,, Was ist das? ",, ' s ist Teufelsspuk! Ach, Tom, wie schrecklich! " Ein paar unbestimmte Figuren tauchten aus der Dunkelheit auf, eine altertümliche Blendlaterne mit sich führend, welche die Umgebung mit zahllosen Lichtstreifen erhellte. Schaudernd flüsterte Huckleberry:,, Ganz gewiß, es sind Teufel! Drei auf einmal! Gott, Gott, Tom, wir sind verloren! Weißt du kein Gebet? ",, Ich will's versuchen, aber sei doch nicht so bange! Sie werden uns ja nicht erwischen. Müde bin ich, geh zur Ruh - - ",, Pscht! ",, Was gibt's Huck? ",, Das sind ja Menschen! Einer wenigstens! Die eine Stimme gehört dem alten Muff Potter! ",, Ist das gewiß? ",, Wenn ich dir's doch sage! Nur ganz still! Er wird uns schwerlich bemerken! Besoffen, wie gewöhnlich - - erbärmlicher, alter Trunkenbold! ",, ' s ist schon gut, ich bin ja ganz still! - - Jetzt bleiben sie stehen - - sie können's nicht finden - - jetzt kommen sie wieder näher - - heiß - - kalt - - wieder heiß - - riesig heiß! Da - - da sind sie jetzt ganz in der Nähe! - - Du, Huck, ich kenne die zweite Stimme - - ' s ist die von Indianer - Joe. ",, ' s ist richtig! Diese mörderische Bestie! Ich wollt ' fast lieber, es wären Teufel! Was sie wohl vorhaben? " Mit dem Tuscheln war's jetzt aus; die drei waren beim Grab angelangt und standen kaum ein paar Fuß vom Versteck der beiden Abenteurer.,, Hier ist es, " sagte die dritte Stimme, worauf einer der anderen die Laterne in die Höhe hielt - - sie beleuchtete des jungen Dr. Robinson Gesicht. Potter und Indianer - Joe hatten einen Schubkarren mit einem Strick und ein paar Schaufeln mitgebracht. Sie setzten ihre Last nieder und begannen, das Grab zu öffnen. Der Doktor setzte die Laterne auf das Kopfende des Grabes und setzte sich mit dem Rücken gegen eine der Ulmen nieder. Er war so nahe, daß die beiden Burschen ihn hätten berühren können.,, Hurtig, Leute, " sagte er leise.,, Der Mond wird gleich herauskommen! " Sie grunzten was als Antwort und gruben weiter. Einige Zeit war nichts zu hören als der dumpfe Ton der Schaufeln, die ihre Ladung von Erde und Steinen abluden. Es klang sehr eintönig. Endlich stieß eine Schaufel krachend auf den Sargdeckel - - zwei Minuten später hatten die Männer den Sarg herausgeschoben und niedergesetzt. Darauf brachen sie mit ihren Schaufeln den Deckel auf, zogen die Leiche heraus und warfen sie brutal auf die Erde. Der Mond trat in diesem Augenblick hinter den Wolken hervor und beleuchtete grell die scheußliche Szene. Der Schubkarren wurde herbeigeholt, der Körper daraufgelegt, mit einer Decke eingehüllt und mit Stricken festgebunden. Potter zog ein großes Messer hervor, schnitt das überhängende Stück des Strickes ab und sagte:,, So, das wär getan, Beinsäger, jetzt noch ' nen Fünfer ' raus, oder das da bleibt stehen. ",, ' s ist ganz richtig, " stimmte der Indianer - Joe bei.,, Seht mal! Was soll das heißen? " fragte der Doktor.,, Ihr habt euer Geld im voraus verlangt, und ich hab's euch gegeben. ",, Ja - - und ' s ist das letzte Mal gewesen, " schrie der Indianer - Joe, sich dem Doktor nähernd, der rasch aufgestanden war.,, Vor fünf Jahren hast du mich vom Hause deines Vaters bei Nacht und Nebel vertrieben, als ich um was zu essen bat, und hast gesagt, ich hätt ' wohl was anderes vorgehabt; und als ich schwor, wir würden noch mit ' nander abrechnen, und wär's erst in hundert Jahren, hat mich dein Vater als Landstreicher eingesperrt. Dachtest du, ich hätt's vergessen? Ich hab ' nicht umsonst Indianerblut! Und jetzt will ich's dir geben, und du wirst zum stillen Mann gemacht! " Bis jetzt hatte er dem Doktor mit der Faust unter der Nase herumgefuchtelt. Plötzlich holte dieser aus und streckte den Raufbold zu Boden. Potter warf sein Messer zu Boden, und mit den Worten:,, Halt einmal, du sollst meinen Freund nicht hauen! " stürzte er sich auf den Doktor, und im nächsten Augenblick lagen beide wütend ringend, und Gras und Erde mit den Füßen zerstampfend, auf dem Grab. Der Indianer - Joe war gleich wieder auf den Beinen, seine Augen glühten unheimlich, er ergriff Potters Messer und umkreiste katzengleich die Kämpfenden, auf eine Gelegenheit lauernd. Aber auf einmal gelang es dem Doktor, sich freizumachen, er ergriff den schweren Sargdeckel und schlug Potter damit zu Boden - - ebenso rasch hatte Joe seinen Vorteil wahrgenommen und stieß das Messer bis ans Heft in des jungen Mannes Brust. Der Doktor stieß einen Schrei aus und fiel auf Potter, ihn mit seinem Blute färbend; und im selben Moment verhüllten die Wolken das schreckliche Schauspiel, während die beiden zu Tode erschrockenen Burschen Hals über Kopf in der Dunkelheit verschwanden. Sobald der Mond wieder hervorkam, stand Joe über den beiden regungslos Liegenden und betrachtete sie. Der Doktor murmelte etwas Unverständliches, tat einen langen Seufzer - - und war still.,, Beim Satan - - der Stich sitzt, " brummte Joe und begann die Leiche zu berauben, worauf er das verräterische Messer in Potters offene Hand steckte und sich auf den geöffneten Sarg setzte. Drei - - vier - - fünf Minuten verflossen, und dann begann Potter sich zu bewegen und zu stöhnen. Seine Hand schloß sich um das Messer, er hob es auf, blickte darauf und ließ es schaudernd fallen. Dann richtete er sich auf, schob die Leiche von sich und starrte verwirrt um sich. Joe anzusehen, vermied er.,, Herr Gott, Joe, wie war das? " sagte er mit zitternder Stimme.,, ' s ist ' ne faule Geschichte, " entgegnete Joe grob.,, Wozu tatst du's? ",, Ich! Ich hab's nicht getan! ",, Sieh mal! Na - - mit solchem Geschwätz kommst du nicht los! " Potter zitterte und wurde aschfahl.,, Ich hatte mir doch vorgenommen, nüchtern zu bleiben! Warum mußte ich auch nachts trinken. - - Hab's ja noch im Kopf - - mehr, als wie wir kamen. - - Immer betrunken - - völlig - - auf gar nichts kann ich mich besinnen! Sag, Joe, ehrlich, alter Bursche - - hab ich's getan?! Ich wollt's nicht tun - - auf Ehr und Seligkeit, Joe, ich wollt's nicht tun! O, ' s ist schrecklich - - und er war so jung und hoffnungsvoll - - ",, Na, ihr habt halt gerauft, und er gab dir eins rüber mit dem Sargdeckel, und du fielst hin. - - Und dann kamst du wieder auf, wanktest und konntest dich kaum auf den Füßen halten, hobst das Messer auf - - na, und stießest es ihm in den Leib, grad, wie er dir noch ' nen tüchtigen Schlag geben wollte, und dann hast du hier wie ' n toter Klotz gelegen bis jetzt. ",, O - - ich wußte ja nicht mehr, was ich tat. ' s kam wohl alles vom Branntwein und von der Wut - - schätz ' ich. Ich hab ' nie vorher in meinem Leben so was getan, Joe! ' s können's mir alle bezeugen. Geprügelt - - ja, aber gestochen niemals, Joe. Joe, sag's niemand! Sag mir, Joe, daß du's niemand sagen willst! Sei ' n guter Bursche! Joe! Ich hab ' dich immer gern gehabt, Joe, und hab ' deine Partei genommen. Weißt du nicht, Joe? Joe, du sagst es nicht, Joe, nicht?! " Und der arme Kerl fiel auf die Knie vor den kaltherzigen Mörder und hob beschwörend die Hände.,, Na, du bist immer treu und brav zu mir gewesen, Muff Potter, und ich werd ' dich nicht verraten. - - Das ist doch wie ' n Kerl gesprochen, he? ",, O, Joe, ja, du bist ein Engel, Joe. Ich will dich segnen, so lang ich leb '! " Und Potter begann zu weinen.,, Na, komm, ' s ist jetzt genug davon. ' s ist ' ne verdammt schlechte Zeit zum Heulen. Mach, daß du in der Richtung fortkommst, und ich will hierhin gehen. Vorwärts, mach fort - - und laß nichts liegen, zum Teufel! " Potter setzte sich in Trab, woraus bald regelrechter Galopp wurde. Joe schaute ihm nach, brummend:,, Wenn er so betäubt von dem Prügeln und voll von Schnaps ist, wie er aussieht, so wird er an das Messer erst denken, wenn er so weit fort ist, daß er's nicht wagt, an so ' nen Ort zurückzukommen - - Hasenfuß! " Zwei oder drei Minuten später sah nur noch der Mond den Ermordeten, den eingebundenen Körper des Toten, den aufgebrochenen Sarg und das leere Grab. Tiefe Stille herrschte wieder wie vorher. Zehntes Kapitel. Die beiden Burschen liefen dem Dorfe zu, sprachlos vor Schreck. Von Zeit zu Zeit blickten sie ängstlich über die Schulter zurück, als fürchteten sie sich vor Verfolgern. Jeder Baumstumpf, der an ihrem Wege aus der Dunkelheit auftauchte, schien ihnen ein Mann und ein Feind, und ließ sie bis ins Mark erzittern. Und als sie bei einigen außerhalb des Dorfes gelegenen Niederlassungen vorbeikamen, schien ihnen das Bellen der erwachten Hunde Flügel zu verleihen.,, Wenn wir - - nur bis zu der alten Gerberei - - kommen - - bevor wir - - zusammenbrechen - - " stieß Tom abgerissen zwischen mühsamem Atemholen hervor.,, Ich - - ich kann - - nicht mehr - - länger! " Huckleberrys pochendes Herz war seine ganze Antwort; beide hefteten ihre Augen fest auf das Ziel ihrer Hoffnung und machten die äußersten Anstrengungen, es zu erreichen. Sie kamen ihm immer näher, und schließlich Brust an Brust, fielen sie förmlich durch die offene Tür - - dankbar und atemlos, in den schützenden Schatten. Allmählich beruhigten sich ihre Pulse, und Tom flüsterte:,, Du, Huckleberry, was meinst du, wird von all dem kommen? ",, Na, ich denke, wenn Dr. Robinson stirbt, wird Gehenktwerden davon kommen. ",, Meinst du? ",, Nicht meine, ich weiß, Tom! " Tom dachte ' ne Weile nach, dann sagte er:,, Wer wird's denn verraten? Wir? ",, Was fällt dir ein? Angenommen, ' s käm ' was dazwischen und Indianer - Joe müßt nicht hängen, wird er uns früher oder später so gewiß töten, daß wir grad so gut schon jetzt hier liegen könnten! ",, Huck, das hab ' ich mir auch gedacht. ",, Wenn's jemand sagen soll, mag's doch Muff Potter tun, wenn er dumm genug ist. Der ist ohnehin immer betrunken genug! " Tom sagte nichts - - er brütete über etwas. Plötzlich wisperte er:,, Huck, Muff Potter weiß es nicht. Wie kann er's sagen? ",, Warum sollt er's nicht wissen? ",, Weil er grad den ekligen Klaps bekommen hatte, als es Joe tat. Meinst du, da hätt ' er's sehen können? Meinst du wirklich, er könnt's wissen? ",, Beim Henker, ' s ist so, Tom! ",, Und dann - - weißt du - - sollt ' ihm nicht der Hieb den Rest gegeben haben? ",, Kaum glaublich, Tom! Er hatte Schnaps in sich. Ich konnt's sehen; übrigens hat er das immer. Wenn mein Alter voll ist, kannst du ihn nehmen und ihn mit ' nem Kirchturm überhauen - - er spürt's nicht. Er sagt's auch selbst. Grad so ist's heut mit Muff Potter. Aber wenn einer klar im Kopf ist, schätz ' ich, daß so ' n Klaps genug für ihn sein möchte. " Nach abermaligem nachdenklichem Schweigen fuhr Tom abermals fort:,, Huck, bist du sicher, daß du den Mund halten kannst? ",, Tom, wir müssen den Mund halten! Du weißt doch! Dieser Indianer - Teufel würde nicht mehr Umstände machen, uns abzuschneiden, wie mit ' nen paar Katzen, wenn wir so dumm wären, zu plappern, und sie henkten ihn nicht. Nun, Tom, komm mal her, laß uns einander schwören - - das müssen wir, Tom! - - schwören, den Mund zu halten! ",, Mir recht, Huck. ' s wird wohl das beste sein. Wollen wir also die Hand hochhalten und schwören, daß wir - - ",, Halt mal, so geht's nicht! Das ist gut genug für kleine, alltägliche Dinge, zum Beispiel bei Mädchen, wenn die einem überall nachlaufen, und wenn sie - - hm - - wenn man sich verrannt hat, mein ' ich - - aber so was geht bei so ' ner häßlichen Geschichte nicht - - da muß was Schriftliches sein - - und Blut! " Tom stimmte von ganzem Herzen zu. Die Idee war tief - - und dunkel - - und schrecklich; die Stunde, die Umstände, die Umgebung - - alles wirkte zusammen. Er nahm eine glänzend geschliffene Schindel auf, die im Mondlicht lag, zog ein Stückchen Rotstift aus der Tasche, ließ das Mondlicht sein Werk bescheinen, und kritzelte mühsam, jeden schwerfälligen Grundstrich hervorhebend, indem er die Zunge zwischen die Zähne klemmte und sie bei den Haarstrichen wieder freiließ, folgende Zeilen:,, Huck Finn und Tom Sawyer schwöhren, Sie wolen über dies den Mund Halten und sie wünschen, dahs Sie Tot niederfallen auff ihren Wech, wenn sie jemalls plautern oter schreiben. " Huckleberry war ganz erfüllt von Toms Fähigkeit im Schreiben und seinem glanzvollen Stil. Er war im Begriff, mit einem Nagel sich das Fleisch zu ritzen, als Tom einfiel:,, Halt, nicht so. Nagel ist Eisen. Der könnte Grünspan haben. ",, Grünspan - - was ist das? ",, ' s ist Gift, das ist es! Du würdest sofort davon aufgeschwellt werden - - sollst du sehen! " Darauf nahm Tom eine Nadel, und beide ritzten sich den Ballen des Daumens und drückten einen Blutstropfen heraus. Schließlich, nach vielem Quetschen machte sich Tom daran, seine Anfangsbuchstaben zu malen, indem er den kleinen Finger als Feder benutzte. Dann zeigte er Huckleberry, wie er ein H und ein F zu machen habe - - und dann war der Eid bekräftigt. Sie vergruben die Schindel, häuften unter allerhand Zeremonien und Zauberformeln einen Hügel darüber, und die ihre Zungen bindenden Fesseln waren geschmiedet und der Schlüssel dazu lag in der Erde. Eine menschliche Figur schlüpfte vorsichtig durch eine Lücke am anderen Ende des verfallenen Gebäudes, aber sie merkten es nicht.,, Tom, " wisperte Huckleberry,,, sichert uns das davor, zu schwatzen - - für immer? ",, Aber, natürlich tut's das! Mag jetzt geschehen, was will - - wir müssen schweigen. Wir wollen tot niederfallen - - weißt du's denn nicht? ",, Ja, ich rechne, ' s ist an dem. " Sie tuschelten noch ' ne Weile fort. Plötzlich schlug ein Hund mit langem, kläglichem Ton an, gerade jenseits der Stelle der Mauer, wo sie saßen - - keine zehn Schritt davon. Die Burschen packten einander unwillkürlich in versteinerndem Schreck.,, Wen von uns mag er meinen? " flüsterte Huckleberry.,, Ich weiß nicht - - schau durch die Ritze - - schnell! ",, Nein, tu du's, Tom! ",, Ich kann's - - kann's nicht! ",, Bitte, Tom! - - Da ist's wieder! ",, Ach, Gott sei Dank, " wisperte Tom,,, ich kenne seine Stimme, ' s ist Bull Harbison. ",, Ach, das ist mal gut! Ich sag dir, Tom, ich war wirklich zu Tod erschrocken! Meinte wahrhaftig, ' s wär ' n fremder Hund. " Der Hund heulte wieder. Die Herzen der Burschen sanken wieder in die Hosen.,, Ach, verflucht, das ist nicht Bull Harbison! " flüsterte Huckleberry weinerlich. Tom, zitternd vor Furcht, rappelte sich auf und legte das Auge an die Lücke. Der Ton seiner Stimme war erbarmungswürdig, als er jetzt flüsterte:,, O, Huck, ' s ist ein fremder Hund - -! ",, Schnell, Tom, schnell, wen von uns meint er? ",, Huck, er muß uns beide meinen! - - Wir stehen dicht beieinander. ",, O, Tom, ich fürchte - - wir sind futsch! Ich rechne, wohin ich komme, darüber kann kein Zweifel sein. Ich bin so schlecht, Tom! ",, Der Teufel hol's! Das kommt davon, wenn man Blindekuh spielt und alles tut, wovon der Lehrer sagt, daß man's nicht tun soll! Ich wollt ', ich wär so artig gewesen wie Sid - - wenn ich's gekonnt hätte. Aber nein, ich mocht's nicht sein! Aber wenn ich hier fortkomm ', ich sag ' dir, ich werd ' immer in die Sonntagsschule gehen. " Und Tom begann ein bißchen zu heulen.,, Du schlecht? " Und Huckleberry heulte zur Gesellschaft mit.,, Ich sag's dir, Tom, du bist einfach Gold gegen mich! O, Gott, Gott, Gott - - ich wollte, ich wäre nur halb so gut wie du! " Tom fuhr zusammen und flüsterte:,, Schau, Hucky, schau nur! Er wendet uns ja den Rücken zu! " Hucky schaute hinaus, und Freude erfüllte sein Herz.,, Teufel, ' s ist so! Tat er's vorher auch schon? ",, Ja, er tat's, aber ich Dummkopf dachte nicht daran. Na, das ist mal famos. Aber - - wen kann er nur meinen? " Das Heulen hörte auf. Tom spitzte die Ohren.,, Pscht - - was ist das? ",, ' s klingt wie - - wie Schweinegrunzen. Oder, Tom - - doch nicht, ' s schnarcht jemand. ",, Ist's das? Wo aber, Hucky? ",, Ich glaub ' dort, am anderen Ende. ' s klingt wenigstens so. Pop pflegt zuweilen da zu schlafen - - mit den Schweinen, aber, Gott segne dich, er macht alles zittern, wenn er schnarcht. Und dann, ich rechne, hierher kommt er nicht zurück! " Die Abenteuerlust begann sich in den Seelen der beiden Burschen zu regen.,, Hucky, gehst du mir nach, wenn ich vorangehe? ",, Sehr gern nicht, Tom! Denk, ' s könnt Joe sein! " Tom zauderte. Aber sofort regte sich wieder die Versuchung, und sie beschlossen, den Versuch zu wagen, unter dem Vorbehalt, daß sie fliehen dürften, sobald das Schnarchen aufhören würde. So gingen sie auf den Fußspitzen weiter, einer hinter dem anderen. Als sie nur noch fünf Schritt von dem Schnarchenden entfernt waren, trat Tom auf einen Zweig, der mit lautem Knacken brach. Der Mann grunzte, wälzte sich ein bißchen herum, das Mondlicht fiel, auf sein Gesicht - - es war Muff Potter. Die Herzen der Burschen hatten still gestanden - - wie ihre Leiber, als sich der Mann rührte, aber jetzt war ihre Furcht vergangen. Sie schlichen zurück, schlüpften durch die geborstene Mauer und blieben in einiger Entfernung stehen, um sich zu verabschieden, Das lange unheimliche Geheul erhob sich wieder und klang durch die Nachtluft. Sie wandten sich um und sahen den fremden Hund wenige Schritt von der Stelle entfernt, wo Muff Potter lag, mit dem Kopf diesem zugewandt, die Schnauze zum Himmel gerichtet.,, Herrje, den meint er! " riefen beide in einem Atem.,, Sag, Tom, sie sagen, ein scheußlicher Köter soll um Johnny Millers Haus herumgeheult haben - - vor mehr als zwei Wochen. Und dann hat sich auch ' ne Eule auf das Dach gesetzt und da geheult, am selben Abend. Und da ist doch bis heute noch keiner gestorben! ",, Ja, ich weiß. Und ich mein ', das beweist nichts. Fiel nicht am nächsten Samstag Gracie Miller auf den Küchenherd und verbrannte sich schrecklich? ",, Ja - - aber sie ist doch nicht gestorben. Noch mehr, sie ist bald wieder ganz gesund. ",, Schon recht, wart ' nur und red ' dann! Sie ist futsch, so gewiß als Muff Potter dort futsch ist! Die Neger sagen's, und die wissen so was ganz genau, Hucky. " Damit gingen sie nachdenklich auseinander. Als Tom in sein Schlafzimmerfenster schlüpfte, war die Nacht schon vorbei. Er entkleidete sich mit äußerster Vorsicht und schlief ein, sich beglückwünschend, daß niemand etwas von seinem Streifzug gemerkt habe. Er hatte nicht gesehen, daß der brave, schnarchende Sid wach war - - seit einer Stunde. Als Tom aufwachte, war Sid bereits angezogen und fort. Das Licht draußen erschien Tom so spät wie auch die Luft. Er stutzte. Warum hat man ihn nicht gerufen - - da er doch um diese Zeit stets schon auf war? Der Gedanke fiel ihm schwer aufs Herz. In fünf Minuten war er angekleidet und die Treppe hinunter, übel gelaunt und schläfrig. Die Familie saß noch um den Tisch, hatte aber bereits gefrühstückt. Kein Tadel, aber abgewandte Gesichter. Tiefes Stillschweigen und ein Hauch von Trauer; schwer lasteten sie auf des Sünders Haupt. Er setzte sich und tat ganz lustig, aber es war sehr schwer. Er bekam kein Lächeln, keine Antwort und versank in Stillschweigen, und sein Herz versank in die tiefste Tiefe. Nach dem Frühstück nahm ihn seine Tante auf die Seite, und Tom atmete ordentlich auf, in der Hoffnung, daß er jetzt werde geprügelt werden; aber es sollte anders kommen. Seine Tante vergoß Tränen über ihn und fragte ihn, wie er hingehen und ihr armes Herz brechen könne. Und schließlich sagte sie, er solle nur sich selbst ruinieren und ihre grauen Haare mit Kummer in die Grube fahren lassen, denn sie habe den Mut in bezug auf ihn nun verloren. Dies war schlimmer als tausend Prügel, und Toms Herz wurde noch schwerer, als es heute morgen gewesen. Er heulte, er bat um Verzeihung, versprach Besserung wieder und immer wieder, und er erhielt schließlich seine Entlassung mit dem Gefühl, nur halbe Verzeihung und schwaches Vertrauen gefunden zu haben. Er empfand die Gegenwart gar zu trübselig, um ein Rachegefühl gegen Sid aufkommen zu lassen. So war des letzteren eiliger Rückzug durch die Hintertür überflüssig. Er schlich in düsterster Gemütsverfassung zur Schule und empfing dort seine Prügel wegen des Schwänzens mit Joe Harper am vorigen Tage mit der Miene eines, dessen Herz von schweren Kümmernissen belastet und ganz unempfindlich für Kleinigkeiten ist. Dann verzog er sich auf seinen Platz, stützte die Ellbogen auf den Tisch und das Kinn auf die Hände und starrte auf die Wand mit dem starren Gesichtsausdruck des Leidens, das den höchsten Punkt erreicht hat und nun nicht mehr gesteigert werden kann. Sein Ellbogen drückte auf einen harten Gegenstand. Nach langer Zeit änderte er schläfrig und gleichgültig seine Stellung und nahm den Gegenstand in Augenschein. Er war in Papier gewickelt. Er rollte das Papier auf. Ein langer, starrer, verschleierter Blick - - und sein Herz brach! Es war der wundervolle abgebrochene Knopf von gestern! Dieser letzte Tropfen machte das Gefäß überlaufen. Elftes Kapitel. Kurz nach neun Uhr wurde das ganze Dorf durch die schreckliche Neuigkeit alarmiert. Obwohl sich damals noch niemand etwas von einem Telegraphen träumen ließ, flog die Nachricht doch von Mund zu Mund, von Haus zu Haus, mit fast telegraphischer Eile. Natürlich gab der Schullehrer für nachmittags frei. Man hätt's ihm sehr übel genommen, hätte er's nicht getan. Ein blutiges Messer war bei der Leiche gefunden und durch ein paar Leute als das des Muff Potter rekognosziert worden - - so hieß es. Und man sagte ferner, ein verspäteter Bürger habe Muff Potter in der Gegend des Verbrechens um ein oder zwei Uhr getroffen, wie er sich in einem Wassergraben wusch, und Muff Potter sei plötzlich ausgerissen - - alles verdächtige Umstände, besonders das Waschen, was sonst gar nicht zu Potters Gewohnheiten gehörte. Man sagte auch, der Ort sei nach dem,, Mörder " durchsucht (das Volk ist nicht träge, belastende Momente zu suchen und zu einem Urteilsspruch zu gelangen), daß er aber nicht gefunden worden sei. Reiter waren nach allen Himmelsrichtungen ausgesandt, und der Sheriff hatte die beste Hoffnung, man werde ihn (nicht den Sheriff!) noch vor der Nacht erwischt haben. Der ganze Ort war unterwegs nach dem Kirchhof. Toms Herzeleid schwand, und er schloß sich der Prozession an, nicht weil er nicht tausendmal lieber anderswohin gegangen wäre, als vielmehr unter dem Zwang eines schrecklichen, unerklärlichen Antriebs. An dem gräßlichen Schauplatz angelangt, zwängte er seinen kleinen Körper durch die Menge und genoß den ganzen traurigen Anblick. Es schien ihm eine Ewigkeit, seit er hier gewesen. Jemand packte seinen Arm. Er fuhr herum, und sein Blick traf auf Huckleberry. Dann sahen beide wie auf Verabredung seitwärts und fürchteten, es möge ihnen jemand das Einverständnis vom Gesicht lesen können. Aber alles schwatzte durcheinander und achtete nur auf den schrecklichen Anblick vor sich.,, Armer Bursche! ",, Armer, junger Bursche! ",, Eine Lehre für Leichenräuber! ",, Muff Potter muß hängen für das da, wenn man ihn erwischt! " Das waren so die Bemerkungen, die fielen, und der Geistliche sagte:,, Es war ein Gericht. Seine Hand ist hier sichtbar! " In diesem Augenblick erschauerte Tom von Kopf bis zu Fuß, denn seine Augen fielen auf des Indianer - Joes gleichgültiges Gesicht. Die Menge begann zu flüstern und zu tuscheln.,, Er ist's, er ist's! Er kommt! ",, Wo, wo? " fragten zwanzig Stimmen.,, Muff Potter! Hallo, er steht still! Seht mal, er kommt hierher zurück! Laßt ihn nicht entwischen! " Leute, die in den Zweigen der Bäume über Tom saßen, sagten, er habe nicht den geringsten Versuch gemacht, zu entschlüpfen, er stand nur und schaute zweifelnd und wie erstarrt um sich.,, Teuflische Frechheit! " sagte einer der Umstehenden.,, Wagt's, zurückzukommen und sein Werk ganz ruhig zu betrachten! Hat wohl nicht gedacht, schon Gesellschaft hier zu finden! " Die Menge teilte sich jetzt, und der Sheriff kam ostentativ hindurchgeschritten, Potter am Arm führend. Des armen Burschen Gesicht sah blaß aus, und aus seinen Augen sprach die Furcht, die ihn beherrschte. Als er vor dem Ermordeten stand, zuckte er wie unter einem Hieb zusammen, verbarg das Gesicht in den Händen und brach in Tränen aus.,, Ich hab's nicht getan, Freunde. " schluchzte er.,, Auf Ehr ' und Seligkeit, ich tat's nicht! ",, Wer hat dich denn angeklagt? " schrie eine Stimme. Dieser Hieb saß. Potter nahm die Hände vom Gesicht und schaute in sichtbarster Hilflosigkeit um sich. Er sah Joe und rief aus:,, O, Joe, du versprachst mir, niemals - - ",, Ist das Euer Messer? " Und es wurde vom Sheriff vorgehalten. Potter wäre umgefallen, wenn man ihn nicht aufgefangen und ihn auf die Erde niedergelassen hätte. Dann sagte er:,, Dacht ' ich mir's doch, wenn ich nicht zurückkäme und - - ", er schauderte. Dann erhob er seine kraftlose Hand mit müder Gebärde und flüsterte:,, Sag's ihnen, Joe, sag's ihnen - - ' s ist nichts mehr zu machen. " Dann standen Huckleberry und Tom stumm und starr und hörten den kaltherzigen Lügner ganz gemütlich Bericht erstatten; sie erwarteten jeden Augenblick, Gottes Blitzstrahl werde ihn treffen, und wunderten sich, ihn solange unberührt stehen zu sehen. Und nachdem er geendet hatte und gesund und heil blieb, dachten sie nicht mehr daran, ihren Eid zu brechen und des armen Gefangenen Leben zu retten, denn es war zweifellos, daß Joe sich dem Satan verschrieben hatte, und es wäre wohl gefährlich gewesen, sich mit einer solchen Macht einzulassen.,, Warum liefst du nicht davon? Warum, zum Teufel, kamst du hierher zurück? ",, Konnt ' nicht anders - - ich konnt ' nicht anders, " stöhnte Potter.,, Ich wollt ' wohl fortlaufen, aber ich konnt ' nirgends hinkommen als hierher! " Und er fing wieder an zu schluchzen. Joe wiederholte seinen Bericht, ebenso ruhig, ein paar Minuten später und beschwor ihn auf Verlangen, und die Burschen, die den Lichtstrahl immer noch nicht hervorbrechen sahen, wurden dadurch in ihrem Glauben, daß er einen Pakt mit dem Teufel geschlossen habe, noch mehr bestärkt. Er war mit einem Schlage für sie der Gegenstand des unheimlichsten Interesses geworden, wie nichts anderes, und sie konnten die bezauberten Blicke nicht von ihm wenden. Sie beschlossen innerlich, ihn nachts, wenn sich einmal die Gelegenheit böte, zu belauern, in der Hoffnung, seines schrecklichen Herrn und Meisters ansichtig zu werden. Joe half den Körper des Ermordeten aufheben und auf einen Karren laden, um ihn fortzuschaffen. Und es ging ein Flüstern durch das schaudernde Volk, daß die Wunde ein wenig zu bluten anfinge! Die Knaben hofften, dieser glückliche Umstand werde den Verdacht in die wahre Richtung lenken. Aber sie waren enttäuscht, als mehrere der Leute sagten:,, Er war nur drei Schritt von Muff Potter entfernt, als es geschah. " Toms schreckliches Geheimnis, seine furchtbare Mitwisserschaft störte seinen Schlaf während mehr als einer Woche; und eines Morgens beim Frühstück sagte Sid:,, Tom, du wirfst dich im Schlaf herum und sprichst so viel, daß du mich die halbe Nacht wach erhältst. " Tom erbleichte und senkte die Augen.,, ' s ist ein böses Zeichen, " sagte Tante Polly mit Nachdruck.,, Was hast du auf dem Herzen, Tom? ",, Nichts - - nichts - - ich weiß nicht. " Aber seine Hand zitterte so, daß er seinen Kaffee verschüttete.,, Und du schwatzt solchen Unsinn, " fuhr Sid fort.,, In der letzten Nacht sagtest du:, ' s ist Blut, ' s ist Blut, nichts als Blut. ' Du sagtest das immer wieder. Und dann sagtest du:, Ängstigt mich nicht - - ich will alles sagen. ' Sagen - - was? Was willst du sagen? " Tom schwamm alles vor den Augen. Es ist nicht zu sagen, was geschehen sein würde, wenn nicht plötzlich die Spannung aus Tante Pollys Gesicht gewichen wäre und sie Tom, ohne es zu wissen, zu Hilfe gekommen wäre. Sie sagte:,, Kann mir's denken! Der schreckliche Mord ist's. Ich selbst träume jede Nacht davon. Manchmal träum ' ich, ich selbst hätt's getan. " Mary sagte, sie wäre gerade so angegriffen davon. Sid schien befriedigt. Tom ging aus der Affäre so beruhigt hervor, als es nur immer möglich war, simulierte während einer Woche Zahnschmerzen und band sich jede Nacht die Backen fest zu. Er wußte nicht, daß Sid wachte und des öfteren die Bandage lockerte und dann, auf den Ellbogen gestützt, eine gute Weile lauerte, dann wieder alles in Ordnung brachte und sich hinlegte. Toms Gemütsverstimmung wich nach und nach, und die Zahnschmerzen begannen ihm lästig zu werden und wurden ganz abgeschafft. Wenn es Sid gelungen war, etwas von Toms unbewußtem Murmeln aufzufangen, so behielt er es jedenfalls für sich. Tom schien es, als könnten seine Schulkameraden nicht oft genug Totenschau über Katzen halten und dadurch seine Erinnerung immer wieder auffrischen. Sid fiel auf, daß Tom niemals den Beschauer spielen wollte, obwohl er sonst doch gewöhnt war, bei allem den Führer abzugeben; er merkte auch, daß Tom sich nie unter den Zeugen befand - - und das war auffallend. Schließlich entging Sid durchaus nicht die entschiedene Abneigung Toms gegen diese ganze Spielerei, und seine Bemühungen, ihr aus dem Wege zu gehen. Sid grübelte darüber, sagte aber nichts. Indessen, schließlich schwand alle Unruhe und hörte auf, Toms Geist zu quälen. Jeden Tag oder doch jeden zweiten in dieser traurigen Zeit passte Tom auf eine Gelegenheit, um zu dem kleinen Gitterfenster zu laufen und allerhand kleine Annehmlichkeiten für den,, Mörder " hineinzuschmuggeln. Das Gefängnis war ein trübseliges, kleines, halbverfallenes Loch und stand in einem Sumpfe außerhalb des Dorfes. Wärter waren nicht aufgestellt, denn es hatte selten Gäste zu beherbergen. Diese Geschenke halfen sehr dazu, Toms Gemüt aufzuheitern. Die Dörfler hatten nicht übel Lust, Joe beim Kragen zu nehmen und ihm wegen der Leichenberaubung den Prozeß zu machen, aber so furchtbar war sein Ruf, daß niemand sich fand, der Lust gehabt hätte, die Sache zu übernehmen. So wurde sie denn unterlassen. Vorsichtigerweise hatte Joe bei seinen Geständnissen jedesmal gleich mit der Rauferei begonnen, ohne über die vorhergegangene Leichenberaubung ein Wort zu verlieren. Daher schien es das weiseste, wenigstens vorläufig die Angelegenheit nicht vor Gericht zu ziehen. Zwölftes Kapitel. Einer der Gründe, die Toms Geist von seiner geheimen Erregung abgezogen hatten, war, daß er einen neuen und wichtigen Gegenstand des Interesses fand. Becky Thatcher hatte aufgehört, zur Schule zu kommen. Tom hatte mehrere Tage mit seinem Stolze gekämpft und versucht, sie,, unter den Wind zu bekommen, " aber vergeblich. Er ertappte sich dabei, wie er um ihres Vaters Haus herumstrich, nachts, und sich dabei sehr unglücklich fühlte. Sie war krank. Wie, wenn sie sterben mußte! In dem Gedanken war Verzweiflung. Er hatte kein Vergnügen mehr am Kriegspielen, nicht einmal mehr an seinem Piraten - Beruf. Der Glanz des Lebens war dahin, nichts als Finsternis war geblieben. Er ließ seinen Reifen liegen und seinen Bogen; er hatte keinen Spaß mehr daran. Seine Tante war beunruhigt. Sie fing an, allerhand Medizinen an ihm zu probieren. Sie gehörte zu den Leuten, die auf jede Medizin schwören und alle neu erfundenen Heilmethoden. Sie war unermüdlich in ihren Experimenten. Sobald sie von etwas Neuem in der Branche hörte, brannte sie darauf, es zu probieren; nicht an sich selbst, denn sie war nie leidend; aber am ersten besten, der ihr in die Hände fiel. Sie war Abonnentin sämtlicher,, Heil " - Zeitschriften und jedes gedruckten, wissenschaftlichen Betruges; den größten Unsinn, mit dem nötigen feierlichen Ernst vorgetragen, nahm sie wie ein Evangelium auf in ihrer Unwissenheit. Alle Abhandlungen über Ventilation, das Zubettgehen und Aufstehen, Essen und Trinken, über das Maß der nötigen Bewegung, die Gemütsverfassung, die Art der Kleidung, erschienen ihr einfach einwandfrei, und sie merkte gar nicht, daß die Gesundheits - Journale des laufenden Monats gewöhnlich all das widerriefen, was sie im Monat vorher empfohlen hatten. Sie war einfachen Herzens und so ehrenhaft, wie der Tag lang ist, und so war sie ein leichtes Opfer. Sie sammelte ihre prahlerischen Zeitschriften mit den Quacksalber - Medizinen, und so gewaffnet, ritt sie, den Tod hinter sich, auf ihrem fahlen Pferd,,, die Hölle hinter sich, " um eine Metapher zu brauchen. Aber sie argwöhnte niemals, daß sie nicht ein Engel der Genesung und der Balsam des Herrn in Person für die leidende Nachbarschaft sei. Die Wasserbehandlung war neu und Toms übles Befinden kam ihr wie gerufen. Jeden Morgen in aller Frühe wurde er herausgeholt, in einen Holzschuppen geschleppt und mit einer Sintflut kalten Wassers überschüttet. Dann rieb sie ihn trocken mit einem Handtuche, gleich einer Feile, und er wurde zurücktransportiert. Darauf wurde er in ein nasses Tuch gerollt und wieder unter seine Bettdecke gestopft, bis er schwitzte, wie eine Seele im Fegfeuer, und,, ihre Schmutzflecken drangen durch alle Poren heraus, " wie Tom sagte. Indessen, alledem zum Trotz, wurde der Junge immer melancholischer, niedergeschlagener und gleichgültiger. Sie fügte heiße Bäder, Sitzbäder, Gießbäder und Sturzbäder hinzu. Der Junge blieb leblos wie eine Leiche. Sie begann das Wasser mit Blasen ziehenden Haferschleimpflastern zu versetzen. Sie überlegte seine Aufnahmefähigkeit und füllte ihn wie einen Krug täglich mit allen möglichen quacksalberischen Mittelchen an. Tom war allmählich gegen all diese Verfolgungen gleichgültig geworden. Dieser Zustand erfüllte der alten Dame Herz mit Entsetzen. Diese Gleichgültigkeit mußte um jeden Preis gebrochen werden. Zu dieser Zeit gerade vernahm sie vom,, Schmerzentöter ". Sie ordnete sofort täglich ein Lot an. Sie versuchte es selbst und war sehr befriedigt davon. Es war wie Feuer in flüssiger Form. Sie ließ die Wasserkur und alle anderen Methoden und beschränkte sich auf den Schmerzentöter. Sie gab Tom einen Teelöffel und wartete ängstlich auf die Wirkung. Ihre Unruhe war mit einem Schlage zu Ende, ihr Geist hatte wieder Frieden. Denn die,, Gleichgültigkeit " war gebrochen. Der Bursche hätte kein wilderes, mehr von Herzen kommendes,, Interesse " zeigen können, wenn sie ein Feuer unter ihm angezündet hätte. Tom fühlte, daß es Zeit war, aufzuwachen. Diese Lebensweise hätte ja ganz romantisch sein können, war aber nachgerade zu anstrengend und zu eintönig. So grübelte er über verschiedenen Plänen seiner Befreiung und verfiel schließlich darauf, sich als Freund des Schmerzentöters zu bekennen. Er verlangte so oft danach, daß er lästig wurde, und seine Tante ihm schließlich befahl, sich selbst zu helfen und sie in Ruhe zu lassen. Wäre es Sid gewesen, kein Schatten würde ihre Freude getrübt haben; da es aber Tom war, beobachtete sie die Flasche mit Aufmerksamkeit. Sie fand, daß die Medizin beständig weniger wurde, es fiel ihr aber nicht ein, daß der Junge eine Bodenritze im Speisezimmer damit anfüllte. Eines Tages war Tom wieder bei dieser Arbeit, als Tante Pollys gelbe Katze des Weges kam, schnurrend, den Teelöffel begehrlich betrachtete und um ein bißchen bettelte. Tom sagte zu ihr:,, Bitt nicht drum, wenn du's nicht brauchst, Peter! " Aber Peter gab zu verstehen, er habe es nötig.,, Überleg's noch mal. " Peter blieb dabei.,, Na, du hast drum gebeten, und ich will's dir geben; aber wenn's dir nicht gefällt, darfst du niemand Vorwürfe machen als dir selbst. " Peter war einverstanden; so öffnete Tom seine Schnauze und goß den Schmerzenztöter hinein. Peter machte einen Riesensatz in die Luft, stieß ein Kriegsgeheul aus und fuhr immer rund im Kreise herum durchs Zimmer, gegen Möbel stoßend, Blumentöpfe umwerfend, kurz, lauter Verwirrung anrichtend. Dann erhob er sich auf die Hinterbeine und tanzte sinnlos vor Vergnügen herum, den Kopf über die Schultern zurückgeworfen, mit einer Stimme, aus der grenzenloses Behagen klang. Tante Polly kam gerade noch rechtzeitig herein, um sie mit einem letzten Hurra durchs Fenster fliegen zu sehen, mit ihr die Reste der Blumentöpfe. Die alte Dame stand starr vor Erstaunen, über ihre Brillengläser hinwegschauend. Tom lag auf der Erde und krümmte sich vor Lachen.,, Tom, was um des Himmels willen fehlt der Katze? ",, Ich weiß nicht, " stöhnte der Junge.,, So was hab ' ich doch noch nicht gesehen! Was kann sie haben? ",, In der Tat, ich weiß nicht, Tante. Katzen tun immer so, wenn sie vergnügt sind. ",, Tun sie - - wirklich? " Es war etwas in dem Ton, was Tom stutzen machte.,, Hm - - ja. Das heißt - - ich meine, sie tun's. ",, Du meinst? ",, Hm - - ja - - " Die alte Dame bückte sich, Tom wartete mit ängstlichem Interesse. Zu spät entdeckte er ihre List. Der Griff des Teelöffels war unter der Tischdecke sichtbar. Tante Polly zog ihn heraus und hielt ihn in die Höhe. Tom fuhr zusammen und senkte die Augen. Tante Polly hob ihn an dem gewöhnlichen Henkel - - seinem Ohr - - in die Höhe und klopfte ihm mit ihrem Fingerhut tüchtig auf den Kopf.,, Nun, sag ' mal, wozu mußt du das arme Tier so quälen? ",, Ich hab's ja aus Mitleid getan - - weil sie keine Tante hat. ",, Hat keine Tante! Hansnarr! Was hat das hier zu tun? ",, ' ne Menge. Denn hätt ' sie eine gehabt, so würd ' sie selbst ' s ihm gegeben haben! Sie hätt ' ihr die Gedärme rausgeröstet, ohne mehr zu fühlen, als wenn's ein Mensch gewesen wäre! " Tante Polly fühlte plötzlich Gewissensbisse. Das setzte die Sache in ein neues Licht. Was grausam war gegen eine Katze, mußte auch gegen einen kleinen Burschen grausam sein. Sie begann, zu seufzen, sie fühlte sich traurig. Ihre Augen wurden ein bißchen feucht, sie legte die Hand auf Toms Kopf und sagte freundlich:,, Ich hab's gut gemeint, Tom. Und Tom, es hat dir genützt! " Tom schaute zu ihr auf mit ein bißchen Schelmerei in seinem Ernst und sagte:,, Ich weiß wohl, Tante, daß du's gut meintest, und ich meinte es gut mit Peter. Es tat ihm auch gut! Ich hab ' ihn nie so lustig rumlaufen gesehen - - ",, Na, mach, daß du weiter kommst, Tom, ehe du mich wieder ärgerst. Und versuch doch mal ' n braver Junge zu sein, und du brauchst auch keine Medizin mehr zu nehmen. " Tom kam sehr frühzeitig zur Schule. Es war bekannt geworden, daß dieses sehr seltene Ereignis in letzter Zeit jeden Tag sich zugetragen hatte. Und dann, wie seit kurzem stets, lungerte er am Tor des Schulhofes, statt mit seinen Kameraden zu spielen. Er sagte, er wäre krank, und er sah auch so aus. Er stellte sich, als sähe er überall hin, wohin seine Blicke tatsächlich beständig gerichtet waren - - die Straße hinunter. Plötzlich kam Jeff Thatcher in Sicht und Toms Miene hellte sich aus. Er spähte einen Augenblick angestrengt und wandte sich dann betrübt ab. Als Jeff ankam, hielt ihn Tom an und suchte ihn geschickt über Becky auszuholen, aber der herzlose Jeff tat, als sähe er den Köder gar nicht. Tom wartete und wartete, hoffend, sobald ein wehender Rock in Sicht kam und die Inhaberin desselben verwünschend, sobald er sah, daß es nicht die Rechte war. Schließlich erschienen keine Röcke mehr, und er verfiel in hoffnungslosen Trübsinn. Dann auf einmal kam doch noch ein Rock durchs Tor herein, und Toms Herz tat einen mächtigen Sprung. Im nächsten Moment war er draußen und schoß drauf los wie ein Indianer, springend, lachend, Buben stoßend, mit Risiko von Leib und Leben über den Zaun setzend, Purzelbäume machend, auf dem Kopf stehend - - kurz, lauter heroische Dinge verrichtend und fortwährend hinüber schielend, ob Becky Thatcher ihn beobachtete. Aber sie schien von alledem gar nichts wahrzunehmen; sie schaute nicht hin. War es möglich, daß sie seine Anwesenheit wirklich nicht bemerkt hatte? Er betrieb seine Kunststücke in ihrer unmittelbaren Nähe; fuhr, ein Kriegsgeheul ausstoßend, um sie herum, schlug einem Jungen die Mütze herunter, schleuderte sie auf den Schulhof, brach durch eine Gruppe, sie nach allen Richtungen auseinandersprengend und fiel dabei selbst gerade Becky vor die Nase hin, sie fast umstoßend - - sie wandte sich ab, das Näschen rümpfend, und er hörte sie sagen:,, Pa! Einige Burschen kommen sich schon sehr wichtig vor - - immer müssen sie sich breit machen! " Tom wurde blutrot. Er rappelte sich auf und trollte davon, zermalmt und mutlos. Dreizehntes Kapitel. Tom zögerte nun nicht länger. Ihn erfüllte ein finsterer, verzweifelter Gedanke. Er wäre ein verlassener, freundloser Junge dachte er. Niemand liebte ihn. Wenn sie merken würden, wozu sie ihn getrieben, würden sie vielleicht betrübt sein. Er hatte versucht, das Rechte zu tun und brav zu werden, aber man ließ ihn nicht. Da man sich durchaus von ihm befreien wollte, mochte es so sein. Und man würde ihn für die Folgen verantwortlich machen - - warum auch nicht? Welches Recht haben Freundlose, sich zu beklagen? Ja, sie hatten ihn zum äußersten getrieben, er würde ein Leben voll Verbrechen führen; ' s gab keine Wahl. - - Inzwischen war er weit hinunter zu,, Meadow - Land " gekommen, und die Schulglocke tönte lockend an sein Ohr - - sie wollte ihn wohl zurückhalten. Er seufzte bei dem Gedanken, nie, nie wieder den alt - vertrauten Ton hören zu sollen - - es war sehr hart, aber mußte sein; da er in die kalte Welt hinausgetrieben war, mußte er sich unterwerfen - - aber er vergab ihnen! Dann kamen Tränen - - schwer und bitter. Gerade in diesem Augenblick begegnete ihm sein Herzensfreund Joe Harper - - mit trüben Augen und zweifellos einen großen, schrecklichen Entschluß im Herzen. Offenbar waren hier,, zwei Seelen und ein Gedanke. " Tom seine Augen mit dem Ärmel trocknend, begann etwas herauszustottern von einem Entschluß, aus grausamer und liebloser Behandlung zu fliehen, in die weite Welt zu gehen und nie wiederzukommen und schloß damit, daß er hoffe, Joe werde ihn nicht vergessen. Aber es zeigte sich, daß Joe im Begriff gewesen, an Tom das gleiche Verlangen zu stellen und ihn zu diesem Zweck gesucht hatte. Seine Mutter hatte ihn gezüchtigt, weil er Rahm getrunken haben sollte, den er nie gesehen, von dem er überhaupt gar nichts wußte; es war klar, sie mochte ihn nicht mehr und wollte nichts von ihm wissen, sie wollte ihn einfach los sein. Da sie es so wollte, war für ihn nichts zu tun, als nachzugeben. Er hoffte, sie würde glücklich sein und nie bereuen, daß sie ihren armen Jungen in die fühllose Welt hinausgetrieben hatte, zu leiden und zu sterben. Indem die beiden Burschen trübselig weiterschlichen, machten sie einen neuen Bund, einander beizustehen, Brüder zu sein und sich nie zu trennen, bis sie der Tod einst von ihren Kümmernissen erlösen werde. Dann begannen sie Pläne zu schmieden. Joe war dafür, Eremit zu werden, in einer elenden Hütte aus Stroh zu liegen und einmal vor Kälte, Mangel und Kummer zu sterben. Aber, nachdem er Tom angehört hatte, sah er ein, daß ein Verbrecherleben voll von aufregenden Abenteuern vorzuziehen sei und stimmte zu, Pirat zu werden. Drei Meilen unterhalb St. Petersburgs, an einem Fluß, wo der Mississippi die Kleinigkeit von einer Meile Breite hatte, war eine lange, schmale, bewaldete Insel, mit einer Sandbank an der Spitze, die wählten sie als Rendezvouzplatz aus. Sie war unbewohnt, lag fern der heimatlichen Küste, gegenüber einem dichten und völlig unbewohnten dickichtartigen Walde. So wurde die Jackson - Insel gewählt. Wer der Gegenstand ihrer Seeräuberei sein sollte, war eine Frage, die sie weiter nicht bekümmerte. Dann suchten sie Huckleberry Finn auf, und er verband sich ihnen sofort, denn ihm war jede Karriere recht; er war einverstanden. Sie trennten sich einstweilen, um sich an einer einsamen Stelle auf der Sandbank, zwei Meilen oberhalb des Dorfes um ihre Lieblingsstunde, das heißt, um Mitternacht, wieder zu treffen. Es befand sich dort ein kleines Holzfloß, das sie zu kapern beschlossen. Jeder sollte Haken und Stricke mitbringen und solchen Proviant, den er auf möglichst unauffällige und geheime Weise würde stehlen können - - wie es sich für Ausgestoßene schickt. Und bevor noch der Nachmittag um war, hatten sie sich den Genuß verschafft, das Gerücht auszustreuen, das Dorf werde sehr bald,, was hören ". Alle, denen diese geheimnisvolle Mitteilung wurde, hatte man gebeten,,, den Mund zu halten und zu warten. " Gegen Mitternacht kam Tom mit einem gekochten Schinken und ein paar Kleinigkeiten an und blieb in dichtem Gestrüpp auf einem kleinen Ufervorsprung stehen, den Platz der Zusammenkunft überschauend. Es war sternklar und totenstill, der gewaltige Strom lag ruhig - - gleich einem Ozean. Tom lauschte einen Augenblick, aber kein Ton störte die Stille. Dann ließ er ein langgezogenes, besonderes Pfeifen hören. Es wurde von unten beantwortet. Tom pfiff nochmals; auch dieses Signal wurde ebenso erwidert. Dann sagte eine vorsichtige Stimme:,, Wer ist da? ",, Tom Sawyer, der, schwarze Rächer des spanischen Meeres '. Nennt eure Namen! ",, Huck Finn,, der Bluthändige ' und Joe Harper,, der Schrecken der Meere '. " Tom hatte diese Namen aus seinen Lieblingsbüchern gewählt.,, ' s ist gut. Gebt die Losung! " Zwei heisere Stimmen stießen dasselbe schreckliche Wort gleichzeitig in die betrübende Nacht hinaus:,, Blut! " Darauf rollte Tom seinen Schinken über den Abhang und ließ sich selbst ebenso hinunter, bei dem Experiment Kleider und Haut in Mitleidenschaft ziehend. Es gab zwar einen bequemen, leichten Weg die Küste entlang bis unterhalb des Ufervorsprungs, aber er ermangelte der Anregung durch Schwierigkeit und Gefahr, die doch so wertvoll sind für einen Seeräuber. Der, Schrecken der Meere ' hatte eine Speckseite mitgebracht und hatte sich mit dem Hierherschleppen fast ausgerenkt. Finn,, der Bluthändige ', hatte einen kleinen Kessel gestohlen und eine Quantität halb trockene Tabakblätter, auch ein paar Maiskolben, um Pfeifen daraus zu machen. Aber keiner der Piraten rauchte oder kaute - - außer er selbst. Der, schwarze Rächer des spanischen Meeres ' sagte, man könne ohne Feuer nichts anfangen. Das war ein weiser Gedanke; Zündhölzer waren zu der Zeit noch völlig unbekannt. Sie sahen ein Feuer flackern auf einem großen Floß, hundert Meter oberhalb, schlichen heimlich hin und setzten sich in den Besitz einer Fackel. Sie machten eine bedeutende Unternehmung daraus, alle Augenblicke,, Pst! " sagend und dann und wann plötzlich innehaltend und den Finger an die Lippen legend; markierten Dolchstöße und gaben Befehle in düsterstem Tone, daß, wenn der Feind angriffe, er eins haben solle, denn,, ein toter Mann verrät nichts. " Sie wußten allerdings ganz gut, daß die Schiffer alle im Dorfe unten seien, um zu schlafen oder zu trinken, das war aber kein Grund für sie, diese Sache in nicht seeräubermäßiger Weise zu betreiben. Sie fuhren sogleich ab, Tom kommandierend, Huck am Hinterteil, Joe vorn sitzend. Tom stand in der Mitte, lichtbeschienen und mit verschränkten Armen und gab mit lauter, strenger Stimme seine Befehle.,, Laviert und bringt's Schiff vor den Wind! ",, Ganz recht, Herr! ",, Tüchtig, tüch - - tig!! ",, Wohl, wohl, Herr. ",, ' nen Strich abfallen lassen! ",, Abgefallen ist, Herr! " Wie sie so beständig und eintönig in der Mitte des Stromes dahintrieben, war es selbstverständlich, daß diese Befehle nur der Form wegen gegeben wurden und in Wirklichkeit an niemand gerichtet waren.,, Was für Segel führt's Schiff? ",, Hauptsegel, Toppsegel und Klüversegel, Herr. ",, Bramsegel rauh! Bringt's vor den Wind, sechs von euch an die Vortopmarssegel! Vorwärts, Leute, lustig!! ",, Ho, ho, Herr! ",, Marssegel runter! Schoten und Brassen! Vor - - wärts, Jungens! ",, Ho, ho, Herr! " Das Floß trieb in der Mitte des Stromes. Die Jungen legten sich zurecht und lagen dann still auf dem Ohr. Der Fluß ging nicht so hoch, so machten sie nicht mehr als zwei bis drei Meilen. Während der nächsten dreiviertel Stunden wurde kein Wort gesprochen. Jetzt kam das Floß dem Dorf gegenüber vorbei. Zwei oder drei Lichtpunkte zeigten, wo es lag, friedlich schlafend, dicht an der breiten Fläche des lichtbeschienenen Flusses, ohne Ahnung von dem Unerhörten, das sich hier zutrug. Der, schwarze Rächer ' stand unbeweglich, die Arme gekreuzt, den letzten Blick auf den Schauplatz seiner glücklichen Jugend und seiner letzten Leiden werfend und in dem Wunsche,,, sie " könnte ihn hier sehen, draußen auf der wilden See, Gefahr und Tod mit furchtlosem Herzen ins Angesicht sehend, mit einem grimmigen Lächeln auf den Lippen seinem Schicksal entgegengehend. Es war nur eine Kleinigkeit für seine Einbildungskraft, Jacksons Insel aus dem Gesichtskreise des Dorfes fortzudenken, und so konnte er den letzten Blick mit gebrochenem, aber befriedigtem Herzen hinübersenden. Die anderen Piraten nahmen gleichfalls Abschied. Und sie alle schauten solange, daß sie nahe daran waren von der Strömung aus dem Bereich der Insel getrieben zu werden. Aber sie entdeckten die Gefahr noch rechtzeitig und trafen Vorkehrungen, sie abzuwenden. Um zwei Uhr morgens landete das Floß auf der Sandbank, zweihundert Meter oberhalb der Spitze der Insel, und sie wanderten hin und her, bis sie ihre Ladung geborgen hatten. Zu dem kleinen Floße gehörte auch ein altes Segel, das spannten sie in den Büschen an einer abgelegenen Stelle auf, um ihre Vorräte darunter zu bergen. Sie selbst aber wollten bei gutem Wetter in freier Luft schlafen, wie es Ausgestoßenen ziemt. Sie machten ein Feuer an zwanzig bis dreißig Fuß im tiefsten Schatten des Waldes und kochten dann ein paar Kleinigkeiten als Abendessen in ihrer Bratpfanne und verzehrten die Hälfte des mitgebrachten Schinkens. Es schien ihnen herrlich, in dieser wild - ungebundenen Weise im jungfräulichen Wald eines unentdeckten und unbewohnten Eilandes zu schmausen, fern von den Hütten der Menschen, und sie nahmen sich vor, nie wieder in die Zivilisation zurückzukehren. Das flackernde Feuer erhellte ihre Gesichter und warf seinen roten Schein auf die Baumsäulen ihres Waldtempels und auf das Laubwerk und das Gewirr der Schlinggewächse. Als die letzte Schinkenkruste den Weg alles Eßbaren gegangen war, streckten sich die Burschen auf dem Grase aus, erfüllt von Behagen. Sie hätten einen kühleren Platz finden können, aber sie wollten sich nicht eines so romantischen Vergnügens berauben, wie es das prasselnde Lagerfeuer ihnen bot.,, Ist's nicht nett! " fragte Joe.,, Herrlich ist's! " bestätigte Tom.,, Was würden die Jungs sagen, wenn sie uns sehen könnten? ",, Sagen? Na, die würden doch gleich sterben, um hier sein zu können - - nicht, Hucky? ",, Denk wohl, " brummte Hucky.,, Mir paßt's schon. Möchte nirgends sein als hier. Hab ' niemals genug zu essen gehabt - - und hier kann niemand kommen und einen für ' nen Landstreicher nehmen und anfahren. ",, ' s ist gerad ein Leben für mich, " bekräftigte Tom.,, Man braucht morgens nicht aufstehen, braucht nicht zur Schule zu gehen, sich nicht zu waschen und ähnliche Dummheiten. ",, Du siehst, Joe, ein Pirat braucht nichts zu tun, wenn er zu Hause ist, aber ein Einsiedler, der muß immerfort beten, und dann darf er keinen Scherz treiben, und immer so allein! ",, O, ' s ist so, " sagte Joe,,, aber ich hatt ' nicht dran gedacht - - weißt du. Ich bin ein gut Teil lieber Pirat, als daß ich's damit versucht hätte. ",, Du mußt wissen, " fuhr Tom fort,,, Einsiedler werden die Menschen nicht mehr so viel wie früher, aber vor ' nem Piraten haben sie immer Respekt. Und ein Einsiedler muß auf der härtesten Stelle, die er finden kann, schlafen und sich den Kopf mit Sackleinwand und Asche bedecken und draußen im Regen stehen und - - ",, Warum muß er Sackleinwand und Asche auf den Kopf tun? " fragte Huck.,, Weiß selbst nicht. Aber ' s ist bestimmt so. Einsiedler tun's immer. Du müßtest's auch tun, wenn du ' n Einsiedler wärst. ",, Heißt, wenn ich's möcht '. ",, Na, was wolltest du denn tun? ",, Das weiß ich nicht. Aber ich tät's nicht! ",, Na, Hucky, du mußt's! Wie wolltest du dich drum drücken? ",, Weil ich's halt einfach nicht täte. Ich lief fort - - glaub ' ich. ",, Lief fort! Na, du würdest ein schöner Kerl von ' nem Einsiedler sein! ' ne Schande! " Der, Bluthändige ' gab keine Antwort, er hatte Besseres zu tun. Eben hatte er einen Maiskolben fertig ausgehöhlt, tat jetzt Tabakblätter hinein, drückte eine glühende Kohle drauf, machte aus einem Binsenrohr einen Stiel und stieß dicke Rauchwolken hervor; er befand sich im Zustand ausschweifendsten Behagens. Plötzlich sagte Huck:,, Was haben Piraten zu tun? ",, O, die haben zuweilen lustige Zeiten, " belehrte Tom,,, nehmen Schiffe weg und verbrennen sie, vergraben alles Gold daraus an einer unheimlichen Stelle ihrer Insel, wo Geister und solche Dinger sie bewachen, und töten alle auf dem Schiff - - lassen sie über ' ne Planke springen. ",, Und sie schleppen die Frauen auf ihre Insel, " sagte Joe,,, die Frauen töten sie nicht. ",, Nein, " stimmte Tom zu,,, sie töten keine Frauen - - dazu sind sie zu edel, Und dann sind die Frauen auch immer wunderschön, immer! ",, Und tragen die aller - allerschönsten Kleider. Lauter Gold und Diamanten, " sagte Joe wieder mit Begeisterung.,, Wer? " fragte Huck.,, Na - - die Piraten. " Huck beschaute kritisch seine eigenen Kleider.,, Ich schätze, ich wäre für ' nen Piraten zu schlecht gekleidet, " sagte er mit traurigem Pathos,,, aber ich hab ' keine anderen als diese. " Aber die anderen beiden trösteten ihn damit, daß die schönen Kleider früh genug kommen würden, wenn sie nur erst mal ihr Abenteuerleben begonnen haben würden; sie machten ihm begreiflich, daß seine Lumpen es für den Anfang schon täten, obwohl es für bessere Piraten sich schickte, in anständigerer Garderobe zu erscheinen. Allmählich wurde die Unterhaltung einsilbig und Müdigkeit begann sich auf die Augenlider der kleinen Landstreicher zu senken. Die Pfeife entfiel den Fingern des, Bluthändigen ', und er schlief den Schlaf des Gerechten und des Müden. Der, Schrecken des Meeres ' und der, schwarze Rächer des spanischen Meeres ' kamen nicht so leicht zum Schlafen. Sie sagten ihr Abendgebet innerlich und legten sich nieder, da niemand hier war, dessen Autorität sie hätte zwingen können, niederzuknien und es laut zu sprechen. In Wahrheit hatten sie Lust, es überhaupt nicht zu sprechen, aber sie hatten doch Furcht, soweit vom Wege abzuirren, um nicht ein plötzliches, speziell für sie bestimmtes Donnerwetter vom Himmel herabzubeschwören. Dann endlich befanden sie sich ganz dicht am Rande des Schlafes - - als noch einmal ein Störenfried auftrat, der sich nicht abweisen lassen wollte. Es war das Gewissen. Sie begannen die unbestimmte Empfindung zu haben, daß sie doch wohl unrecht getan hätten, fortzulaufen. Danach dachten sie an die gestohlenen Lebensmittel und damit begann erst die rechte Selbstquälerei für sie. Sie versuchten sie von sich abzuwenden, indem sie sich des gestohlenen Zuckerwerks und der Äpfel erinnerten, die sie auf dem Kerbholz hatten. Aber das Gewissen ließ sich durch solche mageren Einwände nicht beruhigen. Es schien ihnen schließlich doch unmöglich, um die unumstößliche Tatsache herumzukommen, daß Äpfelstehlen lediglich,, stibitzen " sei, während das Forttragen von Schinken, Speckseiten und solchen Wertgegenständen nur als vollgültiger, klarer Diebstahl bezeichnet werden könne - - und dagegen gab es ein Verbot in der Bibel! Worauf sie innerlich beschlossen, daß, solange sie auch bei dem Geschäft bleiben würden, ihre Seeräubereien nicht wieder durch das Verbrechen des Diebstahls gebrandmarkt werden sollten. Ihr Gewissen schloß auf dieser Grundlage denn auch Waffenstillstand, und diese merkwürdig inkonsequenten Piraten fielen in tiefen Schlummer. Vierzehntes Kapitel. Als Tom morgens erwachte, war er sehr erstaunt über seine Umgebung. Er setzte sich auf, rieb sich die Augen und schaute um sich; dann begriff er. Es herrschte kühle, graue Dämmerung und ein wundervoller Hauch von Ruhe und Frieden in der tiefen, alles durchdringenden Stille und Lautlosigkeit des Waldes. Nicht ein Blatt rührte sich, nicht ein Laut störte das große Nachdenken der Natur. Tautropfen lagen auf Blättern und Gräsern. Eine weiße Schicht Asche bedeckte die Feuerstelle, und ein dünner, blauer Streifen Rauch hob sich in die Luft empor. Joe und Huck schliefen noch. Jetzt plötzlich begann ein Vogel im Innern des Waldes zu singen; andere antworteten; dann machte sich das Hämmern eines Spechtes hörbar. Allmählich erhellte sich der kühl - trübe Grauton des Morgens, und ebenso allmählich vermehrten sich die Stimmen, und das Leben nahm zu. Alle Wunder der den Schlaf abschüttelnden und an die Arbeit gehenden Natur entfalteten sich vor dem staunenden Knaben. Ein kleines, grünes Kriechtier kam über ein von Tau bedecktes Blatt daher, zwei Drittel des Körpers von Zeit zu Zeit in die Luft erhebend, herumschnüffelnd, dann wieder weiterkriechend,,, maßnehmend ", wie Tom bei sich sagte. Und als die Raupe sich ihm selbst näherte, saß er mäuschenstill und hoffte, je nachdem sie sich auf ihn zu bewegte oder eine andere Richtung einschlug; und als sie schließlich, nachdem sie einen Augenblick peinvoller Erwartung für Tom ihren gekrümmten Leib aufgerichtet gehalten hatte, entschieden auf Tom losmarschierte und eine Entdeckungsreise auf ihm antrat, war sein ganzes Herz voll Vergnügen, denn er hoffte daraufhin ganz zweifellos, einen neuen Anzug zu bekommen - - eine herrliche Piratenuniform. Nun erschien eine Prozession Ameisen, Gott weiß, woher, um sich an ihre Arbeit zu machen; eine schleppte ganz mutig eine tote Spinne, die fünfmal so groß war wie sie selbst, und zerrte sie auf einen Baumstrunk. Ein braun geflecktes Käferchen kraxelte einen Grashalm in die Höhe, und Tom beugte sich zu ihm herab und sang:,, Käferchen, Käferchen, flieg nach Haus, Kinder allein in dem brennenden Haus! " worauf es die Flügel ausbreitete, um heimwärts zu fliegen und nach den allein gelassenen Kinderchen zu sehen, was Tom nicht weiter überraschte, denn er kannte längst die Leichtgläubigkeit und die Furcht dieses Tieres vor Feuer und hatte sie mehr als einmal ruchlos ausgenutzt. Die ganze Natur war jetzt wach und in Bewegung, lange Nadeln von Sonnenlicht brachen durch das dichte Laub fern und nah, und kleine Schmetterlinge flatterten hin und her. Tom weckte die anderen Piraten, und alle stürmten heulend davon, waren in zwei oder drei Minuten entkleidet und jagten sich und stießen sich herum in dem seichten, klaren Wasser der Sandbank. Sie empfanden nicht das geringste Verlangen nach dem kleinen Dorfe, das in der Ferne an der majestätischen Wasserwüste noch fest schlief. Eine zufällige Strömung oder eine schwache Welle hatte das Floß fortgetrieben. Indessen freuten sie sich eher darüber, denn durch sein Verschwinden war die Brücke zwischen ihnen und der Zivilisation gleichsam abgebrochen. Sie kehrten wunderbar erfrischt zu ihrem Lagerplatz zurück, vergnügt und heißhungrig; bald hatten sie das Lagerfeuer wieder angezündet. Huck fand eine Quelle goldklaren Wassers in der Nähe, sie machten Becher aus Eichenrinde oder Blättern und konstatierten, daß Wasser, von solcher Wild - Wald - Romantik versüßt, ein sehr guter Ersatz für Kaffee sei. Während Joe sich daran machte, Speck zum Frühstück zu rösten, baten Tom und Huck ihn, einen Augenblick zu warten; sie rannten nach einer vielversprechenden Stelle der Sandbank und warfen dort ihre Angeln aus; fast sofort hatten sie Erfolg. Joe hatte gar nicht Zeit gehabt, ungeduldig zu werden, als sie schon zurück waren mit ein paar Handvoll Forellen, einem riesigen Barsch und anderen Fischen, - - Vorrat genug für eine ganze Familie. Sie brieten die Fische mit Speck und waren überrascht; denn kein Fisch war ihnen bisher so delikat erschienen. Sie wußten nicht, daß ein Fisch um so besser ist, je eher er übers Feuer kommt; auch überlegten sie sich kaum, welche Würze Schlaf und Bewegung im Freien, ein Bad und die Zutat eines tüchtigen Hungers ausmachten. Nach dem Frühstück lagen sie im Schatten herum, während Huck ein Pfeifchen schmauchte, und dann machten sie sich zu einer Entdeckungsreise durch den Wald auf die Füße. Sie trollten lustig dahin über vermoderte Baumstämme, durch wirres Gestrüpp, zwischen schweigenden Königen des Waldes hindurch, die von oben bis unten mit allerhand Schlingpflanzen behangen waren. Ab und zu trafen sie auf verborgene, mit Gras bewachsene und mit Blumen geschmückte kleine Lichtungen. Sie fanden eine Menge Dinge, die ihnen gefielen, aber nichts, was sie in Entzücken gesetzt hätte. Sie stellten fest, daß die Insel über drei Meilen lang und eine Viertelmeile breit und daß die Küste, wo sie ihr am nächsten war, nur durch einen schmalen Kanal, kaum zweihundert Meter breit, von ihr getrennt sei. Alle paar Stunden nahmen sie ein Bad, so war es hoher Nachmittag, als sie zum Lager zurückkehrten. Sie waren zu hungrig, um wieder Fische zu fangen, fielen daher tüchtig über ihren Schinken her, warfen sich dann im Schatten nieder und plauderten. Aber das Gespräch geriet bald ins Stocken und erstarb dann ganz. Die Stille und Einsamkeit, die über dem Walde lagen, und die Empfindung der Verlassenheit begannen auf die Gemüter zu wirken. Sie versanken in Nachdenken. Eine Art unbestimmter Sehnsucht ergriff sie und lastete immer schwerer auf ihnen - - es war das Heimweh. Selbst Finn, der Bluthändige, träumte von seinen Treppenstufen und leeren Regentonnen. Aber sie schämten sich ihrer Schwäche, und niemand war tapfer genug, davon zu sprechen. Jetzt plötzlich wurden die Jungen durch einen ganz besonderen Schall in der Ferne aufgeschreckt, wie es wohl durch das Ticken einer Wanduhr geschieht, das man schon lange gehört hat, ohne es zu bemerken. Indessen wurde der geheimnisvolle Ton bestimmter und drängte sich geradezu der Wahrnehmung auf. Die Jungen fuhren in die Höhe, schauten einander an, und dann verharrte jeder in lauschender Stellung. Es folgte langes Stillschweigen, tief und ungestört; dann kam ein tiefer, dumpfer Ton aus weiter Ferne herüber.,, Was ist das, " schrie Joe atemlos.,, Möcht's auch wissen, " entgegnete Tom flüsternd.,, ' s ist nicht Donner, " schloß sich Huck in erschrecktem Ton an,,, denn Donner - - ",, Still! " befahl Tom,,, horcht - - dann sprecht. " Sie warteten eine Zeitlang, die ihnen eine Ewigkeit dünkte, und dann unterbrach derselbe dumpfe Ton die tiefe Stille.,, Wollen wir hingehen und nachsehen? " Sie sprangen auf und rannten nach der dem Dorfe zugewandten Küste. Sie teilten die Büsche auf der Sandbank und spähten hindurch über die Wasserfläche. Das kleine, eiserne Dampfboot befand sich über eine Meile unterhalb des Dorfes, mit dem Strome treibend. Das Verdeck schien mit Menschen bedeckt. Eine Menge Boote trieben sich um den Dampfer herum oder ließen sich von der Strömung treiben, aber die Jungen konnten nicht herausbringen, was die Leute vorhatten. Plötzlich schoß eine große weiße Dampfwolke vom Dampfboot aus über den Fluß, und als sie sich ausbreitete und in kleinen Wölkchen in die Höhe stieg, tönte derselbe dumpfe Ton den Lauschenden in die gespitzten Ohren.,, Jetzt weiß ich! " schrie Tom,,, ' s ist jemand ertrunken! ",, ' s ist an dem, " bestätigte Huck.,, Sie machten es letzten Sommer so, als Bill Turner unterging. Sie schossen ' ne Kanone über dem Wasser ab und davon kam er wieder raus. Ja - - und sie nahmen Laibe Brot, taten Quecksilber ' rein und ließen sie dann schwimmen, und wo einer dann ertrunken ist, dahin schwimmen sie ganz richtig und bleiben da stehen. ",, Ja, " sagte Joe,,, das hab ' ich auch gehört. Möchte aber wissen, was das Brot damit zu tun hat. ",, O, ich denke, ' s Brot ist's wenigste, " meinte Tom.,, Ich meine, ' s ist mehr, was sie drüber sprechen, ehe sie's aussetzen. ",, Aber sie sprechen ja gar nichts drüber, " warf Huck ein.,, Ich hab's gesehen, und sie taten's nicht! ",, Na, das ist sonderbar, " kopfschüttelte Tom.,, Aber sie sagen gewiß was zu sich selbst. Natürlich tun sie's. Jeder weiß das. " Die anderen gaben zu, daß das, was Tom da sage, was für sich habe, denn ein lumpiges Stück Brot, nicht durch eine Besprechung mit besonderer Kraft ausgestattet, konnte sich nicht so klug und geschickt benehmen, wenn man es auf eine Unternehmung von solcher Wichtigkeit ausschickte.,, Teufel, " sagte Joe,,, ich wollt ' ich wär ' drüben! ",, Ich auch, " bestätigte Huck.,, Ich gäb ' nen Haufen, um zu wissen, was das ist. " Die Jungen horchten und warteten. Plötzlich durchfuhr ein erleuchteter Gedanke Toms Hirn, und er rief aus:,, Jungs, ich weiß, wen sie suchen dort drüben! Uns suchen sie! " Sie fühlten sich sofort als Helden. Hier war ein glänzender Triumph. Sie wurden vermißt. Sie wurden beweint. Herzen brachen ihretwegen. Tränen wurden vergossen. Anklagende Erinnerung an unfreundliche Handlungen gegen diese armen Verlorenen stiegen auf, und nutzloses Bedauern und Gewissensbisse quälten die Herzen. Und das beste - - die Vermißten wurden zum öffentlichen Gesprächsthema des ganzen Dorfes, und dann der Neid aller Buben, soweit diese glänzende Botschaft drang! Es war herrlich! Es gab dem Piratenspielen erst den rechten Wert. Als die Dämmerung hereinbrach, kehrte das Dampfboot zu seinen gewöhnlichen Geschäften zurück, und die Boote verschwanden. Die Piraten kehrten in ihr Lager zurück. Sie waren noch ganz betäubt durch den Überschwang ihrer neuen Größe und das wunderbare Aufsehen, das sie erregten. Sie fingen Fische, bereiteten ihr Abendessen, verzehrten es und legten sich dann nieder, um Vermutungen anzustellen, was das Dorf über sie denken und sprechen möchte. Und die Bilder, die sie sich von der allgemeinen Bestürzung, deren Ursache sie waren, machten, entzückten sie über alle Maßen. Aber als die Schatten der Nacht sie zu umhüllen begannen, hörten sie auf zu plaudern und saßen da, schauten ins Feuer, während ihr Geist augenscheinlich ganz wo anders weilte. Der Rausch war geschwunden, und Tom und Joe konnten an niemand zu Hause zurückdenken, der sich über ihre Heldentat so freuen mochte, wie sie es taten. Trübe Ahnungen stellten sich ein. Sie fühlten sich unbehaglich und unglücklich. Ein oder zwei Seufzer entschlüpften ihnen. Endlich wagte Joe einen Fühler auszustrecken, um zu sehen, wie die anderen über die Rückkehr zur Zivilisation denken mochten, - - nicht jetzt natürlich - - aber - - Tom wies ihn mit Verachtung zurück! Huck, bis jetzt noch ganz gleichmütig, stimmte Tom bei, und der Wankelmütige gab eine demütige,, Erklärung " ab und war froh, sich mit einem so geringen Odium schwachherzigen Heimwehs, als es sich nur immer machen ließ, aus der Affäre zu ziehen. Für den Augenblick war die Empörung also offenbar niedergeschlagen. Als die Nacht dunkelte, begann Huck zu nicken und sogleich zu schnarchen. Joe war der nächste. Tom lag eine Zeitlang unbeweglich auf den Ellbogen, die beiden aufmerksam beobachtend. Schließlich erhob er sich vorsichtig auf die Knie und kroch durch das Gras und den flackernden Widerschein des Lagerfeuers. Er sammelte und untersuchte verschiedene große Stücke weißer Sykomorenrinde und wählte schließlich zwei, die ihm die besten schienen, aus. Dann kroch er wieder zum Feuer und kritzelte etwas mit Rotstift auf jedes von ihnen. Eins rollte er zusammen und schob es in seine Tasche, das andere tat er in Joes Hut und legte diesen in einiger Entfernung von seinem Eigentümer hin. In den Hut tat er dann noch gewisse Schulbuben - Kostbarkeiten von fast unschätzbarem Wert, darunter ein Stück Kreide, einen Klumpen Federharz, drei Angelhaken und eine jener Art Marbeln, die als,, so gut wie Kristall " bekannt sind. Dann schlich er auf den Zehen vorsichtig zwischen den Bäumen hindurch, bis er außer Hörweite zu sein glaubte, und dann setzte er sich in scharfen Trab in der Richtung nach der Sandbank zu. Fünfzehntes Kapitel. Wenige Minuten später befand sich Tom im seichten Wasser der Sandbank, der Illinois - Küste zuwatend. Bevor ihm die Flut bis zur Hälfte des Körpers reichte, war er schon halb drüben. Die Strömung erlaubte jetzt kein Waten mehr; so machte er sich zuversichtlich daran, die letzten hundert Meter schwimmend zurückzulegen. Er schwamm querüber, aber bald wurde er stärker stromabwärts getrieben, als er gedacht hatte. Indessen, er erreichte die Küste schließlich, trieb an ihr entlang und fand eine niedrige Stelle, wo er hinauskletterte. Er legte die Hand auf die Tasche, fand, daß seine Baumrinde darin wohlgeborgen sei und schlug sich dann mit triefenden Kleidern durch den Wald, der Küste folgend. Kurz vor 10 Uhr kam er auf einen freien Platz dem Dorfe gegenüber und erblickte das Dampfboot im Schatten der Bäume und des hohen Ufers liegend. Alles war totenstill unter den funkelnden Sternen. Er kroch unter einen Ufervorsprung, tauchte ins Wasser, tat schwimmend drei oder vier Stöße und kletterte in das Boot, welches, wie es sich gehörte, am Stern des Dampfbootes befestigt war. Er legte sich unter die Bank und wartete mit Herzklopfen. Plötzlich schlug die blecherne Glocke an, und eine Stimme gab Befehl, abzustoßen. Ein paar Minuten später wurde die Spitze des Bootes vom Dampfer stark angezogen, und die Reise hatte begonnen. Tom fühlte sich erhoben durch seinen Erfolg - - er wußte, daß es die letzte Fahrt sei, die das Boot an diesem Abend machte. Nach langen zwölf bis fünfzehn Minuten stoppte das Fahrzeug, und Tom glitt über Bord und schwamm im Dunkeln dem Ufer zu; er landete fünfzig Meter unterhalb - - zur Sicherheit vor etwaigen herumstreichenden Bekannten. Er lief durch wenig belebte Straßen und befand sich bald am hinteren Zaun seiner Tante. Er kletterte hinüber, näherte sich behutsam dem Haus und spähte durch das Wohnzimmerfenster, da er dort Licht sah. Da saßen Tante Polly, Sid, Mary und Joe Harpers Mutter, dicht zusammengedrängt, eifrig schwatzend. Sie saßen am Bett, und dieses stand zwischen ihnen und der Tür. Tom schlich vorsichtig zur Tür und begann vorsichtig den Drücker zu drücken. Dann drückte er kräftiger, und die Tür knarrte. Er setzte seine Tätigkeit fort und hielt jedesmal inne, sobald es knarrte, bis er glaubte, auf den Knien durchkriechen zu können. Und so steckte er den Kopf hinein, und versuchte es vorsichtig.,, Warum flackert das Licht so? " sagte Tante Polly. Tom beeilte sich.,, Ich glaub gar, die Tür ist offen! Wahrhaftig, sie ist offen! Hören denn die Gespenstergeschichten heut gar nicht auf! Geh ' hin und mach sie zu, Sid! " Im selben Moment verschwand Tom unterm Bett. Er lag und verschnaufte ' ne Zeitlang, und dann kroch er so weit vor, daß er Tante Pollys Füße fast berühren konnte.,, Aber, wie ich sagte, " fing Tante Polly wieder an,,, er war nicht schlecht, nur - - wie soll ich sagen - - gerissen! Nur ein bißchen unbesonnen, wissen Sie, und gedankenlos - flüchtig. Er dachte nie mehr nach als ein Füllen. Bös meint ' er's nie, er war der gutherzigste Junge, der jemals dagewesen ist, " und sie begann zu weinen.,, Grad ' so war's mit meinem Joe - - immer voll von Dummheiten und zu jedem Unfug aufgelegt; und so selbstlos und gutmütig, wie nur einer sein kann - - und es schmerzt mich schrecklich, zu denken, daß ich hingehen konnte und ihm eine runterhauen, weil er die Milch genommen haben sollte, und nicht daran dachte, daß ich sie als sauer selbst fortgegossen hatte - - und ich soll ihn nie wiedersehen in dieser Welt, nie, nie, nie - - armer verlassener Junge! " Mrs. Harper schluchzte, als solle ihr das Herz brechen.,, Ich hoffe, Tom ist besser dran, wo er ist, " sagte Sid,,, aber wenn er in manchen Dingen hier besser gewesen wäre - - ",, Sid! " Tom fühlte ordentlich den strengen Blick aus den Augen der alten Dame, obwohl er sie nicht sehen konnte.,, Nicht ein Wort gegen meinen Tom, nun er fort ist! Gott wird sich seiner annehmen, sorg du nur für dich selbst, mein Lieber. O, Mrs. Harper, ich weiß nicht, wie ich's ohne ihn aushalten soll - - ich weiß nicht, wie ich's ohne ihn aushalten soll! Er war so anhänglich an mich - - obwohl er mein altes Herz zuweilen fast gebrochen hätte! ",, Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobt! Aber ' s ist so hart - - o, ' s ist so hart! Noch letzten Samstag ließ Joe einen Schwärmer mir unter der Nase platzen, und ich schlug ihn nieder. Damals wußt ' ich freilich nicht, wie bald - - o, wenn ich's noch mal erleben könnte, ich würd ' ihn dafür umarmen und segnen. ",, Ja, ja, ich kann's mir denken, was Sie fühlen, Mrs. Harper, ganz genau weiß ich, was Sie fühlen! ' s ist noch nicht länger als gestern abend, da nahm Tom die Katze und füllte sie voll, Schmerzenstöter ', und ich dachte, das Tier würd ' das Haus einreißen! Und - - Gott verzeih ' mir - - ich gab ihm eins mit dem Fingerhut auf den Kopf - - armer Junge, armer toter Junge! Aber er ist jetzt raus aus allen Schmerzen. Und die letzten Worte, die ich von ihm gehört habe, waren - - " Aber diese Erinnerung war zu viel für die alte Dame, und sie brach völlig zusammen. Tom schluchzte jetzt selbst - - mehr aus Mitleid mit sich selbst als mit sonst jemand. Er konnte auch Mary weinen und von Zeit zu Zeit ein freundliches Wort über sich sprechen hören. Er fing an, eine bessere Meinung als bisher von sich selbst zu haben. Schließlich war er durch seiner Tante Kummer so tief ergriffen, daß er drauf und dran war, unter dem Bett hervorzukommen und sie mit seiner Wiederkunft freudig zu überraschen, und der Theatereffekt war ganz nach seinem Geschmack, aber er widerstand doch und verhielt sich still. Er fuhr fort zu lauschen und setzte sich aus allerhand Andeutungen zusammen, daß man erst angenommen habe, die Burschen seien beim Schwimmen umgekommen; dann wurde das kleine Floß vermißt; dann verkündeten ein paar Jungen, die Ausreißer hätten versprochen, das Dorf solle bald,, von ihnen hören ". Die weisen Häupter hatten dies und das zusammengereimt und erklärt, die Strolche seien auf diesem Floß davongefahren und würden bald in der nächsten Stadt unterwärts anlangen. Aber gegen Mittag war das Floß gefunden worden, ungefähr fünf oder sechs Meilen unterhalb des Dorfes an der Missouriküste, und da hatte man die Hoffnung aufgegeben; sie mußten ertrunken sein, denn sonst hätte der Hunger sie bei Einbruch der Nacht nach Haus getrieben - - wenn nicht schon früher. Man glaubte, die Suche nach den Leichen sei darum erfolglos geblieben, weil sich das Unglück in der Mitte des Stromes zugetragen habe, denn die Jungen als gute Schwimmer würden sich sonst ans Ufer gerettet haben. Das war Mittwoch abend. Wenn sie bis Samstag noch nicht gefunden sein würden, müßte man alle Hoffnung aufgeben, und der Trauergottesdienst sollte dann am Sonntag morgen stattfinden. Tom schauderte. Mrs. Harper wünschte mit weinerlicher Stimme,, Gute Nacht " und rüstete sich zum Abmarsch. Dann, mit plötzlichem Impuls, umarmten sich die beiden verwaisten Frauen, weinten sich nach Herzenslust aus und trennten sich. Tante Polly war doppelt zärtlich, indem sie Sid und Mary,, Gute Nacht " sagte. Sid schluchzte ein bißchen, Mary aber weinte aus Herzensgrund. Tante Polly kniete nieder und betete für Tom so eindringlich, so leidenschaftlich und mit so grenzenloser Liebe in ihren Worten und ihrer alten, zitternden Stimme, daß er wieder, lange bevor sie zu Ende war, in Tränen zerfloß. Er mußte noch lange, nachdem sie zu Bett gegangen war, warten, denn von Zeit zu Zeit stieß sie immer noch mal einen herzbrechenden Seufzer aus, warf sich unruhig hin und her und konnte nicht zur Ruhe gelangen. Aber schließlich war sie doch still und seufzte nur noch bisweilen im Schlaf. Nun kroch der Junge hervor, richtete sich am Bett in die Höhe, beschattete das Licht mit der Hand und stand lange, sie betrachtend. Sein Herz war voll Mitleid mit ihr. Er zog seine Sykomorenrinde hervor und legte sie neben den Leuchter. Aber es fiel ihm etwas ein, und er überlegte. Auf seinem Gesicht lag der glückliche Widerschein seiner Gedanken. Schnell steckte er die Rinde wieder in die Tasche, dann beugte er sich herunter, küßte die welken Lippen und machte sich verstohlen davon, die Tür hinter sich schließend. Er nahm seinen Weg wieder zum Dampfboot, fand niemand dort vor und begab sich kühn an Bord des Schiffes, welches, wie er wußte, verlassen war - - bis auf einen Wächter, der sich darin einzuschließen und zu schlafen pflegte wie ein steinernes Bild. Er zog das kleine Boot heran, sprang hinein und schwamm bald wieder draußen auf dem Strom. Als er eine Meile vom Dorfe entfernt war, steuerte er querüber und legte sich tüchtig ins Zeug. Er erreichte genau die Landungsstelle an der anderen Seite - - eine Kleinigkeit für ihn. Große Lust hatte er, das Boot zu kapern, denn er meinte, man müsse es doch als,, Schiff " betrachten und es sei somit legitime Beute für einen Seeräuber. Aber dann sagte er sich, daß genaue Nachforschungen danach angestellt werden würden, und das hätte mit einer Entdeckung enden können. So sprang er ans Ufer und drang in den Wald ein. Er setzte sich nieder und hielt lange Rast, sich quälend mit Anstrengungen, wach zu bleiben, und dann strebte er wieder seiner,, Heimat " zu. Die Nacht war fast zu Ende. Es war heller Morgen, bis er sich der Insel gegenüber befand. Er ruhte wieder, bis die Sonne ganz herauf war und den Fluß mit ihrem Glanz übergoß, und dann sprang er ins Wasser. Kurz darauf stand er triefend am Eingang des Lagers und hörte Joe sagen:,, Nein, Tom ist treu, Huck, und er wird wiederkommen. Er wird nicht durchbrennen. Er weiß, daß es ' ne Schande für ' nen Seeräuber wär, und Tom ist zu stolz für so was. Er ist auf irgend was aus. Möcht ' aber wohl wissen, was? ",, Na - - die Sachen da gehören doch jetzt uns, nicht? ",, Beinahe, aber nicht ganz, Huck. Das Geschreibsel sagt, sie sind unser Eigentum, wenn er nicht bis zum Frühstück wieder da ist. ",, Was er ist, " rief Tom in theatralischer Pose, großartig ins Lager tretend. Ein prächtiges Frühstück, aus Schinken und Fisch bestehend, war bald zur Stelle, und während sich die Jungen darüber hermachten, berichtete Tom (mit vielen Ausschmückungen) seine Abenteuer. Sie waren eine edle, prahlerische Gesellschaft von Helden, als seine Erzählung beendet war. Dann machte Tom sich davon an einen schattigen Ort, um bis Mittag zu schlafen, die anderen Piraten brachen auf zu Fischzug und Entdeckungsreisen. Sechzehntes Kapitel. Nach dem Mittagessen machte sich die ganze Bande auf nach der Sandbank, um dort Schildkröteneier zu suchen. Sie stießen Löcher in den Sand, und wenn sie eine hohle Stelle fanden, warfen sie sich auf die Knie und gruben mit den Händen. Manchmal erwischten sie fünfzig bis sechzig Eier auf einem Haufen. Es waren vollkommen runde, weiche Dinger, ein bißchen kleiner wie ' ne englische Walnuß. So hatten sie ein köstliches Eigericht für den Abend, und ebenso am Freitag morgen. Nach dem Frühstück liefen sie mit Hurra und Purzelbäumen zum Strand, jagten sich einander herum, warfen die Kleider ab und waren ganz nackt; und dann setzten sie ihr lustiges Treiben im seichten Wasser fort, gegen die Strömung anlaufend, welche ihnen um die Beine spülte und den Spaß noch mehr erhöhte. Zuweilen standen sie zusammen und spritzten sich mit der flachen Hand gegenseitig Wasser ins Gesicht, indem sie sich, einander den Rücken zukehrend, heranschlichen, um den Spritzern zu entgehen, und sich dann plötzlich packten und so lange kämpften, bis der Stärkste seinen Gegner geduckt hatte - - und dann verwandelten sie sich alle drei in ein Gewirr von weißen Armen und Beinen, und tauchten zugleich wieder auf, schnaufend, lachend, spuckend und atemlos. Nachdem sie sich so ordentlich ausgetobt hatten, stiegen sie heraus, warfen sich in den trockenen, heißen Sand, lagen da und bedeckten sich ordentlich damit, und dann liefen sie wieder zum Wasser, und das Spiel begann von neuem. Schließlich fiel ihnen ein, daß ihr nackter Zustand mit fleischfarbigen Trikots große Ähnlichkeit habe. So zogen sie einen Kreis in den Sand und hatten einen Zirkus - - mit drei Clowns darin, denn niemand wollte diesen stolzesten Posten einem anderen überlassen. Darauf suchten sie ihre Murmeln hervor und spielten, bis auch dies Vergnügen langweilig wurde. Huck und Joe schwammen hierauf abermals; Tom wollte nicht mitmachen, denn er fand, daß er beim Anziehen seine Klapperschlangenschnur von den Knöcheln verloren hatte, und er wunderte sich, wie er ohne den Schutz dieses geheimnisvollen Schutzmittels so lange vor einem Krampf bewahrt worden sei. Er wagte sich nicht wieder ins Wasser, bis er sie wiedergefunden hatte, und inzwischen waren die anderen müde und im Begriff, sich auszuruhen. Herumschlendernd, trennten sie sich allmählich, verfielen in Trübsinn und fingen an, über die breite Wasserfläche hinüberzuschauen, wo das Dorf schläfrig in der Sonne lag. Tom ertappte sich dabei, wie er mit der Zehe,, Becky " in den Sand schrieb; er wischte es aus, ärgerlich über seine Schwäche. Aber er schrieb es nochmals - - trotzdem; er konnte nichts dafür. Er wischte es nochmals aus und zog sich aus aller Versuchung, indem er die anderen Jungen zusammentrieb und sie gegeneinander schubste. Aber Joes Geist war allmählich gänzlich niedergedrückt. Er hatte solches Heimweh, daß er sein Elend kaum noch tragen konnte. Die Tränen waren bei ihm dem Überlaufen nahe. Sogar Huck war melancholisch. Toms Herz war schwer, doch er gab sich Mühe, es nicht zu zeigen. Er hatte ein Geheimnis, das er noch nicht preisgeben wollte, wenn aber diese Depression nicht bald gehoben werden konnte, mußte er es verraten. Er sagte mit möglichst sichtbarer Heiterkeit:,, Ich glaube, ' s sind schon vor uns Piraten auf der Insel gewesen. Wollen wir doch mal nachsehen! Vielleicht haben sie hier Schätze vergraben. Würd's euch nicht gefallen, irgendwo auf ' ne alte verrostete Kiste voll Gold oder Silber zu stoßen, he? " Es erhob sich aber nur ein schwacher Begeisterungssturm, der bald verflogen war. Tom versuchte noch eine oder zwei Kriegslisten; aber auch diese schlugen fehl. Es war recht entmutigend. Joe saß da, mit einem Stock im Sande stochernd und schaute sehr trübselig drein. Schließlich sagte er:,, Ach, Jungens, laßt's uns aufgeben. Ich möcht ' heim. ' s ist so einsam hier. ",, Ach was, Joe, das wird schon nach und nach besser werden, " entgegnete Tom.,, Allein schon die famose Gelegenheit zum Fischen. ",, Mag nichts wissen vom Fischen. Ich will heim! ",, Aber, Joe, nirgends kann man so gut schwimmen wie hier. ",, Schwimmen ist nichts. Ich hab ' gar keine Lust zum Schwimmen, wenn nicht wer da ist, der mir sagt, ich soll's nicht tun. Ich will nach Haus! ",, Ach, Feigling! Wickelkind! Du möchtst bloß zu deiner Alten - - schätz ' ich. ",, Ja - - ich will zu meiner Mutter! Und du wolltst auch, wenn du eine hättst. Ich bin nicht mehr Wickelkind als du! " Und Joe schluchzte ein wenig.,, Na, ' s ist gut, wollen wir das heulende Muttersöhnchen nach Haus lassen, nicht, Huck? Armes Ding - - wenn's halt Sehnsucht hat, seine Mutter wiederzusehen? Soll's halt. Du bleibst hier, nicht, Huck? Wir wollen bleiben? ",, J - - a, " sagte Huck, ohne viel Überzeugung.,, So lang ' ich lebe, sprech ich nicht mehr mit dir, " sagte Joe aufsehend.,, Das hast du davon. " Trübselig stand er auf und begann sich anzukleiden.,, Mach mir auch was draus, " warf Tom hin.,, ' s braucht dich niemand. Mach, dass du heimkommst und laß dich auslachen. Bist ' n schöner Pirat! Huck und ich, wir sind keine Schreibabies. Wir wollen bleiben, nicht, Huck? Laß ihn gehen, wenn er durchaus will. Denke doch, zur Not werden wir fertig ohne ihn. " Aber trotzdem war Tom nicht recht wohl zumute, es beunruhigte ihn doch, zu sehen, wie Joe trotzig fortfuhr, sich anzuziehen. Und dann war's unangenehm, wie Huck mit den Augen den Vorbereitungen Joes folgte, so aufmerksam und mit so unheimlichem Schweigen. Plötzlich begann Joe, ohne ein Wort des Abschieds, auf das Illinoisufer zu waten. Tom begann das Herz zu sinken. Er schielte nach Huck. Huck konnte den Blick nicht ertragen und senkte die Augen. Dann sagte er:,, Du - - Tom - - ich will auch gehen. ' s war schon bis jetzt so einsam, jetzt wird's noch schlimmer werden. Gehen wir auch, Tom? ",, Ich geh ' nicht! Du kannst ja gehen, wenn du willst. Ich bleib '! ",, Tom - - ich will lieber gehen. ",, Na, ' s ist gut, so geh ' doch! Wer hindert dich denn? " Huck fing an, seine zerstreuten Kleider aufzusammeln.,, Tom, " sagte er,,, wollt ', du gingst mit. Denk mal drüber nach. Wir wollen drüben am Ufer auf dich warten. ",, Da, da könnt ihr ' ne hübsch ' lange Zeit warten, sag ' ich dir. " Huck schlich kummervoll davon, und Tom schaute ihm nach, während ein heftiges Verlangen, seinem Stolz zum Trotz hinterher zu laufen, an seinem Herzen riß. Er hoffte, sie würden stehen bleiben, aber sie wateten langsam weiter. Plötzlich überkam Tom das Bewußtsein, wie einsam und still es dann sein würde. Er kämpfte einen letzten Kampf mit seinem Stolz und dann rannte er seinen Kameraden nach, brüllend:,, Wartet, wartet doch! Will euch was sagen! " Sie blieben sofort stehen und drehten sich um. Als er bei ihnen angelangt war, begann er, sein Geheimnis auszukramen, und sie hörten mürrisch zu, bis sie zuletzt begriffen, was die Pointe bei der Sache sei, und in ein wahres Kriegsgeheul von Beifall ausbrachen und sagten, ' s wäre großartig, und wenn er ihnen das früher gesagt hätte, würden sie nicht fortgegangen sein. Tom brachte eine plausible Entschuldigung vor; in Wahrheit aber hatte er gefürchtet, daß nicht einmal sein Geheimnis sie veranlassen würde, noch länger bei ihm zu bleiben, und darum hatte er es als letztes Auskunftsmittel zurückgehalten. Die Ausreißer kehrten vergnügt zurück und nahmen mit Feuereifer ihre Spiele wieder auf, fortwährend mit staunender Bewunderung über Toms fabelhaften Plan und seine Genialität sich unterhaltend. Nach einem opulenten Eier - und Fischschmaus erklärte Tom, er wolle rauchen lernen. Joe gefiel die Idee, und er sagte, er wolle es auch lernen. So machte Huck Pfeifen und füllte sie. Die beiden Neulinge hatten bisher noch nie etwas anderes geraucht als Schokoladezigarren, und die haben niemals als männlich gegolten. Nun streckten sie sich aus, stützten sich auf die Ellbogen und begannen zögernd zu paffen und mit wenig Vertrauen. Der Rauch hatte einen unangenehmen Geschmack, und sie räusperten sich ein wenig, aber Tom sagte:,, Pah! ' s ist ja so leicht! Hätt ' ich gewußt, daß das alles sei, hätt ich's schon längst gelernt! ",, Ich auch, " meinte Joe.,, ' s ist ja gar nichts. ",, Gott, wie oft hab ' ich ' nen Mann rauchen gesehen, und gedacht: wollt ', ich könnt's auch. Aber ich hab ' nie gedacht, ich könnt's. So geht's mir immer, nicht, Huck? Du hast's mich oft sagen hören, nicht, Huck? Huck weiß, daß ich's gesagt hab '. ",, Ja, oft genug, " sagte Huck.,, Na, ich hab's auch, " fing Tom nochmals an.,, Hundertmal. Mal da unten beim Schlachthaus. Erinnerst du dich nicht, Huck? Bob Tanner war da und Johnny Miller und Jeff Thatcher, damals, als ich's sagte. Erinnerst du dich nicht, Huck, daß ich's gesagt hab '? ",, Ja, ' s ist an dem, " entgegnete Huck.,, ' s war den Tag, als ich ' ne weiße Murmel verloren hatte - - nee, ' s war den Tag vorher. ",, Da sagt ' ich's dir, " bestätigte Tom.,, Huck erinnert's. ",, Glaub ', ich könnt ' die Pfeife rauchen - - alle Tage, " sagte Joe.,, Fühl ' mich gar nicht schlecht. ",, Na, ich auch nicht. Ich könnt ' alle Tage rauchen, aber ich wette, Jeff Thatcher könnt's nicht. ",, Jeff Thatcher! Lieber Gott - - keine zwei Züge könnt ' der vertragen! Laß ' s ihn nur einmal versuchen - - er soll schon sehen. ",, Ich wollt ', er tät's, und Johnny Miller - - wollt ', ich könnt ' Johnny Miller ' s versuchen sehen. ",, Meinst du, ich nicht? Na, der Johnny Miller würd's grad so wenig können wie sonst was! Bloß ' n bissel Rauch würd ' den schon umschmeißen! ",, Natürlich würd's das, Joe! Du, ich wollt ', die Jungens könnten uns jetzt mal sehen. ",, Na, das mein ' ich auch! ",, Wißt ihr was! Sagt nichts davon, und wenn sie dann mal dabei sind, geh ' ich auf dich zu und sag ':, Joe, hast du ' ne Pfeife? Möcht ' mal rauchen! ' Und du sagst, so ganz beiläufig, als wenn's nichts wär ', du sagst:, Ja, ich hab ' meine alte Pfeife, und dann noch eine, aber mein Tabak ist nicht sehr gut. ' Und ich sag ':, O, ' s ist schon recht, wenn er uns stark genug ist. ' Und dann du raus mit den Pfeifen und wir ordentlich drauf los, und dann die Augen, die die machen werden! ",, Verdammt, das ist famos, Tom! Wollt, ' s wär ' jetzt! " So plauderten sie noch ' ne Weile; aber plötzlich begann das Gespräch zu stocken, und dann hörte es ganz auf. Das Stillschweigen wurde drückend; das Ausspucken nahm wunderbar zu. Jede Pore im Innern des Mundes schien bei den beiden sich in einen spuckenden Springbrunnen zu verwandeln. Kaum konnten sie die Behälter unter der Zunge oft genug entleeren, um eine Überschwemmung zu vermeiden; trotz aller Anstrengungen aber gelangten kleine Ergüsse den Hals hinunter - - und jedesmal folgte plötzliches Aufschlucken darauf. Beide sahen blaß und elend aus. Joes Pfeife fiel aus seinen kraftlosen Händen. Toms folgte. Beider Springbrunnen waren in voller Tätigkeit, und beider Pumpen arbeiteten fieberhaft. Joe sagte mit schwacher Stimme:,, Hab ' mein Messer verloren. Denke, ' s wird gut sein, hinzugehen und zu suchen. " Tom, mit zitternden Lippen und ebenso schwacher Stimme sagte:,, Ich helf dir. Du gehst nach der Seite, und ich will nach der andern gehen - - zur Quelle. - - Nein - - du brauchst - - nicht zu - - kommen - - - - Huck, - - wir - - wir finden's - - schon - - " So setzte sich Huck nieder und wartete ' ne Stunde. Dann fand er, es sei sehr einsam und ging, seine Kameraden zu suchen. Sie waren weit weg im Walde, beide sehr blaß, beide schliefen fest. Aber etwas belehrte ihn, daß, hatten sie irgend welche Beschwerden gehabt, sie sich davon befreit hatten. Beim Nachtessen waren sie eben nicht redselig; sie hatten einen hohlen Blick. Und als Huck nach der Mahlzeit seine Pfeife wieder stopfte und ihnen die ihrigen geben wollte, sagten sie: nein, sie fühlten sich nicht recht wohl - - irgend etwas beim Mittagessen sei ihnen nicht gut bekommen. Siebzehntes Kapitel. Ungefähr um Mitternacht erwachte Joe und rief die Jungen an. Drückende Schwüle lag in der Luft, das hatte etwas zu bedeuten. Die Jungen drückten sich aneinander und suchten die freundliche Gesellschaft des Feuers, obwohl die matte, tote Hitze der reglosen Atmosphäre erstickend war. Sie saßen still, horchend und wartend. Jenseits des Lichtschimmers ging alles in der Schwärze der Finsternis auf. Plötzlich fuhr ein zitternder Blitzstrahl herunter, der auf einen Augenblick die Umgebung erleuchtete und dann wieder schwand. Nach kurzer Zeit kam wieder einer, etwas schwächer. Dann noch einer. Darauf ging ein leises Zittern durch die Bäume des Waldes, und die Knaben empfanden eine kurze Kühlung im Gesicht und zitterten bei dem Gedanken, daß der Geist der Nacht an ihnen vorübergegangen sei. Dann eine Pause. Und dann verwandelte ein zauberhafter Blitzstrahl die Nacht in den Tag und zeigte jeden einzelnen Grashalm, der um ihre Füße herum wuchs. Und außerdem zeigte er drei weiße entsetzte Gesichter. Ein schwerer Donnerschlag kam rollend und polternd vom Himmel herunter und verlor sich in der Ferne in dumpfem Grollen. Ein kühler Lufthauch machte sich fühlbar, in den Blättern raschelnd und die aufgehäufte Asche über den Feuerherd wirbelnd. Ein neuer blendender Schein erhellte den Wald, und ein Krach folgte, der die Baumwipfel über den Häuptern der Kinder zu zerreißen schien. Sie fuhren erschreckt zusammen bei der vollkommenen Finsternis, die darauf folgte. Ein paar schwere Regentropfen fielen klatschend auf die Blätter.,, Schnell, Jungens, zum Zelt, " schrie Tom. Sie rannten davon, über Wurzeln stolpernd und sich in Schlinggewächse verwickelnd - - nicht zwei von ihnen in gleicher Richtung. Ein furchtbarer Windstoß fuhr durch die Wipfel, jeden Laut verschlingend. Ein blendender Blitz folgte dem anderen, ein krachender Donnerschlag dem anderen. Und jetzt prasselte durchnässender Regen nieder, und der tobende Orkan fegte ihn in Bündeln über die Erde hin. Die Jungen schrien einander zu, aber der heulende Wind und die dröhnenden Donnerschläge verschlangen ihre Stimmen völlig. Indessen drangen sie doch nacheinander durch und suchten Schutz unter dem Zelt, kalt, zitternd und triefend von Wasser. Gesellschaft im Unglück zu haben, schien ihnen alles erträglicher zu machen. Sie konnten nicht sprechen, das alte Segel schlug zu wahnsinnig, selbst wenn die anderen Stimmen es ihnen erlaubt hätten. Der Sturm stieg höher und höher, und plötzlich flog das Segel, aus seinen Klammern losgerissen, auf den Flügeln des Windes davon. Die Knaben faßten sich an den Händen und flohen, stolpernd und sich wund stoßend, in den Schutz einer großen Eiche, die am Flußufer stand. Jetzt war der Kampf auf seinem Höhepunkt angelangt. Bei dem unaufhörlichen Leuchten, das den Himmel in Flammen setzte, trat alles rund umher in grelles, schattenloses Licht; die sich beugenden Bäume, der wogende, von Schaum weißgefärbte Strom, das treibende Flußwasser. Die steilen Felsenufer auf der anderen Seite schauten zuweilen durch die Regenwolken. Alle Augenblicke erlag ein Baumriese der Gewalt und brach krachend durch das Unterholz. Und die furchtbaren Donnerschläge folgten sich in ohrenzerreißendem, explosionsähnlichem Schmettern, scharf und krachend und unbeschreiblich ängstigend. Der Sturm erhöhte sich zu beispielloser Wut, die die ganze Insel in Stücke reißen, sie zu verbrennen, bis zu den Baumwipfeln versenken und jedes Lebewesen auf ihr vernichten zu wollen schien, alles gleichzeitig und in einem Augenblick. Es war eine schreckliche Nacht für heimatlose junge Herzen. Aber endlich hatte der Kampf ausgetobt, die Naturkräfte ruhten, schwächer und schwächer tönend und brummend - - Friede herrschte. Die Jungen schlichen zum Lager zurück - - nicht wenig eingeschüchtert. Und doch fanden sie dort, daß sie alle Ursache hatten, dankbar zu sein, denn die große Sykomore, die Beschützerin ihres Lagers, war jetzt eine Ruine, vom Blitz zerschmettert - - und sie waren während der Katastrophe nicht darunter gewesen. Alles im Lager war durchnäßt, das Feuer erloschen; denn sie waren leichtsinnige Herumtreiber, wie alle ihresgleichen, und hatten keine Vorsichtsmaßregeln gegen den Regen getroffen. Das war sehr ärgerlich, denn sie waren durchweicht und verfroren. Sie fingen an, über ihr Mißgeschick zu jammern; aber plötzlich entdeckten sie, daß das Feuer sich an dem Baum, unter dem es gebrannt hatte, so weit hinauf fortgepflanzt hatte, daß eine Handbreit oder so erhalten geblieben war und noch schwach glimmte. Sie belebten es geduldig mit Zweigen und Rinde des umgestürzten Baumes, bis sie es wieder ordentlich entfacht hatten. Sie trockneten ihren gekochten Schinken und hielten eine Mahlzeit ab, und dann saßen sie am Feuer und verbreiteten sich über ihre nächtlichen Abenteuer und schmückten sie aus bis zum Morgen, denn es gab kein trockenes Plätzchen in der ganzen Umgebung, wo sie hätten ruhen können. Als die Sonne auf die Knaben zu scheinen begann, überwältigte sie die Müdigkeit, und sie gingen zur Sandbank und legten sich zum Schlaf nieder. Allmählich wurden sie von der Sonne geröstet und machten sich daher in trüber Stimmung ans Frühstück. Sie fühlten sich übellaunig und steif in allen Gliedern und hatten Heimweh, mehr als je. Tom erkannte die Anzeichen davon und versuchte, die Piraten, so gut er es vermochte, aufzuheitern. Aber sie kümmerten sich den Teufel um Murmeln, Zirkus, Schwimmen oder sonst was. Er erinnerte sie an das großartige Geheimnis und erzielte einen Schimmer von Frohsinn. So lange der anhielt, suchte er sie für ein neues Spiel zu interessieren. Es war, für eine Weile das Piratenspielen aufzugeben und zur Abwechselung mal Indianer zu sein. Sie waren von der Idee begeistert; und so dauerte es nicht lange, da waren sie tätowiert, tätowiert von Kopf bis zu Fuß mit schwarzem Schmutz, gleich den Zebras, alle natürlich Häuptlinge, und dann rannten sie heulend durch die Wälder, um englische Niederlassungen anzugreifen. Dann trennten sie sich in drei feindliche Stämme und stürzten aus Hinterhalten mit schrecklichem Kriegsgeschrei aufeinander los und töteten einander tausendweise. Es war ein blutiger Tag. Darum war es ein befriedigender. Zur Mittagszeit versammelten sie sich wieder im Lager, hungrig und glücklich. Aber jetzt zeigte sich ein Hindernis - - feindliche Indianer konnten das Friedensbrot nicht miteinander brechen, ohne erst Frieden zu machen, und das war einfach unmöglich, ohne eine Friedenspfeife zu rauchen. Es gab keinen anderen Weg, von dem sie je gehört hätten. Zwei von den Wilden wünschten jetzt, immer Piraten geblieben zu sein. Indessen - - es war nichts zu machen, so forderten sie denn mit so viel Unbefangenheit, als sie auftreiben konnten, die Pfeifen, und taten, wie es sich gehört, einen Zug daraus. Und wie glücklich waren sie dann, daß sie Wilde geworden waren; denn sie hatten dadurch etwas gewonnen. Sie merkten, daß sie jetzt ein bißchen rauchen konnten, ohne fortgehen und ein verlorenes Messer suchen zu müssen. Es wurde ihnen nicht mehr so schlecht, daß es ihnen Unannehmlichkeiten bereitet hätte. Sie hatten aber keine Lust, diese stolze Errungenschaft aus Mangel an Übung wieder zu verlieren: o nein, sie übten sie nach dem Essen mit recht schönem Erfolg, und so verbrachten sie einen herrlichen Abend. Sie waren mit ihrer neuen Kunst stolzer und glücklicher, als wenn sie sechs Indianerstämme skalpiert und hingeschlachtet hätten. Lassen wir sie schmauchen, plaudern und prahlen - - denn wir haben im Augenblick nichts mehr mit ihnen zu schaffen. Achtzehntes Kapitel. Im Dorfe herrschte indessen an jenem friedlichen Samstag nachmittag durchaus nicht besondere Heiterkeit. Harpers und Tante Pollys Familie waren in Trauer und Kummer und vielen Tränen. Ungewöhnliche Ruhe lag über dem Ort, obwohl es auch sonst still genug herzugehen pflegte. Mit zerstreuter Miene gingen die Einwohner ihren Geschäften nach und sprachen wenig; aber sie seufzten oft. Der freie Samstag erschien eine Last für die Kinder. Sie hatten kein Herz für ihre Spiele und gaben sie schließlich ganz auf. Nachmittags begab sich Becky Thatcher in trüber Stimmung auf den verlassenen Schulhof und fühlte sich sehr einsam. Aber sie fand dort nichts, was sie hätte aufheitern können.,, O, wenn ich doch seinen alten Messingknopf wiederfinden könnte, " seufzte sie halblaut.,, Jetzt hab ' ich gar nichts zur Erinnerung an ihn! " Und sie schluckte ein paar Tränen hinunter. Plötzlich blieb sie stehen und flüsterte:,, Grad ' hier war's. Ach Gott, wenn ich's nochmal tun sollte, ich würd's nicht sagen - - ich würd's nicht sagen für die ganze Welt! Aber er ist jetzt fortgegangen - - und ich werd ' ihn nie - - nie wiedersehen - - " Dieser Gedanke ließ sie zusammenbrechen, sie schlich fort, während die Tränen ihr über die Backen niederflossen. Dann kam ein Haufe Buben und Mädel - - Spielkameraden von Tom und Joe, - - schauten über den Zaun und besprachen in halbem Ton, wie Tom dies und das tat in der letzten Zeit, wo sie ihn gesehen hatten, und wie Joe diesen und jenen nebensächlichen Ausspruch getan hatte (mit unheimlichem Voraussehen der Ereignisse, wie sie jetzt wußten!) - - und jeder Sprecher bezeichnete ganz genau die Stelle, wo die vermißten Flüchtlinge damals gestanden hatten, und dann fügten sie hinzu:,, und ich stand gerad so, gerad wie ich jetzt steh ', und als wenn du er wärest, und ich hab ' genau auf alles geachtet, und er lächelte - - genau so - - und dann überlief es mich ordentlich, ganz - - schreck - - lich, ihr wißt ja auch, und ich konnt ' mir gar nicht denken, was es sein könne, aber jetzt weiß ich's. " Darauf erhob sich ein Streit, wer die toten Jungen zuletzt gesehen habe, viele erhoben diesen traurigen Anspruch und boten Beweise, mehr oder weniger durch Zeugen erhärtet, an; und als endgültig festgestellt war, wer sie in der Tat zuletzt gesehen und die letzten Worte mit ihnen gewechselt hatte, bekamen die Betreffenden dadurch eine Art geheiligter Bedeutung und wurden von allen angestaunt und beneidet. Ein armer, kleiner Bursche, der niemals besonders beachtet worden war, sagte, mit ordentlich stolzem Ausdruck:,, Na, mich hat Tom Sawyer mal geprügelt! " Aber dieser Ruhm war sehr vergänglich. Die meisten der Jungen konnten das sagen, und das verringerte die Auszeichnung doch sehr. Die Gesellschaft trollte sich, mit halber Stimme noch weiter Erinnerungen an die verlorenen Helden austauschend. Als am nächsten Tage die Sonntagsschule zu Ende war, begann die Glocke zu läuten, statt, wie sonst, zu klingeln. Es war ein sehr stiller Sonntag, und der traurige Ton schien sich mit der sinnenden Ruhe, die auf der Natur lag, zu vermischen. Die Dorfbewohner trafen nach und nach ein, in der Vorhalle einen Augenblick stehen bleibend und wispernd sich über das traurige Ereignis unterhaltend. Aber im Gotteshause wurde nicht geflüstert. Nur das feierliche Rascheln der Kleider, indem sie sich auf ihre Plätze begaben, störte hier die Stille. Niemand wußte sich zu erinnern, daß die Kirche je so voll gewesen wäre. Es war eine erwartungsvolle, dumpfe Stille, und dann trat Tante Polly, gefolgt von Sid und Mary und durch die Harpersche Familie, alle in tiefer Trauer, und die ganze Gemeinde sowie der Geistliche erhoben sich ehrfurchtsvoll und blieben stehen, bis die Leidtragenden auf der ersten Bank sich niedergelassen hatten. Wieder trat allgemeines Schweigen ein, nur zuweilen durch unterdrücktes Schluchzen unterbrochen, und dann erhob der Geistliche die Hände und betete. Ein ergreifendes Lied wurde gesungen, worauf der Text folgte: Ich bin der Trost und das Leben. Im Verlauf seiner Predigt gab der Geistliche solche Bilder von der Sanftmut, dem ehrenhaften Lebenswandel und den vielversprechenden Talenten der verlorenen Durchgänger, daß jedermann, sich einbildend, diese Porträts zu erkennen, Schmerz empfand bei dem Gedanken, daß er gegen all das bisher blind gewesen sei und an den armen Jungen beständig nichts als Fehler und Flecken gesehen hatte. Der Geistliche erzählte manch rührendes Ereignis aus dem Leben der Verschwundenen, das ihre sanften, edelmütigen Naturen zeigte, und das Volk konnte jetzt leicht sehen, wie edel und schön diese Vorkommnisse waren und sich mit Kummer daran erinnern, daß sie ihnen damals, als sie sich zutrugen, als arge Spitzbubenstreiche erschienen waren, die den Ochsenziemer verdienten. Die Gemeinde wurde mehr und mehr gerührt, je weiter die ergreifende Predigt fortschritt, bis schließlich alles geknickt war und seine tränenreichen Klagen zu einem Chorus selbstanklagenden Schluchzens vereinigte; sogar der Geistliche überließ sich seinen Gefühlen und weinte auf offener Kanzel. Auf dem Chor entstand ein Rascheln, auf das aber niemand achtete; einen Augenblick später knarrte die Tür der Kirche. Der Geistliche hob die strömenden Augen vom Taschentuch und stand wie angedonnert. Eins um das andere Augenpaar folgte dem seinigen, und dann, wie von einem Impuls getrieben, erhob sich die Gemeinde und sah, wie die drei toten Jungen ganz gemütlich den Gang heraufgeschlendert kamen, Tom voran, dann Joe, zuletzt Huck, eine Ruine wandelnder Lumpen, mit schafsmäßig - verdutztem Gesicht. Sie waren in dem unbenutzten Chor versteckt gewesen und hatten ihrer eigenen Leichenrede zugehört. Tante Polly, Mary und die Harpers warfen sich auf die Wiederauferstandenen, sie mit Küssen überschüttend und Danksagungen ausstoßend, während der arme Huck verwirrt und unbehaglich dabei stand, ohne im geringsten zu wissen, was er mit sich anfangen und wohin er sich vor all den Augen, von denen ihn keines bewillkommnete, wenden sollte. Er stand einen Augenblick zögernd und machte einen schüchternen Versuch, sich wegzustehlen, aber Tom ergriff ihn und sagte:,, Tante Polly, ' s ist nicht recht. ' s muß sich jemand freuen, Huck wiederzusehen! ",, Und ' s soll auch! Ich freue mich, ihn zu sehen, armes, verlassenes Kind! " Und Tante Polly wandte ihre liebenswürdige Aufmerksamkeit jetzt ihm zu - - was ihn nur noch unbehaglicher machte als vorher. Plötzlich schrie der Geistliche aus vollem Halse:,, Lobet den Herren, den mächtigen König der Ehren! - - Singt - - und legt euer Herz rein! " Und sie taten's. Daß alte Lob - und Danklied drang mit triumphierender Inbrunst empor, und während es alles erzittern machte, schaute Tom Sawyer, der Seeräuber, um sich auf die neidische Jugend ringsum und bekannte in seinem Herzen, daß dies der stolzeste Moment in seinem Leben sei! Als die Gemeinde hinausströmte, meinten alle, sie möchten sich wohl nochmal lächerlich machen um dies Danklied nochmal so singen zu hören. Tom erhielt an diesem Tage mehr Püffe und Küsse - - je nach Tante Pollys Stimmung, als vorher in einem Jahre; und er wußte jetzt ganz genau, was am meisten Dank gegen Gott und Liebe zu ihm ausdrückte. Neunzehntes Kapitel. Das war Toms großes Geheimnis - - der Gedanke, nach Hause zurückzukehren und mit seinen Piratenbrüdern ihre eigene Grabrede anzuhören. Sie waren in der Nacht auf den Sonntag auf einem Baumstamm ans Missouriufer hinübergeschwommen, wo sie fünf oder sechs Meilen unterhalb des Dorfes landeten; hatten darauf dicht beim Orte im Walde geschlafen bis beinahe zum hellen Tage, waren durch mehrere abgelegene Gäßchen zur Kirche geschlichen und hatten ihren Schlaf auf dem Chor zwischen einem Chaos von zerbrochenen Bänken beendet. Beim Frühstück am Montag morgen waren Tante Polly und Mary sehr zärtlich mit Tom und sehr aufmerksam auf seine Wünsche. Die Unterhaltung war ungewöhnlich lebhaft. Im Verlaufe derselben sagte Tante Polly:,, Na, Tom, ich will nicht grad ' sagen, daß es ' ne besonders nette Sache war, alle Leute in Trübsal zu halten, fast ' ne Woche lang, während ihr Jungen euch ' ne gute Zeit machtet; aber traurig ist's, Tom, daß du so verstockt sein konntest, mich leiden zu lassen! Wenn du auf ' nem Baumstamme zu deiner Leichenrede rüberkommen konntest, hättst du wohl auch kommen können, um mir ' n Zeichen zu geben, daß du nicht tot seiest, sondern einfach davongelaufen. ",, Ja, Tom, " sagte Mary,,, das hättst du tun können. Und ich glaube, du hätt'st es getan, wenn du dran gedacht hättest. ",, Hättst du, Tom? " fragte Tante Polly, während ihr Gesicht sich erwartungsvoll aufhellte.,, Na - - sag ', hättst du's getan, wenn du dran gedacht hättest? ",, Ich - - na - - ich weiß doch nicht! ' s hätt ' ja alles verraten! ",, Tom, ich hätt ' doch gedacht, du hättst mich zu lieb für so was, " seufzte Tante Polly traurig, in einem Ton, bei dem Tom sehr ungemütlich wurde.,, ' s wär ' doch etwas gewesen, wenn du dir die Mühe genommen hättst, dran zu denken - - wenn du's schon nicht tatst. ",, Na, Tantchen, gräm, dich nur nicht darüber, " beruhigte Mary.,, ' s ist mal so Toms flüchtige Art - - er ist ja immer so zerstreut, daß er nie an was denkt. ",, Um so schlimmer. Sid hätt ' dran gedacht. Und Sid würd ' auch gekommen und ' s getan haben. Tom, du wirst eines Tages noch mal zurückdenken, wenn's zu spät ist, und wünschen, daß du dich ' n bißchen mehr um mich gekümmert hättst, wo's dir doch so leicht gewesen wär '. ",, Na, Tantchen, du weißt doch, ich hab ' dich lieb, " schmeichelte Tom.,, Ich würd's besser wissen, wenn du's mehr zeigtest. ",, Wollt ', ich hätt ' dran gedacht, " sagte Tom in reuevollem Ton.,, aber - - ich hab ' wenigstens geträumt von dir. ' s ist doch was, nicht? ",, ' s ist nicht viel - - ' s ist für ' ne Katze viel - - aber ' s ist mehr als nichts. Was hast du denn geträumt? ",, Na, in der Mittwochnacht träumte mir, ihr säßet zusammen, dicht beim Bett, Sid saß auf der Holzkiste und Mary dicht bei ihm. ",, So war's - - so war's ganz genau! Bin doch froh, daß du wenigstens von uns zu träumen dich bequemt hast. ",, Und ich träumte, Joe Harpers Mutter wär ' hier. ",, Na - - sie war hier! Träumtest du noch mehr? ",, O - - ' nen Haufen! Aber ' s ist jetzt alles verschwommen. ",, Na, versuch's nur - - besinn ' dich - - geht's nicht? ",, ' s scheint mir so was, als wenn der Wind - - der Wind ausgeblasen hätt ' - - - - ",, Denk ' besser nach, Tom! Der Wind hat nichts ausgeblasen - - na! " Tom preßte während eines Augenblicks gespannten Nachdenkens die Finger gegen die Stirn und sagte dann:,, Na - - jetzt weiß ich's! Jetzt hab ' ich's wieder! Er ließ das Licht flackern - - ",, Gott erbarm ' dich! Weiter. Tom, weiter! ",, Und mir kam's vor, als hättst du gesagt:, Na - - ich glaub ' gar, die Tür - - ' ",, Weiter, Tom! ",, Laß mich ' nen Augenblick nachdenken! Nur ' nen Augenblick. - - Richtig, ja, - - du sagtest, du meintest, die Tür wär ' offen. ",, So wahr ich hier sitz ' - - ich sagte so! Sagt ' ich's nicht, Mary? Weiter! ",, Und dann - - und dann - - - - ja, ich weiß nicht ganz gewiß, aber ' s ist mir doch, als hättst du Sid hingehen lassen und - - und - - - - ",, Na, na? Wohin ließ ich ihn gehen? Was ließ ich ihn tun, Tom? ",, Du ließest ihn - - du, - - ach, du ließest, ihn die Tür zumachen! ",, Beim Himmel, ' s ist so! So was hab ' ich doch mein ' Tag ' noch nicht gehört! Sag ' mir keiner mehr, Träume bedeuten nichts! Die überkluge Harper soll davon zu wissen bekommen, eh ich ' ne Stunde älter bin. Möcht ' doch sehen, wie sie mit ihrem Geschwätz von Aberglauben um das ' rum kommt! Weiter, Tom! ",, O, jetzt ist mir alles so klar wie der Tag! Dann sagtest du, ich wär ' nicht schlecht, nur leichtsinnig und gedankenlos, und dächte nie an irgend was - - wie - - wie - - glaub ', ' s war ' n Füllen - - oder so. ",, Na, so war's, ja! Na - - Gottes Wunder! Weiter, Tom! ",, Und dann fingst du an zu weinen. ",, Ja, ich tat's ich tat's! Und wahrhaftig nicht zum erstenmal. - - Und dann - - ",, Dann begann Mrs. Harper zu weinen und sagte, Joe wär ' grad ' so einer, und sie wollte, sie hätt ' ihn nicht gehaun deswegen, daß er den Rahm genommen haben sollte, den sie doch selbst weggeschüttet gehabt hätt ' - - ",, Tom! Der Geist war über dir! Du hattst Sehergabe - - ja, gewiß, das hattst du! Herrgott! Weiter, Tom! ",, Dann sagte Sid - - - - er sagte - - ",, Glaub ', ich sagte gar nichts, " warf Sid schnell ein.,, Doch, du tatst es Sid, " entgegnete Mary.,, Laßt das Zanken und laßt Tom sprechen. Was sagte er, Tom? ",, Er sagte - - ich denk ', er sagte, er hoffe, ich wär besser dran, wo ich setzt sei, aber wenn ich manchmal besser gewesen wär ' - - ",, Da - - hört ihr's? ' s waren seine eigenen Worte! ",, Und du leuchtetest ihm ordentlich heim. ",, Ich denke wohl, daß ich's tat! ' s muß ein Engel hier gewesen sein! Ein Engel war hier, ' s ist zweifellos! ",, Und Mrs. Harper erzählte von Joe, wie er ihr durch ' nen Schwärmer ' nen Schrecken eingejagt hätte, und du erzähltest von Peter und dem, Schmerzenstöter ' - - ",, So wahr ich leb '! ",, Und dann schwatztet ihr alle durcheinander, daß der Fluß nach uns durchsucht worden sei und daß am Sonntag unsere Leichenfeier sein sollt ', und dann fielst du und die alte Mrs. Harper euch in die Arme und weintet, und dann ging sie fort. ",, ' s war ganz genau so! ' s war genau so, so gewiß, wie ich hier aus dem Stuhl sitz '. Tom, hättst es nicht besser erzählen können, wenn du hier gewesen wärst! Und was dann? Weiter, Tom! ",, Dann träumte ich, daß du für mich betetest - - und ich konnt dich sehen und jedes Wort hören, das du sagtest. Und dann gingst du zu Bett, und ich war so traurig, daß ich auf ' n Stück Sykomorenrinde schrieb:, Wir sind nicht tot - - wir sind nur fort, um Piraten zu werden, ' und legte das auf den Tisch neben den Leuchter. Und dann sahst du so lieb aus, wie du dalagst und schliefst, daß ich träumte, ich beugte mich über dich und küßte dich. ",, Tatst du's, Tom? Tatst du's? Dafür vergeb ' ich dir wahrhaftig alles! " Und sie schloß den Jungen mit solcher Inbrunst in ihre Arme, daß er sich wie der schwärzeste der Verräter erschien.,, ' s war sehr nett - - ' s war aber doch nur ein - - Traum, " brummte Sid für sich halblaut, aber hörbar.,, Halt den Mund, Sid! Jedermann tut im Traum ganz genau dasselbe, was er tun würde, wenn er wach wär '! Hier, Tom, ist ein schöner Apfel, den ich für dich aufgehoben hab ', wenn du mal wiedergefunden würdst - - nun fort zur Schule! Ich dank dem lieben Gott und Vater für uns alle, daß ich dich wiederbekommen hab ', er ist langmütig und barmherzig gegen die, so an ihn glauben und sein Wort halten; obwohl ich weiß, daß ich seine Güte nicht verdiene; aber wenn nur die Guten seinen Segen hätten und seine Hand, ihnen auf den rauhen Pfaden des Lebens beizustehen, würd ' hier wenig Fröhlichkeit sein, und wenige würden, wenn die lange Nacht kommt, zu seiner Herrlichkeit eingehen dürfen. - - Na, macht fort, Sid, Mary, Tom - - macht fort, packt euch, habt mich lange genug aufgehalten. " Die Kinder gingen zur Schule und die alte Dame zu Mrs. Harper, um ihren Unglauben durch Toms wundervollen Traum zu vernichten. Sid hütete sich wohl, den Gedanken auszusprechen, der ihn beherrschte, als er das Haus verließ:,, Ein bißchen durchsichtig - - ' s ist doch zu lang für ' nen Traum, - - und nicht ein Irrtum. " Welch ein Held war Tom geworden! Er sprang und tollte nicht mehr herum, sondern bewegte sich mit würdevollem Ernst, wie es sich für einen Piraten geziemt, der fühlt, daß er der Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit ist. Und er war es in der Tat; er suchte sich so zu stellen, als sehe er die Blicke nicht und höre nicht die Bemerkungen, wie er so dahinschlenderte, aber sie waren wahrer Balsam für ihn. Kleinere Jungen als er hefteten sich an seine Fersen, stolz, mit ihm gesehen zu werden und von ihm geduldet, als wäre er der Trommler an der Spitze einer Prozession gewesen oder der Elefant, der eine Menagerie in die Stadt führt. Gleichalterige Jungen wollten gar nicht wissen, daß er überhaupt fortgewesen sei, aber sie verzehrten sich nichtsdestoweniger vor Neid. Sie hätten alles dafür gegeben, seine dunkle, sonnenverbrannte Haut zu besitzen und seinen glänzenden Ruf; und Tom hätte beides nicht einmal für einen Zirkus fortgegeben. In der Schule machten die Kinder so viel aus ihm und Joe, und zeigten ihnen so wortreiche Bewunderung, daß es gar nicht lange dauerte, bis die beiden Helden ganz unleidlich aufgeblasen wurden. Sie fingen an, ihre Abenteuer ihren hungrigen Zuhörern zu erzählen - - aber sie fingen immer nur an; die Geschichten konnten auch kein Ende haben bei einer an ausschmückenden Abschweifungen so fruchtbaren Phantasie als die ihrige war. Und schließlich, als sie ihre Pfeifen herauszogen und nachlässig anfingen, zu rauchen, war der höchste Gipfel des Ruhmes erreicht. Tom nahm sich vor, in Zukunft sich nicht mehr um Becky Thatcher zu kümmern. Ruhm war ihm genug. Er wollte nur für den Ruhm leben. Nun er eine hervorragende Persönlichkeit war, würde sie wohl versuchen, wieder,, anzubinden ". Na, mochte sie - - sie sollte sehen, daß er ebenso unempfänglich sein konnte wie andere Leute. Grade kam sie daher. Tom stellte sich, als sehe er sie nicht. Er ging fort und gesellte sich zu einer anderen Gruppe Buben und Mädchen und begann zu erzählen. Bald merkte er, daß sie aufgeregt, mit glühenden Backen und glänzenden Augen, umhertrippelte und sich stellte, als denke sie an gar nicht anderes, als sich mit anderen Schulmädchen herumzuschubsen und ein lautes Gelächter auszustoßen, wenn sie eine erwischt hatte; aber er merkte auch, daß sie ihre Gefangenen immer in seiner Nähe machte, und daß sie dann stets verstohlen zu ihm hinüberschielte. Das schmeichelte der lasterhaften Eitelkeit in ihm, und statt daß es ihn getrieben hätte, wieder einzulenken, machte es ihn nur noch arroganter und ließ ihn noch geflissentlicher eine Miene aufsetzen, als wisse er gar nichts von ihrer Anwesenheit. Plötzlich gab sie ihr Umhertollen auf, strich unentschlossen herum, seufzte ein paarmal und suchte Tom verstohlen und sehnsuchtsvoll mit den Augen. Dann entdeckte sie, wie angelegentlich Tom mit Amy Lawrence plauderte. Sie empfand einen stechenden Schmerz und wurde auf einmal zerstreut und unsicher. Sie nahm sich vor, davonzugehen, aber ihre Füße trugen sie, ihrem Vorsatz zum Trotz, wieder zu der Gruppe hin. Sie sagte zu einem Mädchen, unmittelbar neben Tom - - mit erzwungener Ausgelassenheit:,, Du, Mary Austin! Du böses Mädel, warum kamst du gestern nicht zur Sonntagsschule? ",, Ich war doch da - - hast du mich denn nicht gesehen? ",, Aber, nein! Warst du da? Wo saßest du denn? ",, In Miß Peters ihrer Klasse, wo ich immer sitze. Ich hab ' dich gesehen. ",, So, wirklich? Na, ' s ist doch närrisch, daß ich dich nicht gesehen hab '. Ich wollt ' dir doch von dem Picknick sagen. ",, O, das ist famos! Wer will eins geben? ",, Meine Mama läßt mich eins geben. ",, Ach, wie reizend! Hoff doch, daß ich auch kommen darf? ",, Na, natürlich, ' s ist doch mein Picknick. ' s kann jeder kommen, den ich will - - und dich will ich. ",, Das ist mal nett. Wann ist's denn? ",, Na - - bald. So um die Ferien ' rum. ",, Das wird mal ' n Spaß! Hast du alle Knaben und Mädchen eingeladen? ",, Ja, alle, die meine Freunde sind - - oder sein wollen, " und sie schielte wieder so verstohlen nach Tom; aber er erzählte grade Amy Lawrence von dem schrecklichen Sturm auf der Insel und wie der Blitz die große Sykomore traf,,, ganz dicht bei mir, keine drei Schritt davon. ",, Du, darf ich auch kommen? " fragte Gracie Miller.,, Und ich? " Sally Rogers.,, Und ich auch? " Susy Harper.,, Und Joe? ",, Ja. " Und so immer weiter mit freudigem Händeklatschen, bis alle in der Gruppe sich ihre Einladung geholt hatten bis auf Tom und Amy. Dann wandte sich Tom kalt ab, immer noch erzählend, und zog Amy mit sich fort. Beckys Lippen zitterten, und die Tränen traten ihr in die Augen. Sie unterdrückte diese verräterischen Zeichen mit forzierter Heiterkeit und fing an zu plappern, aber das Vergnügen am Picknick war zu Ende, und auch aus allem anderen machte sie sich nun nichts mehr. Sobald es ging, lief sie davon, versteckte sich und befreite sich nach der Art ihres Geschlechts durch Tränen von ihrem Kummer. Dann saß sie verdrießlich, mit beleidigter Miene da, bis die Glocke erklang. Mit rachsüchtigem Ausdruck in den Augen sprang sie auf, gab ihren dicken Zöpfen einen tüchtigen Schubs und dachte, sie wisse jetzt schon, was sie zu tun habe. In der Ecke setzte Tom seine Schäkerei mit Amy mit jubelnder Selbstzufriedenheit fort. Und er brannte darauf, Becky zu finden und sie mit seiner Überlegenheit zu foltern. Schließlich entdeckte er sie, aber das Herz fiel ihm plötzlich in die Hosen. Sie saß auf einem Bänkchen hinterm Schulhaus ganz gemütlich, mit Alfred Temple, in ein Bilderbuch schauend. Und so vertieft waren beide, und ihre Köpfe steckten über dem Buch so dicht zusammen, daß sie gar nichts um sich her wahrzunehmen schienen. Eifersucht rann glühend heiß durch Toms Adern. Er begann, sich selbst zu hassen, weil er die Gelegenheit zur Versöhnung, die ihm Becky geboten, nicht benützt hatte. Er nannte sich selbst einen Narren und gab sich alle Ehrentitel, die ihm gerade einfallen wollten. Er hätte schreien mögen vor Wut. Amy schwatzte ganz vergnügt weiter, indem sie auf und ab gingen, denn ihr Herz war voll Seligkeit, aber Toms Zunge schien gelähmt zu sein. Er hörte gar nicht, was Amy sagte, und so oft sie eine Pause machte, um seine Antwort abzuwarten, konnte er nur irgend eine tölpelhafte Bemerkung hervorstammeln, die möglichst oft ganz falsch angebracht war. Immer wieder suchte er nach der Hinterseite des Schulhauses zu gelangen, um sich an dem verhaßten Anblick zu weiden. Er konnte nicht anders. Und es folterte ihn, zu sehen, wie Becky Thatcher gar nicht zu wissen schien, daß er auch noch im Lande oder überhaupt unter den Lebenden weile. Indessen sah sie ihn sehr wohl; und sie war sich ihres Sieges sehr wohl bewußt und sah ihn mit Wollust ebenso leiden, wie sie vorher gelitten hatte. Amys Glück fing an, unerträglich zu werden. Tom schützte allerlei Angelegenheiten, die er zu erledigen hatte, vor. Er mußte fort, und die Zeit verrann. Aber vergeblich - - das Mädel ließ nicht locker. Tom dachte: O, hol sie der Teufel - - soll ich sie nie los werden? Schließlich mußte er aber wirklich seine Angelegenheiten besorgen; sie gab ihm arglos das Versprechen, nach der Schule ihm,, auflauern " zu wollen. Und er rannte davon, sie dafür verwünschend.,, Jeder andere Junge! " dachte Tom, mit den Zähnen knirschend,,, jeder andere im ganzen Dorf, nur nicht dieser Heilige, der denkt, weil er sich fein anzieht, ist er ' n Vornehmer. Na, wart ' nur! Hab ' ich dich am ersten Tag, wo du hier warst, geprügelt, mein Kerlchen, werd ' ich's jetzt ja wohl auch noch können! Wart ' nur, bis ich dich mal tüchtig beim Kragen nehm '! Möcht's gleich tun am liebsten, und - - " Und mit wahrer Wonne prügelte er ' nen imaginären Jungen durch - - in der Luft herumfuchtelnd, stoßend und puffend.,, Na, wird's - - wird's? Wirst du bald, genug ' sagen? So, nu merk's dir für ' n andermal! " So war der Kampf bald zu seiner Zufriedenheit beendigt. Tom rannte mittags heim. Sein Gewissen ertrug's nicht, nochmals Amys dankbare Glückseligkeit anzusehen, und seine Eifersucht erlaubte keine andere Zerstreuung. Becky setzte ihr Bilder - Besehen mit Alfred fort, aber als sich Minute an Minute reihte und kein Tom kam, um sich quälen zu lassen, begann ihr Triumphgefühl sich abzukühlen, und sie verlor das Interesse; Unaufmerksamkeit und Geistesabwesenheit folgten, und dann Melancholie. Ein paarmal fing sie mit dem Gehör Fußtritte auf, aber es war jedesmal vergebliches Hoffen; kein Tom kam. Schließlich wurde ihr ganz elend zumute, und sie wünschte, sie hätte die Sache nicht so weit getrieben. Als der arme Alfred bemerkte, daß sie ihm entschlüpfte, nicht wußte, wie, und fortwährend krampfhaft schrie:,, O, hier ist ' n famoses! Schau dies mal an! " verlor sie schließlich die Geduld und sagte:,, Ach was, quäl ' mich nicht! Hab ' keine Lust mehr dazu! " brach in Tränen aus, sprang auf und rannte davon. Alfred trottete nebenher und wollte sie trösten und beruhigen, aber sie sagte:,, Mach, daß du dich fortscherst und laß mich allein, willst du? Ich mag dich gar nicht! " So blieb der Junge denn zurück, sich wundernd, was er verbrochen haben könne - - denn sie hatte ihm doch versprochen, den ganzen Nachmittag Bilder zu besehen - - und sie rannte heulend davon. Dann kehrte Alfred betrübt ins Schulhaus zurück. Er fühlte sich gedemütigt und beleidigt. Er fand aber sehr leicht die Wahrheit heraus - - das Mädel hatte ganz einfach ihr Spiel mit ihm getrieben, nur um ihren Zorn an Tom Sawyer auszulassen. Er haßte Tom durchaus nicht weniger, als dieser Gedanke in ihm aufstieg. Nichts wünschte er mehr, als auf irgend eine Weise diesem Jungen was einzubrocken, ohne selbst was zu riskieren. Toms Rechtschreibebuch fiel ihm in die Augen. Die Gelegenheit war günstig. Dankbar öffnete er es bei der Lektion für den Nachmittag und goß Tinte über die Seite. Becky, einen Augenblick hinter ihm durchs Fenster schauend, sah es und drückte sich davon, ohne sich zu verraten. Sie lief nach Haus, in der Absicht, Tom zu suchen und ihm alles zu sagen. Tom würde ihr dankbar sein und aller Zank wäre damit zu Ende. Bevor sie aber den halben Weg zurückgelegt hatte, war sie anderen Sinnes geworden. Der Gedanke daran, wie sie Tom behandelt hatte, als sie von ihrem Picknick sprach, kam wieder brennend über sie und erfüllte sie mit Scham. Sie beschloß, ihn in der Sache mit dem beschmutzten Buch ruhig in der Patsche stecken zu lassen und ihn obendrein für immer und ewig zu hassen. Zwanzigstes Kapitel. Tom langte in verdrießlichster Laune zu Hause an, und das erste Wort, das Tante Polly an ihn richtete, zeigte ihm, daß er seinen Kummer an einen sehr wenig versprechenden Ort getragen habe.,, Tom, ich möchte dir doch gleich die Haut über die Ohren ziehn! ",, Tantchen, was hab ' ich denn getan? ",, Na, du hast genug getan. Da geh ' ich altes, einfältiges Weib zur Harper hinüber und denk ', ich will sie an all den Unsinn vom Träumen glauben machen, und siehe da - - sie hat von Joe herausbekommen, daß du ' rüber gekommen bist und hast alles gehört, was wir in der Nacht gesprochen haben. Tom, ich weiß nicht, was aus ' nem Jungen werden soll, der sich so benimmt. ' s macht mich so traurig, zu denken, daß du mich ruhig zur Harper gehen ließt und so ' ne Närrin aus mir machen konntest - - ohne ' n Wort zu sagen. " Das war nun ' ne neue Ansicht von der Sache. Seine Gerissenheit von heut morgen war Tom als famoser Witz und äußerst genial erschienen. Jetzt erschien sie ihm höchst mittelmäßig und schäbig. Er ließ den Kopf hängen und wußte in diesem Augenblick nicht, was sagen. Dann sagte er schüchtern:,, Tantchen, ich wollt ', ich hätt's nicht getan - - aber ich dachte nicht dran. ",, Ach, Kind, du denkst eben nie. Du denkst an nichts als dein eigenes Pläsier. Daran hast du gedacht, den weiten Weg von Jacksons Insel herüber bei Nacht und Nebel zu machen, um über unsern Kummer zu lachen, und hast dran gedacht, mich mit ' ner Lüge von dem Traum zu betrügen, aber daran hast du nicht gedacht, Mitleid zu haben und uns vor Sorge zu bewahren. ",, Tantchen, ich weiß jetzt, ' s war gemein, aber ' s war ja nicht meine Absicht, gemein zu sein; auf Ehre, das war's nicht! Und dann - - ich bin nicht rüber gekommen, um über euch zu lachen! ",, Warum also bist du gekommen? ",, ' s war, um dir zu sagen, daß du dir keine Sorge zu machen brauchst, weil wir davongelaufen waren. ",, Tom, Tom, ich wäre die dankbarste alte Frau auf der Welt, wenn ich dran glauben könnte, daß du daran gedacht hast, aber du weißt, du tatst es nicht, und ich weiß es auch, Tom. ",, Aber, gewiß - - ganz gewiß, ' s war so, Tantchen - - ich will mich nicht mehr rühren können, wenn's nicht so ist! ",, Ach, Tom, lüg ' nicht - - tu's nicht! Das macht die Sache nur hundertmal schlimmer. ",, Ich hab ' aber nicht gelogen, Tante. ' s ist die Wahrheit! Ich wollt ' dir den Kummer ersparen - - das allein war's, was mich nach Hause trieb. ",, Die ganze Welt würd ' ich drum geben, könnt ' ich's glauben! ' nen ganzen Haufen Dummheiten würd ' ich dir dafür vergessen, Tom. ' s war schlimm genug, daß du fortliefst und so schlecht handeltest. Aber, ' s ist begreiflich. Aber warum sagtest du mir's nicht, Tom? ",, Warum? Na - - sieh, Tante, als ihr anfingt, vom Trauergottesdienst zu sprechen, kam mir auf einmal die Idee, ' rüber zu kommen und mich in der Kirche zu verstecken und da bracht ' ich's nicht fertig, mir das selbst zu verderben. So steckt ' ich die Rinde wieder in die Tasche und hielt den Mund. ",, Was für ' ne Rinde? ",, Die Rinde, worauf ich geschrieben hatte, daß wir Piraten geworden seien. Jetzt wollt ' ich nur, du wärst aufgewacht, als ich dich küßte - - auf Ehre, ich wollt's! " Das strenge Gesicht Tante Pollys hellte sich auf und Zärtlichkeit zitterte in ihrer Stimme:,, Hast du mich geküsst, Tom? ",, Freilich hab ' ich's getan. ",, Weißt du's gewiß, daß du's tatst? ",, Aber ja, ich tat's, Tantchen - - ganz gewiß! ",, Warum küßtest du mich, Tom? ",, Weil ich dich lieb hab ', und du im Schlafen seufztest und ich so traurig war. " Die Worte klangen wahr. Die alte Dame konnte das Zittern in ihrer Stimme nicht verbergen, als sie sagte:,, Küß mich noch mal, Tom! - - Und jetzt fort mit dir zur Schule, und ärgere mich nicht wieder. " Sobald er fort war, rannte sie zum Wandschrank und riß die Ruine der Jacke heraus, in der Tom unter die Piraten gegangen war. Dann hielt sie wieder inne und sagte zu sich:,, Nein, ich tu's nicht. Armer Junge - - ich denke, du hast's gelogen - - aber ' s ist ' ne gesegnete, gesegnete Lüge, ' s ist was Treuherziges drin. Ich hoffe, der Herr - - ich weiß, der Herr wird ihm vergeben, denn ' s war doch gutherzig von ihm, das zu sagen. Aber, ich will gar nicht wissen, daß es ' ne Lüge ist. Ich will nicht nachsehn. " Sie tat die Jacke wieder fort und stand eine Minute unentschlossen. Zum zweitenmal streckte sie die Hand aus nach dem Kleidungsstück, und zum zweitenmal zog sie sie zurück. Und nochmals griff sie danach, und diesmal ermutigte sie sich selbst mit dem Gedanken:,, ' s ist ' ne gute Lüge - - ' s ist ' ne gute Lüge - - ich will mich nicht dadurch kränken lassen. " So griff sie in die Tasche der Jacke. Einen Moment später las sie unter Tränen Toms Schriftstück und schluchzte:,, Jetzt könnt ' ich dem Jungen vergeben, und wenn er ' ne Million dummer Streiche gemacht hätte. " Einundzwanzigstes Kapitel. Es war etwas in Tante Pollys Art, als sie Tom küßte, das seinen betrübten Geist wieder aufrichtete und ihn wieder leichtherzig und glücklich machte. Er rannte zur Schule und hatte das Glück, auf Becky Thatcher zu stoßen. Seine Stimmung wechselte beständig. Ohne einen Augenblick der Überlegung rannte er auf sie zu und sagte:,, Hab ' mich heut morgen ganz gemein benommen, Becky, und jetzt bin ich so traurig drüber. Ich will nie, nie wieder so was tun, so lang ' ich leb ' - - willst du jetzt wieder gut sein? " Das Mädchen blieb stehen und schaute ihn verächtlich an:,, Ich würd ' dir dankbar sein, wenn du dich um dich selbst kümmern würdst, Herr Thomas Sawyer! Ich werd ' nie wieder mit dir sprechen. " Sie hob stolz den Kopf und spazierte davon. Tom war so verblüfft, daß er nicht mal Geistesgegenwart genug hatte, zu sagen:,, Wie's beliebt, Jungfer Naseweis, " bis der rechte Augenblick vorüber war. So sagte er gar nichts. Aber er war nichtsdestoweniger in heller Wut. Er rannte auf den Schulhof, wünschend, sie wär ' n Junge, und sich vorstellend, wie er sie durchprügeln wollte, wenn sie einer wär. Er suchte ihr zu begegnen, und als sie vorbeikam, schleuderte er ihr eine bissige Bemerkung zu. Sie gab sie ihm zurück, und der traurige Bruch war vollständig. Becky glaubte, in ihrem Haß kaum abwarten zu können, bis die Schule begönne, so ungeduldig war sie, Tom seine Prügel für das besudelte Buch bekommen zu sehen. Wenn sie noch ein bißchen gezweifelt hatte, ob sie Alfred Temple anzeigen solle, hatte Toms beleidigendes Benehmen diese Zweifel endgültig beseitigt. Armes Mädchen, sie wußte nicht, wie nahe sie selbst solchem Unglück sei. Der Lehrer, Mr. Dobbins, hegte trotz seiner mittleren Jahre noch unbefriedigten Ehrgeiz. Sein Lieblingswunsch war gewesen, Doktor zu werden, aber Armut hatte entschieden, daß er nichts weiter werden solle als ein Dorfschulmeister. Täglich zog er ein geheimnisvolles Buch aus seinem Pult und vertiefte sich darin, wenn gerade keine der Klassen aufsagte. Er hielt das Buch unter sicherem Verschluß. Nicht ein Bengel war in der Schule, der nicht darauf gebrannt hätte, einen Blick hineinzuwerfen, aber es bot sich niemals eine Gelegenheit. Alle Buben und Mädel hatten ihre eigene Ansicht über den Inhalt des Buches; aber nicht zwei Ansichten stimmten überein, und es gab kein Mittel, diese Streitfrage zu entscheiden. Jetzt, als Becky am Pult vorbeikam, das nahe der Tür stand, sah sie, daß der Schlüssel steckte. ' s war ein wundervoller Moment. Sie schaute um sich, sah sich allein und im nächsten Augenblick hielt sie das Buch in der Hand. Das Titelblatt - -,, Anatomie von Professor Irgendwer " - - brachte ihr keine Aufklärung. So begann sie die Blätter umzuwenden. Plötzlich stieß sie auf eine hübsche gestochene und übermalte Abbildung - - eine menschliche Figur. In dem Augenblick fiel ein Schatten aufs Papier, und Tom kam ins Zimmer gerannt und gewahrte ein Eckchen der Abbildung. Becky hielt das Buch rasch beiseite, wollte es zumachen und hatte das Unglück, das Bild bis fast zur Mitte durchzureißen. Sie warf das Buch ins Pult, drehte den Schlüssel um und rannte davon, vor Wut und Schrecken schreiend:,, Tom Sawyer, du bist doch so gemein wie nur möglich, jemand so zu erschrecken und zu sehen, was man da grad hat! ",, Aber, wie konnt ' ich denn wissen, daß du da was besehen hast? ",, Du solltest dich vor dir selbst schämen, Tom Sawyer! Du weißt wohl, daß du mir aufgepaßt hast! Ach Gott, was soll ich tun, was soll ich tun! Ich werd ' geprügelt, und ich bin noch nie - - mals geprügelt worden in der Schule - - " Dann stampfte sie mit ihrem kleinen Fuß und heulte:,, Sei so gemein, wenn du willst! Ich weiß auch was, was du kriegst! Wart nur, wirst's schon sehn! Scheußlich! " Und sie rannte aus der Tür, unter einer neuen Flut von Tränen. Tom stand still, ganz erstaunt über diesen Ausbruch. Dann sagte er zu sich:,, Was für ' n sonderbares Stück von ' ner Närrin so ' n Mädel ist. Niemals geprügelt in der Schule! Gott, was sind Prügel! Das ist recht so ' n Mädel - - alle sind sie dünnhäutig und schwachherzig. Na, ich werd ' nicht hingehn und diese Närrin beim alten Dobbins verklatschen, aber ' s kommt auf irgend ' ne andere Art ja doch raus; na, was geht's mich an? Der alte Dobbins wird fragen, wer das Buch zerrissen hat. ' s wird's niemand sagen. Dann fragt er der Reihe nach, wie er's immer tut - - fragt die erste und dann so weiter, und dann, wenn er ans rechte Mädel kommt, weiß er's, ohne daß sie's sagt. Die Mädel verraten sich ja immer! Sie haben auch gar keinen Schneid. Sie verrät sich gleich. Na, ' s ist ' ne nette Patsche für Becky Thatcher, ' s gibt kein Mittel, da raus zu kommen. " Tom dachte noch einen Augenblick darüber nach und fügte dann hinzu:,, Na, meinetwegen; ' s wird ihr Spaß machen, mich in so ' ner Patsche stecken zu sehn - - mag sie's auch mal ausbaden! " Tom begab sich wieder zu der Gesellschaft spektakelnder Jungen draußen. Bald kam der Lehrer und die Schule begann. Tom fühlte kein besonderes Interesse fürs Studium. Fortwährend schielte er auf die Mädchenseite, Beckys Gesicht störte ihn. Alles in allem, fühlte er kein Mitleid mit ihr und dann konnte er ihr ja auch nicht helfen. Aber er konnte auch keine rechte Schadenfreude, die diesen Namen wirklich verdient hätte, auftreiben. Plötzlich wurden die Tintenkleckse in seinem Buche entdeckt, und jetzt war sein Geist mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Becky fuhr aus ihrer Zerstreutheit auf und verfolgte mit großem Interesse die weitere Entwickelung. Sie glaubte nicht, daß sich Tom herausreden könne, und sie hatte recht. Das Leugnen schien die Sache für Tom nur schlimmer zu machen. Becky bemühte sich nach Kräften, sich drüber zu freuen, und versuchte auch, zu glauben, daß sie sich drüber freue, aber sie fand, daß es doch nicht so ganz gewiß sei. Als die Situation ganz kritisch wurde, fühlte sie die Versuchung, aufzuspringen und Alfred Temple anzuzeigen, aber sie machte eine Anstrengung und bezwang sich, zu schweigen, denn, sagte sie zu sich:,, Er wird mich mit dem Bild anzeigen, ganz gewiß. Ich würd ' kein Wort sagen, und könnt ' ich sein Leben retten. " Tom nahm seine Prügel in Empfang und ging auf seinen Platz zurück, nicht so ganz mit gebrochenem Herzen, denn er sagte sich, es wäre möglich, daß er selbst die Tinte über das Buch gegossen habe, ohne es zu wissen - - in Gedanken; geleugnet hatte er nur der Form wegen und weil's mal so Sitte war, und beim Leugnen geblieben war er aus Prinzip. Eine ganze Stunde schlich herum; der Lehrer saß nickend auf seinem Thron, die Luft wurde nur von dem Gemurmel der Lernenden bewegt. Allmählich richtete sich Mr. Dobbins auf, gähnte, schaute in seinem Reiche umher und griff nach seinem Buch, schien aber unentschlossen, ob er es herausnehmen oder liegen lassen solle. Die meisten Augen leuchteten schwach auf, aber zwei waren unter den Kindern, welche alle seine Bewegungen mit Interesse verfolgten. Mr. Dobbins fingerte ein paar Augenblicke in Gedanken am Buche herum, dann nahm er's heraus und setzte sich im Stuhl zurecht, um zu lesen. Tom schielte auf Becky. Er fing einen suchenden, hilflosen, furchtsamen Blick auf, der wie eine Kugel sein Herz durchbohrte. Sofort vergaß er seinen Streit mit ihr. Ruhig - - etwas mußte geschehen! und zwar sofort geschehen! Aber seine Tatkraft wurde durch die Unmittelbarkeit der Gefahr gelähmt. Gott - - er hatte eine Idee! Er wollte hinstürzen, das Buch ergreifen, aus der Tür rennen und fort! Aber er zauderte einen einzigen Moment, und die Gelegenheit war vorbei - - der Lehrer öffnete das Buch. Hätte Tom doch die Gelegenheit nochmals zurückrufen können! Zu spät - - er wußte, für Becky gab's keine Rettung mehr! Im nächsten Augenblick hatte der Lehrer das Verbrechen entdeckt. Jedes Auge senkte sich unter seinem starren Blick. Es lag etwas darin, was auch den Unschuldigsten mit Furcht erfüllte. Stillschweigen herrschte, daß man hätte bis wenigstens zehn zählen können. Der Lehrer wurde beständig zorniger. Nun fragte er:,, Wer zerriß dieses Buch? " Kein Ton. Man hätte eine Stecknadel fallen hören. Das Stillschweigen dauerte fort. Der Lehrer prüfte ein Gesicht nach dem anderen auf etwaiges Schuldbewußtsein hin.,, Benjamin Rogers, zerrissest du dieses Buch? " Kopfschütteln. Neue Pause.,, Josef Harper, tatest du es? " Wiederum Kopfschütteln. Toms Unruhe wurde größer und größer unter der langsamen Tortur dieses Vorgehens. Der Lehrer betrachtete prüfend die Bänke der Knaben eine Weile, dann wandte er sich zu den Mädchen:,, Amy Lawrence? " Kopfschütteln.,, Gracie Miller? " Dasselbe Zeichen.,, Susan Harper, tatest du dies? " Wiederum Verneinung. Das nächste Mädchen war Becky Thatcher. Tom zitterte von Kopf bis zu Fuß vor Aufregung und dem Gefühl der Machtlosigkeit.,, Rebekka Thatcher " - - (Tom schielte auf ihr Gesicht, es war weiß vor Schreck) - -,, zerrissest du - - nein, sieh mir ins Gesicht " - - (ihre Hände erhoben sich bittend),, zerrissest du dieses Buch? " Ein Gedanke schoß gleich einer Erleuchtung durch Toms Hirn. Er sprang auf die Füße und rief:,, Ich tat's! - - " Die ganze Schule war starr vor Staunen über solche Kühnheit. Tom stand einen Moment unbeweglich, um seine Lebensgeister zu sammeln; und als er vorschritt, seine Prügel in Empfang zu nehmen, schienen ihm Überraschung, Dankbarkeit, Anbetung, die aus den Augen der armen Becky zu ihm sprachen, Lohn genug für hundert Trachten Prügel. Begeistert durch den Glanz seiner eigenen Tat, nahm er ohne einen einzigen Schrei die saftigsten Prügel entgegen, die Mr. Dobbins jemals ausgeteilt hatte; ebenso gleichgültig empfing er die grausame Verschärfung der Strafe durch Zuerteilung von zwei Stunden Arrest - - denn er wußte, wer draußen auf ihn warten würde, bis seine Gefangenschaft vorüber sei. Tom ging an diesem Abend zu Bett voll Rachegedanken gegen Alfred Temple; denn voll Scham und Reue hatte Becky ihm alles gesagt, ihre eigene Verräterei nicht vergessend. Aber selbst das Verlangen nach Rache mußte bald weicheren Gefühlen weichen, und er schlief ein, Beckys letzte Worte als süße Musik in seinen Ohren:,, Tom, wie konntest du so edel sein! " Zweiundzwanzigstes Kapitel. Die Ferien nahten heran. Der Lehrer, immer streng, wurde jetzt noch strenger und genauer, denn er wollte sich am Examenstage mit seiner Schule von der besten Seite zeigen. Rute und Lineal kamen jetzt selten zur Ruhe - - besonders bei den kleinen Burschen. Nur die größten Jungen und die jungen Damen von achtzehn bis zwanzig kamen ohne Prügel davon. Und Mr. Dobbins ' Prügel waren noch dazu ganz ausgesucht. Denn obwohl er unter seiner Perücke einen vollkommen kahlen und glänzenden Schädel barg, stand er doch erst in mittleren Jahren und fühlte durchaus noch keine Schwäche in seinen Muskeln. Als der große Tag herannahte, trat alle Tyrannei, die in ihm war, zutage; er schien ein grausames Vergnügen daran zu finden, das kleinste Verbrechen zu bestrafen. Die Folge davon war, daß auch die kleinsten Burschen ihre Tage in Schrecken und Angst verbrachten, ihre Nächte in finsterem Rachebrüten. Sie ließen sich keine Gelegenheit entgehen, dem Lehrer einen Streich zu spielen. Aber er blieb stets Sieger. Die Vergeltung, welche jeder Rachetat folgte, war so ausgiebig und großartig, daß die Jungen stets schmählich geschlagen den Kampfplatz verließen. Schließlich zettelten sie eine gemeinsame Verschwörung an und heckten einen Plan aus, der einen blendenden Erfolg versprach. Sie entdeckten sich dem Anstreicherlehrling, setzten ihm ihre Idee auseinander und forderten seine Beihilfe. Der hatte seine eigenen Gründe, davon entzückt zu sein, denn der Lehrer wohnte in seines Vaters Familie und hatte ihm hinreichend Anlaß gegeben, ihn zu hassen. Des Lehrers Frau wollte in wenigen Tagen zu einem Besuch aufs Land gehen, und so stand der Ausführung des Planes nichts entgegen. Der Lehrer pflegte sich für große Gelegenheiten dadurch vorzubereiten, daß er sich einen hübschen kleinen Rausch zulegte, und der Anstreicherlehrling sagte, daß, wenn am Examenstage des Lehrers Zustand die rechte Höhe erreicht haben würde, er die Sache schon machen wolle, während jener seinen Nicker mache; er wolle ihn dann noch eben zur rechten Zeit wecken und zur Schule expedieren. Als die Zeit erfüllet war, trat dann das interessante Ereignis ein. Um acht Uhr des Abends war das Schulhaus festlich erleuchtet und mit Girlanden und Festons von Papier und Blumen geschmückt. Der Lehrer thronte in seinem großen Sessel auf einem erhöhten Podium, die schwarze Tafel hinter sich. Er sah leidlich angeheitert aus. Zwei Reihen Bänke auf jeder Seite und sechs ihm gegenüber wurden durch die Würdenträger des Ortes und die Eltern der kleinen Gesellschaft eingenommen. Zu seiner Linken, hinter den Reihen der Erwachsenen, war für diese Gelegenheit eine geräumige Plattform aufgestellt, auf der die Schüler saßen, die an den Übungen des Abends teilnehmen sollten. Reihen von kleinen Stöpseln zu einem höchst unleidlichen Zustand des Mißbehagens zurecht gewaschen und angezogen; Reihen von tölpelhaften größeren Jungen; weiß - strahlende Bänke von Mädchen und jungen Damen, in Leinen und Musselin gekleidet und augenscheinlich stolz auf ihre nackten Arme, ihren von der Großmama geerbten Schmuck, ihr Spitzwerk von rotem und blauem Band, und die Blumen in ihrem Haar. Der Rest des Saales war von unbeteiligten Schülern und Schülerinnen angefüllt. Die Prüfung begann. Ein sehr kleiner Bengel stand auf und deklamierte mit schafsmäßigem Gesicht: Kaum glaubt ihr, daß so'n kleiner Mann Hier vor euch stehn und sprechen kann - - usw. sich selbst mit den peinlich abgemessenen, krampfhaften Bewegungen begleitend, wie sie eine Maschine gemacht haben würde - - noch dazu eine etwas aus der Ordnung geratene Maschine. Aber er schlüpfte leidlich, wenn auch zu Tode geängstigt, durch und erhielt ' ne hübsche Menge Applaus, als er seine gezwungene Verbeugung produzierte und sich zurückzog. Ein kleines, verschämtes Mädchen lispelte darauf:,, Mary hat ein kleines Lamm " usw., machte einen mitleiderregenden Knicks, erhielt ebenfalls ihren Anteil am Beifall und setzte sich, hochrot und glücklich. Jetzt trat Tom mit gemachter Zuversicht vor und begann mit donnerndem Pathos das unverwüstliche,, Gib mir Freiheit oder Tod - - " unter wilden, wahnwitzigen Gebärden zu deklamieren - - und blieb in der Mitte stecken. Lähmende Angst packte ihn, die Knie zitterten unter ihm, er war nahe daran, zu ersticken. Es ist wahr, er hatte des Hauses Sympathie für sich, aber auch des Hauses Schweigen, was ebenso schwer wog wie jene. Der Lehrer runzelte die Stirn, und das vervollständigte seine Verwirrung. Tom kämpfte noch ' ne Weile und dann marschierte er ab, völlig geschlagen. Ein schwacher Versuch des Beifalls erstarb bald wieder. Es folgte:,, Der Knabe stand auf brennendem Deck ",,, Hernieder kam einst Assurs Macht " und andere deklamatorische Perlen. Dann wurden Leseübungen sowie ein Buchstabier - Gefecht vorgeführt. Die kleine Lateinklasse bestand mit Ehren. Der Hauptschlager des Abends kam jedoch jetzt erst, die,, Originalaufsätze " der jungen Damen. Der Reihe nach trippelten sie vor bis zum Rand der Plattform, räusperten sich, hoben ihr Manuskript (von einem zierlichen Band zusammengehalten) und begannen mit lobenswerter Beachtung des Ausdrucks und der Satzzeichen zu lesen. Die Themata waren dieselben, die bei ähnlichen Gelegenheiten vor ihnen von ihren Mamas, Großmamas und zweifellos all ihren weiblichen Vorfahren bis zurück zu den Kreuzzügen, gewählt worden waren.,, Freundschaft " hieß eins,,, Erinnerungen früher Tage " ein anderes; dann,, Die Religion in der Geschichte ",,, Das Land der Träume ",,, Die Vorteile der Kultur ",,, Vergleiche der politischen Staatsformen ",,, Melancholie ",,, Letzte Liebe ",,, Wünsche des Herzens " usw. Ein vorwiegender Zug in all diesen Aufsätzen war eine erzwungene, aufdringliche Schwermut; ein anderer verschwenderischer Gebrauch hochtrabender, geschwollener Redensarten; ferner die Manier, Worte und Bilder zu Tode zu hetzen; was sie aber ganz besonders unerträglich machte, waren die unleidlichen, salbungsvollen Moralpauken, womit jeder, aber auch jeder abschloß. Was auch der Gegenstand sein mochte, jedesmal gab's schließlich die krampfhaftesten Anstrengungen, ihn in solche Betrachtungen auslaufen zu lassen, damit Tugend und Frömmigkeit der Verfasserin nur ja gehörig ins rechte Licht gerückt würden. Die offenbare Verlogenheit dieser Machwerke war aber doch nicht imstande, Widerwillen gegen derartige Verwirrungen des Schulunterrichts zu erzeugen, und ist es überhaupt heutzutage nicht; wahrscheinlich war es überhaupt immer so, solange die Welt steht. Es gibt einfach keine Schule unseres Landes, wo sich die jungen Mädchen nicht verpflichtet fühlen, ihre Aufsätze mit solch einem Sermon zu schließen. Und man wird finden, daß die Sermone der verlogensten und am wenigsten wirklich religiösen Mädchen immer und ausnahmslos die längsten und frömmsten sind. Aber genug davon. Ein Prophet gilt ja nichts in seinem Vaterlande. Kehren wir zum Examen zurück. Der erste der vorgelesenen Aufsätze betitelte sich:,, Ist dies das Leben? " Vielleicht kann der Leser einen Auszug daraus vertragen.,, Mit welch überschwenglichen Gefühlen pflegt der jugendliche Geist vorwärts auf all die zu erwartenden Freudenfeste des Lebens zu schauen! Die Einbildungskraft ist geschäftig, rosig gefärbte Bilder der Freude zu malen. Im Geiste sieht sie sich als Günstling des Glückes, sieht sie sich inmitten strahlender Festlichkeiten,,, die Siegerin aller Siegerinnen ". Ihre reizende Figur, in entzückende Kleider gehüllt, wirbelt durch alle Irrwege berauschender Tänze. Ihr Auge ist das glänzendste, ihr Fuß der leichteste in der ganzen jugendschönen Gesellschaft. In solch entzückenden Träumen rinnt die Zeit rasch und angenehm dahin, und die ersehnte Stunde ihres Eintrittes in die ersehnte Welt, von der sie so vielversprechend geschwärmt hat, schlägt. Wie märchenhaft erscheint alles ihren entzückten Blicken! Jedes neue Erlebnis scheint ihr schöner als das letzte. Aber bald findet sie, daß unter dieser verlockenden Hülle alles leer und schal ist. Schmeichelei, die einst ihren Stolz kitzelte, wirkt jetzt verletzend auf ihr Ohr. Der Ballsaal hat seinen Reiz eingebüßt; und mit verwüsteter Gesundheit und gebrochenem Herzen wendet sie sich ab, in dem Bewußtsein, daß irdische Freuden die Bedürfnisse der Seele nicht befriedigen können! " Und so weiter, und so weiter. Von Zeit zu Zeit, während der Vorlesung, gab es kurzes Beifallsklatschen, von leise geflüsterten Ausrufen, wie:,, Wie süß! ",, Äußerst gewandt! ",, So wahr! " usw. begleitet, und nachdem die Sache mit einer besonders niederschmetternden moralischen Nutzanwendung beendet war, war der Applaus geradezu enthusiastisch. Worauf ein schmächtiges, melancholisches Mädchen, dessen Gesicht die interessante Blässe besaß, die von Pillen und schlechter Verdauung herrührt, vortrat und ein sogenanntes Gedicht vorlas. Zwei Verse davon werden genügen. Abschied eines Missouri - Mädchens von Alabama,, Leb wohl, Alabama! Wie liebe ich dich! Doch jetzt für ' ne Weile muß meiden ich dich! Die Trauer um dich erfaßt mich mit Macht, Sie hat mich um alle Freude gebracht! Deine blühenden Wälder, wie oft sah ich sie, Die Ströme und Seen - - ich vergesse sie nie! Ich lauschte so gerne dem Rauschen der Flut Und frischte mich auf in Auroras Glut. Warum verbergen mein übervoll Herz? Warum nicht zeigen den brennenden Schmerz! Ich scheide ja nicht aus fremdem Land, Ich reich ' ja nur Freunden die scheidende Hand! hier war ich zu Hause, hier liebte man mich, Du Tal meiner Heimat, nun meide ich dich! Und wenn sie dich schmähen, die nie dich gekannt, So muß ich verstummen - - mein teures Land!! " Eine dunkelhäutige, schwarzäugige und schwarzhaarige junge Dame war die nächste, machte eine ausdrucksvolle Pause, nahm eine tragische Pose ein und begann in gehaltenem Ton zu lesen. Eine Vision,, Dunkel und stürmisch war die Nacht. Am ganzen Himmelszelt glänzte nicht ein einziger Stern, aber der dumpfe, tiefe Ton des rollenden Donners zitterte beständig im Ohr, während schreckliche Blitze in unheimlichen Windungen durch die dunklen Himmelsräume fuhren; und sie schienen die Gewalt zu verspotten, die sich der berühmte Franklin über sie angemaßt hat! Auch die ungestümen Winde fuhren unaufhörlich aus ihrer geheimnisvollen Heimat daher und fuhren herum, als wären sie gerufen worden, um die schreckliche Szene noch schrecklicher zu machen. In solchem Augenblick, so dunkel, so traurig, sehnte sich mein Geist, ach, so sehr nach menschlicher Sympathie; und,, Da plötzlich, ein Wunder, sie neben mir stand, Die Freundin im Kummer, mit tröstender Hand! " Sie schwebte gleich einer jener Lichtgestalten, die in ihrem Sonnenflug die romantische Phantasie der Jugend malt, daher, eine Königin der Schönheit, nur mit ihrer eigenen überirdischen Lieblichkeit bekleidet. So leicht war ihr Tritt, er schien kein Geräusch hervorzubringen, und ich empfand ihre Gegenwart nur durch den magischen Schauer, der mich bei ihrer Berührung durchrieselte - - sonst wäre sie gleich anderen körperlichen Schönheiten unbemerkt, ungesehen entschwebt. Strenge Trauer lag auf ihren Zügen, gleich eisigen Tränen auf dem Gewande des Dezember, als sie auf die kämpfenden Elemente draußen wies und mich aufforderte, die zwei Wesen zu betrachten. " Zehn Seiten Manuskript waren mit diesem nächtlichen Geisterspuk bedeckt, und sie schlossen mit einem so sehr alle Hoffnungen für jeden Nichtkirchlichgesinnten vernichtenden Sermon, daß die Arbeit den ersten Preis erhielt. Der Aufsatz wurde für die ausgezeichnetste Arbeit des Abends erklärt. Der Bürgermeister hielt, indem er der Siegerin den Preis überreichte, eine warme Ansprache, worin er sagte, es wäre weitaus,, das beredsamste Ding, das er je gehört habe, und Daniel Webster selbst könnte sehr wohl darauf stolz sein. " Beiläufig möge bemerkt werden, daß die Zahl der Arbeiten, in denen das Wort,, wundervoll " überwog, und menschliche Erfahrung,, eine Seite des Lebens " genannt wurde, die übliche Höhe erreichte. Nunmehr schob der Lehrer, allmählich bis an die Grenze der Möglichkeit angeheitert, seinen Stuhl beiseite, zeigte dem Publikum seinen Rücken und machte sich dran, eine Karte von Amerika an die Wandtafel zu malen, um die Geographieklasse vorzunehmen. Es wollte ihm aber bei seiner unsicheren Hand nicht gelingen, und ein unterdrücktes Kichern lief durch den Saal. Er wußte, was die Uhr geschlagen hatte, und nahm sich tüchtig zusammen. Er wischte die Linien aus und zog sie nochmals. Aber er machte es diesmal noch schlechter als vorher, und das Kichern wurde lauter. Er nahm sich jetzt innerlich an den Ohren, wandte seine ganze Aufmerksamkeit auf die Arbeit, als gelte es, sich nicht von der allgemeinen Heiterkeit unterkriegen zu lassen. Er fühlte, daß aller Augen an ihm hingen. Er bildete sich ein, daß es ihm diesmal gelänge, und jetzt nahm das Kichern noch mehr, es nahm ganz zweifellos zu. Und es war kein Wunder. Es gab da eine Dachstube, die gerade über seinem Kopf durch eine Falltür verschlossen war. Durch diese Falltür erschien eine Katze, an einem um ihren Leib gelegten Strick gehalten. Ein Tuch war ihr über den Kopf gebunden, damit sie nicht schreien sollte. Indem sie langsam heruntergelassen wurde, wand sie sich aufwärts und griff nach dem Seil, wand sie sich nach unten und griff in die leere Luft. Das Kichern wurde stärker und stärker, die Katze war keine sechs Zoll mehr vom Kopf des geistesabwesenden Lehrers entfernt; tiefer, tiefer, noch ein bißchen, und sie schlug ihre Krallen in verzweifelter Wut in die Perücke, und wurde im nächsten Moment mit ihrer Trophäe in die Dachstube zurückgezogen. Und welcher Glanz von des Lehrers kahlem Schädel ausging, den der Anstreicherlehrling goldig gefärbt hatte! Das hob die Versammlung auf. Die Jungen waren gerächt - - die Ferien da! (Anmerkung. Die oben angeführten anspruchsvollen,, Aufsätze " sind ohne jede Änderung einem Buche entnommen, betitelt,, Prosa und Poesie, von einer Dame des Westens ", sind aber genau nach der Schulmädelmanier gemacht und daher viel glücklichere Beispiele, als irgendwelche Nachbildungen hätten sein können.) Dreiundzwanzigstes Kapitel. Tom schloß sich dem neuen Orden der,, Kadetten der Enthaltsamkeit " an, angezogen durch die glänzende Pracht ihrer,, Uniform ". Er versprach, sich des Rauchens, Tabakkauens und Fluchens, so lange er Mitglied des Vereins sein würde, zu enthalten. Dabei machte er eine Entdeckung, nämlich, daß das Versprechen, etwas nicht zu tun, das sicherste Mittel von der Welt sei, einen in Versuchung zu bringen, hinzugehen und es gerade zu tun. Tom empfand sehr bald das glühende Verlangen, zu trinken und zu fluchen; der Wunsch wurde bald so stark, daß nichts als die Aussicht, mit seiner roten Schärpe prunken zu können, imstande gewesen wäre, ihn von dem Wiederaustritt aus dem Orden abzuhalten. Der vierte Juli [ Anmerkung: Der 4. Juli 1776 ist der Tag der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten. ] stand nahe bevor. Bald aber gab er es auf - - gab es auf, ehe er seine Fesseln volle 48 Stunden getragen hatte, um seine Aufmerksamkeit dem alten Richter Frazer, dem Friedensrichter, zuzuwenden, der augenscheinlich auf dem Totenbett lag und gewiß ein großartiges öffentliches Begräbnis bekommen würde, da er doch ein so hoher Beamter war. Während dreier Tage war Tom ganz von des Richters Befinden eingenommen und hungrig nach Neuigkeiten darüber. Manchmal stieg seine Hoffnung so hoch, daß er drauf und dran war, seine Uniform hervorzuholen und vor dem Spiegel darin Probe zu halten. Aber der Richter hatte eine abscheuliche Art, sich zu besinnen. Schließlich wurde er besser und schließlich Rekonvaleszent. Tom war sehr verstimmt und fühlte sich obendrein beleidigt. Schließlich,, resignierte " er und in der nächsten Nacht bekam der Richter einen Rückfall und starb. Tom nahm sich vor, in solchen Dingen keinem Menschen mehr zu trauen. Das Begräbnis war großartig. Die Kadetten paradierten auf eine Art, die geeignet war, das bisherige Mitglied vor Neid umkommen zu lassen. Indessen war Tom wieder ein freier Bursch. Das war das Gute dran. Er konnte trinken und fluchen, fand aber zu seiner Überraschung, daß er gar keine Lust dazu hatte. Die bloße Tatsache, daß er's durfte, nahm ihm den Wunsch dazu und machte die Sache reizlos. Tom machte plötzlich die überraschende Bemerkung, daß die ersehnten Ferien anfingen, ihn zu langweilen. Er begann ein Tagebuch, aber da sich innerhalb dreier Tage nichts ereignete, so gab er's wieder auf. Dann kam die erste schwarze Sängergesellschaft ins Dorf und erregte Aufsehen. Tom und Joe Harper traten in Verbindung mit der Bande und waren für zwei Tage glücklich. Selbst der berühmte Vierte war in gewissem Sinne eine Enttäuschung, denn es regnete stark; infolgedessen fand kein Umzug statt, und der größte Mann der Welt (wie Tom glaubte), Mr. Benton, ein Senator der Vereinigten Staaten, bereitete ihm eine niederschmetternde Enttäuschung, denn er war nicht 25 Fuß hoch, auch nicht einmal annähernd. Ein Zirkus kam. Die Jungen spielten drei Tage Zirkus in Zelten, die aus zerlumpten Teppichen bestanden, - - Entree: drei Penny für Jungen, zwei für Mädchen - - und dann wurde das Zirkusspielen langweilig. Ein Phrenologe und ein Taschenspieler kamen - - und gingen wieder und ließen das Dorf langweiliger und öder zurück, als es vorher gewesen war. Becky Thatcher war nach ihrem Konstantinopeler Hause gereist, um während der Ferien bei ihren Eltern dort zu bleiben - - so hatte denn das Leben keine einzige Lichtseite mehr. Das schreckliche Geheimnis des Mordes genoß immer noch trauriges Interesse. Es war ein Gegenstand beständiger Aufregung. Dann kamen die Masern. Während zweier langen Wochen lag Tom als Gefangener, tot für die Welt und ihr Treiben. Er war sehr krank, gleichgültig gegen alles. Als er wieder auf den Füßen war und noch ganz schwach durch das Dorf wankte, war eine traurige Veränderung mit allen Dingen und Lebewesen vorgegangen. Es hatte eine,, Wiedergeburt " stattgefunden, und alles war,, fromm geworden ", nicht nur die Erwachsenen, sondern auch die Buben und Mädel. Tom strich herum, in der Hoffnung, auf ein Gesicht, das in seiner Sündhaftigkeit sich wohl fühle, zu stoßen. Er fand Joe Harper in der Bibel lesend und floh traurig vor solchem niederdrückenden Schauspiel. Er suchte Ben Rogers und traf ihn, wie er die Armen mit einem Korb voll Traktätchen heimsuchte. Darauf fahndete er auf Jim Hollis, der ihm zeigte, wie seine wunderbare Errettung von den Masern eine Warnung sei. Jeder einzelne Junge, mit dem er zusammenkam, trug das Seinige dazu bei, ihn vollends niedergeschlagen zu machen; und als er in voller Verzweiflung davonrannte, um am Busen Huck Finns Zuflucht zu suchen - - und mit einem Bibelspruch empfangen wurde, brach sein Herz, er kroch nach Hause und zu Bett, in der Überzeugung, daß er allein von dem ganzen Dorfe verloren, für immer und ewig verloren sei. Und in der Nacht setzte es einen schrecklichen Sturm, der den Regen vor sich hertrieb, mit furchtbaren Donnerschlägen und blendenden Blitzen. Er steckte den Kopf unter die Bettdecke und erwartete in ängstlicher Ungewißheit sein Schicksal; denn ihm kam nicht ein Schatten von Zweifel, daß dieses ganze Donnerwetter ihm gelte. Er glaubte, die Geduld der himmlischen Mächte allzuhoch taxiert zu haben - - und dies war die Folge davon. Es würde ihm als lächerliche Kraftverschwendung erschienen sein, eine Wanze mit Kanonen töten zu wollen, aber das schien ihm doch noch nichts, wenn er bedachte, daß ein so schreckliches Gewitter nötig sein sollte, um ein Insekt gleich ihm zu vernichten. Allmählich tobte sich der Sturm aus und legte sich ganz, ohne seinen Zweck erfüllt zu haben. Der erste Antrieb Toms war, dankbar zu sein und sich zu bessern. Sein zweiter war, zu warten - - denn vielleicht würde sobald kein Unwetter wieder losbrechen. Am anderen Tage war der Doktor wieder da. Tom hatte einen Rückfall. Die drei Wochen, die er so still liegen mußte, schienen ihm ein ganzes Menschenalter. Als er schließlich doch wieder aufstand, war er kaum dankbar, daß er geschont worden war, da er sich sagen mußte, wie einsam er sei, wie freundlos und verlassen. Zwecklos strich er durch die Gassen und fand Jim Hollis in einem jugendlichen Gerichtshof, der eine Katze als Mörderin verurteilen sollte, den Richter machend. Das Opfer, ein Vogel, lag dabei. Joe Harper und Huck Finn traf er spazieren gehend und eine gestohlene Melone verzehrend. Arme Jungen - - sie hatten, wie Tom, einen Rückfall zu erdulden. Vierundzwanzigstes Kapitel. Schließlich wurde die brütende Langeweile ein bißchen aufgestört und erfrischt. Der Mordprozeß kam vor Gericht. Er wurde sofort der alleinige Gegenstand des Gesprächs. Tom konnte es kaum aushalten. Jede Erwähnung des Mörders jagte ihm einen Schauer durch die Glieder, denn sein bedrücktes Gewissen und seine Furcht machten ihm weis, daß alle diese Bemerkungen,, Fühler " sein sollten und auf ihn berechnet. Zwar wußte er durchaus nicht, wie ein Verdacht, etwas über den Mord zu wissen, sollte auf ihn fallen können, trotzdem aber konnte er sich inmitten all des Geklatsches nicht behaglich fühlen. Kalte Schauer schüttelten ihn beständig. Er schleppte Huck an ein einsames Plätzchen, um sich mit ihm mal darüber auszusprechen. Es würde für ' ne Weile doch eine Erleichterung sein, seiner Zunge mal freien Lauf gelassen zu haben, die Last seines Kummers mit einem Leidensgefährten zu teilen. Vor allem aber wollte er sich versichern, daß Huck reinen Mund gehalten habe.,, Huck, hast du jemals darüber gesprochen? ",, Worüber? ",, Na - - du weißt schon! ",, Ach so - - na, gewiß nicht! ",, Kein Wort? ",, Zum Teufel, auch nicht ' s kleinste Wort! Warum fragst du? ",, Na, ich hatt ' halt Angst! ",, Weißt du, Tom Sawyer, wir würden keine zwei Tage mehr haben, wenn das raus käm '! Du weißt doch? " Tom wurde behaglicher zumute. Nach einer Pause sagte er:,, Du, Huck, ' s wird dich niemand zwingen können, was zu verraten, he? ",, Mich zwingen? Na, wenn ich wollt ', daß der Halbindianer - Teufel mir den Hals umdrehte, dann könnten sie mich zwingen, zu schwatzen. ",, Na, ' s ist schon gut. Denk auch, daß wir sicher sind, so lang ' wir reinen Mund halten. Aber laß uns nochmal schwören. ' s ist sicherer! ",, Meinetwegen. " So schwuren sie nochmals die schrecklichsten Eide.,, Was wird denn eigentlich geschwatzt, Huck? Ich hab ' so viel durch'nander gehört! ",, Schwatzen? Na, ' s ist immer Muff Potter, Muff Potter, Muff Potter. Jedesmal gerat ' ich ordentlich in Schweiß, daß ich gleich davonlaufen möcht '! ",, ' s ist grad so wie bei mir. Ich denk ' wohl, daß er ' n Gauner ist. Hast du zuweilen Mitleid mit ihm? ",, Fast immer - - fast immer. Er taugt ja nicht viel; aber er hat doch nie was getan, um jemand zu verletzen. Er stiehlt wohl zuweilen Fische, um Geld für Branntwein zu kriegen - - und treibt sich beständig herum; aber, Herr Gott, das tun wir doch alle - - oder wenigstens die meisten - - auch die Prediger und solche Leute. Aber er ist doch ' n guter Kerl - - er gab mir mal ' n halben Fisch, wo's doch nicht genug war für zwei, und oft genug war er freundlich gegen mich und half mir, wenn ich in ' ner Patsche saß. ",, Ja, und mir hat er Drachen gemacht, Huck, und Angelhaken. - - Wollt, wir könnten ihm raushelfen - - ",, Lieber Gott, Tom, wir können ihm nicht ' raushelfen. Und dann - - ' s wär ' auch gar nicht gut; sie kriegten ihn doch wieder. ",, Ja - - das täten sie. Aber ich kann's nicht hören, daß sie auf ihn schimpfen wie auf ' nen Teufel, wo er's doch gar nicht getan hat. ",, Ich auch, Tom! Gott, ich hört ', wie einer sagte, er ist der blutgierigste Lump im ganzen Land, und sie wunderten sich nur, daß er noch nicht aufgeknüpft ist. ",, Ja, das sagen sie immer. Ich hab ' gehört, sie wollten ihn lynchen, wenn er freikäm '. ",, Und das täten sie auch. " Die Jungen schwatzten noch lange, aber es brachte ihnen wenig Befreiung. Als das Zwielicht anbrach, fanden sie sich auf einmal in der Nachbarschaft des kleinen, einsamen Gebäudes, vielleicht in der unbestimmten Hoffnung, es könne irgend was geschehen, wodurch ihre Kümmernisse gehoben würden. Aber nichts geschah, weder Engel noch gute Geister schienen sich mit diesem unglücklichen Gefangenen beschäftigen zu wollen. Die Jungens taten, was sie schon oft vorher getan hatten - - gingen zu dem Gitterfenster und steckten Potter ein bißchen Tabak und Zündhölzer zu. Er lag auf dem Fußboden - - Wächter waren nicht da. Seine Dankbarkeit für ihre kleinen Gaben hatte bisher immer ihr Gewissen entlastet - - jetzt wurde es nur noch schwerer. Sie fühlten sich im höchsten Grade gemein und treulos, als Potter sagte:,, Ihr seid doch immer gut gegen mich gewesen, Jungs, besser als sonst jemand im Dorf. Und ich werd's nicht vergessen, werd's nicht! Oft denk ' ich, hab ' allen Jungen Drachen gemacht und alles, und ihnen gute Fischplätze gezeigt, und ihnen geholfen, wo ich konnt ', und nu ' vergessen sie alle den alten Muff, wo er so in der Patsche sitzt, nur der Tom tut's nicht, und der Huck tut's nicht, die vergessen ihn nicht, sagt ' ich, und ich werd ' sie nicht vergessen! Na, Jungs, ich hab ' was Schreckliches getan - - betrunken und verrückt muß ich gewesen sein; ' s ist die einzige Art, wie ich's mir denken kann, und jetzt soll ich dafür baumeln, und ' s ist recht so. Recht und ' s beste auch, glaub ' ich, hoff ' wenigstens. Na, wollen nicht davon sprechen. Möcht ' euch ' s Herz nicht schwer machen. Aber wollt euch doch sagen: Trinkt nicht, wenn ihr groß seid, dann kommt ihr nie hierher. Kommt mal näher ran - - so, ' s ist doch schon was, so ' n paar gute Gesichter zu sehen - - gute, freundliche Gesichter. Steigt mal einer auf den anderen und gebt mal eure Patschen her. Kommt leichter durch die Stangen, meine Faust ist zu groß. Kleine Hände - - und zart - - aber haben Muff Potter ' ne Menge geholfen und würden noch mehr tun, wenn sie könnten. " Tom schlich niedergeschlagen nach Hause, und seine Träume waren schrecklich. Am nächsten und übernächsten Tage lungerte er um das Gerichtsgebäude herum, von unwiderstehlichem Verlangen angetrieben, hineinzugehen, und doch sich selbst zwingend, es nicht zu tun. Huck hatte dieselben Versuchungen. Sie gingen sich geflissentlich aus dem Wege. Jeder ging von Zeit zu Zeit mal fort, aber derselbe verzweifelte Zauber trieb ihn immer sehr bald wieder hin. Tom hielt die Ohren offen, wenn irgend ein Müßiggänger herauskam, hörte aber immer nur betrübende Neuigkeiten. Die Schlinge zog sich immer und immer fester zusammen um den armen Potter. Am Abend des zweiten Tages war das Dorfgespräch, daß des Indianer - Joe Erscheinen feststehe, und daß über den zu erwartenden Spruch der Geschworenen nicht der geringste Zweifel entstehe. Tom war diesen Abend lange aus und gelangte durchs Fenster ins Bett. Er befand sich in schrecklich aufgeregtem Zustande. Es dauerte Stunden, bis er einschlafen konnte. Am nächsten Morgen strömte das ganze Dorf zum Gerichtsgebäude, denn es würde ein großer Tag sein. Beide Geschlechter waren zu dem aufregenden Verhör erschienen. Nach langer Zeit traten die Geschworenen ein und begaben sich auf ihre Plätze. Kurz danach wurde Muff Potter, blaß und hohläugig, verschüchtert und hoffnungslos, mit Ketten beladen, hereingebracht und setzte sich so, daß all die neugierigen Augen ihn treffen mußten; nicht weniger wurde der Indianer - Joe beobachtet, der gleichgültig, wie immer, dasaß. Noch eine Pause, und dann kam der Richter, und der Sheriff verkündete den Beginn der Sitzung. Es folgte das gewöhnliche Geflüster zwischen den Gerichtspersonen und Papierknistern. Diese Einzelheiten und Umständlichkeiten bewirkten eine erwartungsvolle Stimmung, die ebenso aufregend wie lähmend war. Jetzt wurde jener Bürger aufgerufen, welcher beschwor, daß er Muff Potter in sehr früher Stunde am Morgen des Mordes getroffen hatte, wie er sich in einem Graben wusch, und daß er sofort davongelaufen sei. Nach einigen weiteren Fragen sagte der Staatsanwalt:,, Der Herr Verteidiger hat das Wort. " Der Gefangene erhob für einen Augenblick die Augen, schlug sie aber sofort nieder, als sein Verteidiger sagte:,, Ich verzichte. " Der nächste Zeuge erzählte die Auffindung des Messers am Tatorte. Der Staatsanwalt sagte abermals:,, Der Herr Verteidiger hat das Wort. ",, Ich verzichte, " entgegnete auch diesmal der Verteidiger. Ein dritter Zeuge beschwor, daß er das Messer oftmals in Muff Potters Besitz gesehen habe.,, Der Herr Verteidiger hat das Wort. " Potters Verteidiger dankte wiederum. Die Gesichter der Zuhörer begannen Unwillen zu zeigen. Wollte dieser Verteidiger das Leben seines Klienten ohne jeden Versuch zu seiner Rettung preisgeben? Mehrere Zeugen berichteten über Potters verdächtiges Benehmen, als er an den Mordplatz geführt wurde. Sie konnten ebenfalls ohne Gegenverhör den Platz verlassen. Alle Einzelheiten der gravierenden Vorkommnisse an jenem Morgen, dessen sich alle Anwesenden so gut erinnerten, waren von glaubwürdigen Zeugen bestätigt, und nicht einer war durch Potters Verteidiger einem Gegenverhör unterworfen worden. Die Verblüffung und Unzufriedenheit des Hauses machte sich in Murren bemerklich, was eine Zurechtweisung seitens des Vorsitzenden zur Folge hatte. Jetzt begann der Staatsanwalt:,, Durch den Eid von Bürgern, deren einfaches Wort schon über jeden Zweifel erhaben ist, sehen wir das schreckliche Verbrechen dem unglücklichen Gefangenen dort zur Last gelegt. Die Sachlage ist über jeden Zweifel erhaben. " Ein Stöhnen entrang sich dem armen Potter, er bedeckte das Gesicht mit den Händen, während sein Körper gleichsam zusammenschrumpfte. Ein peinliches Stillschweigen hatte sich über den Saal gelegt. Alle waren bewegt, und manche Frau verriet ihre Bewegung durch Tränen. Der Verteidiger erhob sich und sagte:,, Euer Ehren! Zu Beginn der gegenwärtigen Verhandlung gaben wir unsere Absicht kund, zu zeigen, daß unser Klient diese schreckliche Tat beging, während er unter dem Einflusse eines blinden, geistesverwirrenden Rausches infolge übermäßigen Trunkes stand. Wir haben unsere Ansicht geändert. Wir können auf diesen Einwand verzichten! " (Dann zum Gerichtsdiener):,, Tom Sawyer! " In allen Gesichtern malte sich unverhohlenes Erstaunen, Potter nicht ausgenommen. Jedes Auge heftete sich mit verwundertem Interesse auf Tom, als er aufstand und sich auf seinen Platz in der Zeugenloge setzte. Der Junge sah verstört genug aus, er war auch mächtig verschüchtert. Die Eidesformel war gesprochen.,, Thomas Sawyer, wo wart Ihr am 7. Juni um Mitternacht? " Tom schielte auf des Indianer - Joe eisernes Gesicht, und die Zunge versagte ihm den Dienst. Alle Zuhörer warteten atemlos, aber die Worte kamen nicht heraus. Nach ein paar Augenblicken indessen sammelte der Junge ein bißchen Mut und versuchte genug davon in seine Stimmung zu legen, um sich einem Teil des Saales hörbar zu machen.,, Auf dem Kirchhof. ",, Bitte, etwas lauter. Fürchtet Euch nicht. Ihr wart - - ",, Auf dem Kirchhof. " Ein verächtliches Lächeln flog über des Indianer - Joe Gesicht.,, Wart Ihr vielleicht in der Nähe von William Horses Grab? ",, Ja, Herr! ",, Noch ein bißchen lauter. Wie nahe wart Ihr? ",, So nahe, wie jetzt zu Ihnen. ",, Wart Ihr versteckt oder nicht? ",, Ich war versteckt. ",, Wo? ",, Unter den Ulmen, die am Kopfende des Grabes stehen. " Der Indianer - Joe fuhr unmerklich zusammen.,, Wart Ihr in Begleitung? ",, Ja, Herr. Ich war da mit - - ",, Halt - - einen Augenblick. Nennt den Namen Eures Gefährten noch nicht. Wir wollen ihn zur rechten Zeit aufrufen. Hattet Ihr irgend etwas mit? " Tom zögerte und schaute verwirrt um sich.,, Na, sprich - - mein Junge! Nicht zaghaft! Die Wahrheit ist immer achtungswert. Was hattest du mit? ",, Nur - - nur - - ' ne tote Katze! " Ein schwaches Kichern entstand, wurde aber sofort vom Gerichtshof unterdrückt.,, Wir werden das Skelett der Katze vorlegen. Jetzt, mein Junge, sag ' uns, was sich zutrug - - sag's ganz auf deine Weise - - vergiß nichts und fürchte dich nicht. " Tom begann - - zuerst stammelnd, aber als er warm wurde, flossen seine Worte leichter und immer leichter; in kurzem verstummte jeder Laut außer seiner Stimme; jedes Auge heftete sich auf ihn; mit geöffneten Lippen und angehaltenem Atem hingen die Zuhörer an seinen Worten, vollkommen von der Spannung der Erzählung beherrscht. Die Erregung erreichte den höchsten Grad, als er sagte:,, Und wie der Doktor mit dem Brett haute und Potter fiel, da sprang der Indianer - Joe mit dem Messer - - " Krach! - - Schnell wie der Blitz sprang der Indianer - Joe zum Fenster durch alle Zuschauer hindurch und war im Nu verschwunden! Fünfundzwanzigstes Kapitel. Tom war schon wieder ein strahlender Held - - der Liebling der Alten, der Neid der Jugend. Sein Name gelangte sogar zu den Ehren der Druckerschwärze, denn das Blättchen des Dorfes verherrlichte ihn. Es gab sogar Leute, die in ihm den zukünftigen Präsidenten sahen, ausgenommen, wenn er vorher gehenkt werde. Wie gewöhnlich, drückte die gedankenlose Welt jetzt Muff Potter an ihre Brust und überschüttete ihn mit Zärtlichkeiten, wie sie ihn bisher verlästert hatte. Aber diese Sinnesänderung spricht für die Welt; deswegen ist's besser, keine Glossen drüber zu machen. Toms Tage waren Tage des Glanzes und des Frohlockens, aber seine Nächte waren Zeiten des Schreckens. Der Indianer - Joe spukte in all seinen Träumen und immer mit haßerfüllten Augen. Schwerlich hätte irgend etwas den Jungen veranlassen können, nach Anbruch der Nacht noch hinauszugehen. Der arme Huck befand sich gleichfalls im Zustand der Verzweiflung und Angst, denn Tom hatte in der Nacht vor der Gerichtsverhandlung dem Verteidiger alles gesagt, und Huck hatte gräßliche Angst, daß seine Beteiligung bei der Sache bekannt werden möchte, obwohl ihn des Indianers Flucht von der Qual befreit hatte, vor Gericht Zeugnis ablegen zu müssen. Der arme Bursche hatte vom Verteidiger das Versprechen des Schweigens erhalten, aber was war das? Seit Tom, durch sein beladenes Gewissen getrieben, in jener Nacht ins Haus des Verteidigers gegangen war und die schreckliche Geschichte, die doch mit den bindendsten, furchtbarsten Eiden in ihm verschlossen sein sollte, gebeichtet hatte, war Hucks Glauben an die menschliche Rasse nahezu vernichtet. Jeden Tag ließen Muff Potters Dankesbezeugungen Tom sich freuen, daß er gesprochen hatte, aber nachts wünschte er, das Geheimnis bewahrt zu haben. Manchmal fürchtete er, der Indianer - Joe möchte niemals gefunden werden, dann wieder zitterte er, daß er gefunden werden könnte. Er fühlte nur zu sicher, daß er nicht mehr ruhig atmen könne, bis dieser Mensch tot sei und er seine Leiche gesehen habe. Belohnungen waren ausgesetzt, das Land durchsucht, aber kein Joe gefunden. Eins jener geheimnisvollen, ehrfurchtgebietenden Wunder, ein Detektiv, kam von St. Louis herauf, schnüffelte herum, schüttelte den Kopf, tat sehr weise und hatte den überraschenden Erfolg, den Angehörige dieser Berufsklasse stets haben, das heißt,,, er fand den Schlüssel ". Aber man kann einen Schlüssel nicht als Mörder hängen und so, nachdem der Detektiv heimwärts gegangen war, fühlte sich Tom genau so unsicher wie vorher. Trübselig schlichen die Tage, aber jeder nahm ein klein wenig von seiner Besorgnis mit sich. Sechsundzwanzigstes Kapitel. In jedes normal veranlagten Jungen Leben kommt eine Zeit, wo er den rasenden Wunsch empfindet, irgendwo nach vergrabenen Schätzen zu suchen. Dieser Wunsch überfiel Tom eines Tages ganz plötzlich. Er machte sich auf den Weg, um Joe Harper zu suchen, hatte aber keinen Erfolg. Dann suchte er Ben Rogers; der war zum Fischen gegangen. Plötzlich stieß er auf Huck Finn, den, Bluthändigen '. Tom schleppte ihn an einen versteckten Ort und vertraute sich ihm an. Huck war sofort bereit. Huck war immer bereit, sich an einem Unternehmen zu beteiligen, das Zerstreuung versprach und kein Kapital verlangte, denn er hatte schrecklichen Überfluß von der Art Zeit, die nicht Geld ist.,, Wo wollen wir graben? " fragte Huck.,, O - - halt überall. ",, Was, ist überall welches vergraben? ",, Ach was, das nicht! ' s ist an ganz besonderen Plätzen vergraben, Huck - - manchmal auf Inseln, manchmal in alten verfaulten Kisten, unter den Wurzeln eines abgestorbenen Baumes, grad ' da, wohin der Schatten bei Mondschein fällt; besonders aber unter dem Fußboden in ' nem verfallenen Haus. ",, Wer vergräbt's denn? ",, Na, Räuber selbstverständlich - - was dachtst du denn? Sonntagsschul - Lehrer? ",, Weiß nicht. Wenn's mir gehörte, ich würd's nicht vergraben. Ich würd's ausgeben und mir ' ne lustige Zeit machen. ",, Tät ' ich auch. Aber Räuber tun's nicht, die vergraben's immer und lassen's liegen. ",, Kommen sie gar nicht mehr hin? ",, Nein, - - sie denken wohl, sie wollen wieder hinkommen, aber dann haben sie die Zeichen vergessen oder sind auch inzwischen gestorben. Manchmal liegt's ' ne lange, lange Zeit da und wird rostig. Und schließlich find ' dann mal jemand so ' n altes vergilbtes Papier, da muß er über ' ne Woche drüber brüten, denn ' s sind schwere Zeichen und Hieroglyphen drauf geschrieben. ",, Hiero - - was? ",, Hieroglyphen - - Bilder und Zeug, weißt du, das gar nichts vorzustellen scheint. ",, Hast du schon mal so ' n Papier gehabt, Tom? ",, Nee. ",, Na, wie willst du denn die Zeichen rauskriegen? ",, Ach was, brauch ' keine Zeichen. Sie vergraben's ja immer unter ' nem verfallnen Haus oder auf ' ner Insel oder unter ' nem abgestorbenen Baum, der ' ne Wurzel von sich streckt. Na, wir haben's ja schon mal mit der Jackson - Insel versucht und können ja leicht noch mal hingehn; und dann ist da das alte verfallne Haus auf dem Stillhaus - Hügel, und dann gibt's ' ne Menge Wurzeln von toten Bäumen - - massenhaft! ",, Ist unter allen was? ",, Was schwatzt du! Nee! ",, Woher kannst du denn wissen, wohin wir gehen müssen? ",, Na - - zu allen! ",, Verflucht, Tom - - ' s wird den ganzen Sommer dauern. ",, Na, was schad's? Denk ', du findst ' nen Messingtopf, ganz rostig oder ' ne verfaulte Kiste voll Diamanten - - he? " Hucks Augen glänzten.,, Wär ' grad ' was für mich, Tom, wär ' ganz extra was für mich! Ader die Diamanten nehm ' ich nicht für hundert Dollars! ",, Na, schon gut. Aber ich würd ' die Diamanten nicht verschmähn! Einige von ihnen sind zwanzig Dollar wert. Alle nicht - - aber auch die andern sind sechs Cent bis ' nen Dollar wert. ",, Nee - - ist das so? ",, Sicher - - alle sagen's. Hast du nie einen gesehn, Huck? ",, Nicht, daß ich wüßte. ",, O, Könige haben Haufen davon. ",, Na, ich kenn ' aber keinen König, Tom! ",, Denk ' wohl, daß du keinen kennst. Aber, wenn du nach Europa gingst, würdst du ' ne Menge rumhüpfen sehn. ",, Hüpfen die? ",, Hüpfen, du Schafskopf? Nee! ",, Na - - warum sagtest du denn, daß sie's täten? ",, Nachtmütze! Meint ' doch nur, du würdst sie sehn, - - nicht hüpfend natürlich - - warum sollten sie denn hüpfen? Meint ' nur, du würdst sie sehn - - überall, verstehst du - - überall! Zum Beispiel beim alten buckligen Richard. ",, Richard? Wie ist sein anderer Name? ",, Er hat keinen anderen Namen - - Könige haben nur ' nen Vornamen. ",, Nicht? ",, Aber nein - - sag ' ich dir! ",, Na, wenn's so ist, Tom, meinetwegen. Aber ich möcht ' nicht König sein und nur ' nen Vornamen haben wie ' n Nigger. Aber, sag mal - - wo willst du zuerst graben? ",, Weiß noch nicht. Denk ' wir nehmen den abgestorbenen Baum auf dem Hügel hinter Stillhaus? ",, Mir recht. " So trieben sie denn eine ausrangierte Hacke und eine Schaufel auf und machten sich auf den Weg von drei Meilen. Sie kamen heiß und erschöpft an und warfen sich im Schatten einer benachbarten Ulme nieder, um auszuruhen und ein bißchen zu rauchen.,, So gefällts mir, " meinte Tom.,, Mein ' ich auch. ",, Sag ', Huck - - wenn wir hier ' nen Schatz finden, was machst du mit deiner Hälfte? ",, Na, dann muß ich jeden Tag ' ne Pastete und ' n Glas Sodawasser haben, und dann geh ' ich in jeden Zirkus, der herkommt. Soll ' ne famose Zeit werden! ",, Na, und du willst gar nichts sparen? ",, Sparen? Wozu? ",, Nu, damit du später mal was zu leben hast! ",, Ach, das ist ja Unsinn! Pap wird eines schönen Tags in dies liebliche Nest zurückkommen und seine Klauen drüber legen, wenn ich's noch nicht verbraucht hätt ', und ich sag ' dir, er hätt's bald genug durchgebracht. Was willst du tun, Tom? ",, Ich werd ' mir ' ne neue Trommel kaufen und ' n richtiges Schwert und ' n rotes Halstuch, und ' ne junge Bulldogge - - und dann würd ' ich heiraten. ",, Heiraten!!? ",, Na ja! ",, Tom, du - - na, wenn du nicht recht bei Verstand bist! ",, Wart ' nur - - wirst's ja sehn. ",, Na, das ist doch ' s Dümmste, was du tun könntest. Sieh doch nur meinen Pap und seine Alte. Teufel - - was die sich prügeln! Weiß noch ganz gut! ",, Das ist ' n anderes Ding. Das Mädchen, das ich heiraten will, prügelt sich nicht! ",, Tom - - denk ' doch, sie sind alle gleich! Wollen einen alle striegeln. Wirst nach ' ner Weile wohl vernünftiger drüber denken. Wie heißt denn ' s Mädel? ",, ' s ist überhaupt kein Mädel - - ' s ist ' n Mädchen! ",, Denk ' doch, ' s ist alles eins; die einen sagen Mädel, die anderen Mädchen - - ' s ist ganz gleich. Aber wie heißt sie denn, Tom? ",, ' n andermal, sag ' ich's dir, Huck - - jetzt nicht. ",, Na - - ' s auch recht. Aber wenn du heiratest, werd ' ich noch einsamer sein. ",, Unsinn, Huck, du kommst zu mir und wohnst hier. - - Na, genug davon, wollen wir anfangen, zu graben? " Sie arbeiteten und schwitzten eine halbe Stunde hindurch. Kein Resultat. Sie mühten sich noch eine halbe Stunde. Noch kein Erfolg. Huck meinte:,, Graben sie immer so tief? ",, Manchmal - - nicht immer. Denk, wir haben nicht die rechte Stelle erwischt. " Sie wählten eine andere Stelle und begannen nochmals. Die Arbeit stockte diesmal ein bißchen, aber sie kamen doch vorwärts. Wieder gruben sie stillschweigend eine Zeitlang. Schließlich lehnte sich Huck auf seine Schaufel, wischte den Schweiß von seiner Stirn und sagte:,, Wo woll'n wir graben, wenn wir hier fertig sind? ",, Denk ', wir woll'n den alten Baum über Cardiff Hill - - hinter dem Haus der Witwe nehmen. ",, Glaub's auch, daß dort was ist. Aber, wenn's die Witwe uns fortnimmt, Tom? ' s ist ihr Land. ",, Sie wegnehmen! Soll sie's doch nur versuchen! Wenn einer so ' nen vergrabenen Schatz findet, gehört er ihm. Ich mach ' keinen Unterschied, wem das Land grad ' gehört. " Das war beruhigend. Die Arbeit wurde fortgesetzt. Dann sagte Huck wieder:,, Verdammt - - wir müssen wieder an ' nem falschen Platz sein. Was meinst du? ",, ' s ist wirklich sonderbar, Huck. Versteh's nicht. Manchmal stören's die Hexen. Denk ' ' s wird das sein, was uns hier stört. ",, Unsinn, Hexen haben tags keine Macht! ",, Na ja, ' s ist wahr! Dachte nicht dran. Halt - - jetzt weiß ich, wie's ist! Was für verdammt große Schafsköpfe wir sind! Man muß ja doch erst wissen, wohin der Schatten bei Mondschein fällt, und da muß man dann graben! ",, Na ja, dann glaub ' ich's, daß wir all die Arbeit umsonst gemacht haben. Jetzt hol's der Teufel alles, müssen halt zur Nachtzeit wiederkommen. ' s ist ' n verteufelt weiter Weg. Kannst du fortkommen? ",, Werd's schon machen. Diese Nacht woll'n wir's also machen, denn wenn jemand diese Gruben da sieht, weiß er doch gleich, was da los ist und gräbt's selbst aus. ",, ' s ist gut, ich werd ' nachts kommen und miauen. ",, Recht - - aber jetzt wollen wir noch das Werkzeug in den Büschen verstecken. " Nachts, zur verabredeten Stunde waren die Jungen wieder da. Wartend saßen sie im Schatten. Es war ein einsamer Platz und eine durch lange Tradition unheimlich gewordene Stunde. Geister wisperten im raschelnden Laub. Geister spukten in allen Ecken, das klagende Heulen eines Hundes tönte aus einiger Entfernung herüber, eine Eule antwortete mit Grabesstimme. Die Jungen fühlten sich von ihrer unheimlichen Umgebung bedrückt und sprachen nur mit leiser Stimme. Schließlich nahmen sie an, es möchte zwölf Uhr sein; sie bezeichneten die Stelle, wohin der Schatten fiel und begannen zu graben. Ihre Hoffnung wuchs; das Interesse wurde lebhafter, und ihr Fleiß hielt gleichen Schritt. Das Loch wurde tiefer und tiefer, aber so oft ihre Herzen zu klopfen begannen, wenn ein scharfer Ton von unten hervordrang, erfuhren sie eine neue Enttäuschung. Jedesmal war's nur ein Stein oder Holzstrunk. Schließlich sagte Tom:,, ' s ist nicht richtig. Huck, wir haben's wieder verfehlt! ",, Unsinn, wir können ' s nicht verfehlt haben. Wir haben doch den Schatten zu genau getroffen. ",, Ja, ich weiß, aber vielleicht ist sonst was schuld. ",, Was denn? ",, Wir haben die Zeit bloß abgeschätzt. Leicht genug war's später oder früher. " Huck ließ die Schaufel sinken.,, Das ist's. " sagte er.,, Das ist's, was uns gestört hat. Wir müssen's aufgeben. Wir können doch nicht immer die rechte Zeit abpassen, und dann, das Ding hier ist zu unheimlich, hier diese Nachtzeit mit Geistern und Gespenstern, die um einen rumfliegen. Ich bild ' mir immer ein, ' s ist wer hinter mir, und hab ' doch Angst, mich umzusehn, denn ' s könnten auch welche vor mir sein und nur auf ' ne Gelegenheit warten. So lang ' ich hier bin, läuft's mir kalt über. ",, Na, mir ist's nicht viel besser gegangen, Huck. Meistens haben sie ' nen toten Mann begraben, wo sie ihre Schätze hintun, der muß drauf achthaben. ",, Herr Gott! ",, Ja, ' s ist so. Hab ' immer so sagen gehört. ",, Tom, möcht mir doch nicht viel zu schaffen machen, wo ' n Toter liegt. So ' n toter Schädel könnt ' einem doch höllisch Angst machen. ",, Möcht ' keinen aufstöbern, Huck. Zu denken, daß hier plötzlich einer den Kopf rausstreckt und anfängt, zu sprechen. ",, Still, Tom - - ' s ist schrecklich! ",, Na, das ist's gewiß, Huck. Würd ' mich auch nicht gemütlich dabei fühlen! ",, Du, Tom, komm, wollen's hier sein lassen, und ' s wo anders versuchen. ",, Ja, ich denk ' auch, ' s wird besser sein. ",, Wo denn? " Tom dachte eine Weile nach und sagte:,, Das Beinhaus - - das ist's. ",, Teufel! Beinhäuser lieb ' ich gar nicht, Tom! Da sind Gespenster, und die sind noch schlimmer als Tote. Tote können vielleicht mal ' n bißchen schwatzen, aber sie fahren nicht herum und kommen nicht ' rangeschlichen, wenn man nicht dran denkt und gucken einem nicht plötzlich über die Schulter und knirschen nicht mit den Zähnen, wie Gespenster tun. Ich könnt's nicht ertragen, Tom - - niemand könnt's. ",, Ja; aber, Huck, Geister dürfen nur nachts herumhuschen - - bei Tage können sie uns nicht hindern, da zu graben. ",, Ja, das ist wohl so. - - Aber du weißt wohl, daß überhaupt niemand gern in die Nähe vom Beinhaus geht - - weder bei Tag noch bei Nacht. ",, Na, ' s ist aber doch nur, weil sie nicht hingehen mögen, wo mal einer gemordet worden ist. Aber ' s hat doch nie jemand was Verdächtiges im Beinhaus gesehn - - nur ' n bißchen blaues Licht im Fenster - - keine Geister. ",, Na, ich sag ' dir, Tom, wo du so ' n blaues Licht siehst, kannst du sicher sein, daß da ' n Geist dahinter steckt. ' s ist doch mal so bekannt. So ' n Licht, weißt du, braucht niemand als Gespenster. ",, ' s ist wahr, Huck. Aber bei Tag ' kommen sie doch nicht ' raus; da brauchen wir uns doch nicht zu fürchten? ",, Na, meinetwegen, wenn du meinst, woll'n wir ' s Beinhaus vornehmen - - aber - - aber ich denk doch, ' s ist gewagt. " Inzwischen waren sie den Hügel hinuntergekommen. Dort, mitten im Mondlicht, im Tal stand das Beinhaus vor ihnen, gänzlich einsam, die Umzäunung längst zerbrochen, die Tür umgeben von allerhand Schlinggewächsen, das Dach halb zerfallen, leere Fensterhöhlen und der Schornstein eingesunken. Die Jungen standen eine Weile still, halb in der Erwartung, ein blaues Licht in den Fenstern zu sehen; sie sprachen, wie Zeit und Umstände es verlangten, mit halber Stimme. Dann machten sie, daß sie fortkamen, umkreisten das unheimliche Gebäude in weitem Bogen und schlichen durch den Wald von Cardiff Hill nach Hause. Siebenundzwanzigstes Kapitel. Gegen Mittag des nächsten Tages kamen die Jungen bei dem abgestorbenen Baum an; sie wollten ihr Werkzeug holen. Tom hatte es sehr eilig, zum Beinhaus zu kommen. Huck, etwas weniger hitzig, sagte plötzlich:,, Wart mal, Tom, weißt du auch, was heut für ' n Tag ist? " Tom ließ die Tage der Woche Revue passieren und machte erschreckte Augen:,, Donnerwetter, Huck, hab ' noch gar nicht dran dacht! ",, Na, ich hab's bisher auch nicht getan, aber plötzlich fiel's mir eben ein, heut ist Freitag! ",, Verdammt! Man kann doch nicht vorsichtig genug sein, Huck. Hätten in ' ne schöne Patsche geraten können, wenn wir so was an ' nem Freitag begonnen hätten! ",, Will ich meinen! Sag ' lieber: wären gekommen! ' s gibt Glückstage, aber der Freitag ist gewiß keiner von ihnen! ",, Das weiß jeder Dummkopf. Denk doch, du bist nicht der erste, der das rauskriegt. ",, Na, das hab ' ich ja doch auch nicht gesagt, oder? Und der Freitag ist noch nicht alles. Hab ' ' nen verflucht bösen Traum gehabt, letzte Nacht - - hab ' von Ratten geträumt. ",, Na, ist ' n schönes Zeichen, daß was passiert! Kämpften sie? ",, Nee. ",, Na, dann ist's gut, Huck. Wenn sie nicht kämpfen, ist's nur ein Zeichen, daß was in der Luft liegt, weißt du. Wir brauchen also bloß gut aufzupassen und uns in acht zu nehmen. Wollen wir also das für heute lassen und spielen. - - Kennst du Robin Hood, Huck? ",, Nee, wer ist Robin Hood? ",, Na, das war einer von den größten Menschen, die je in England gelebt haben - - und einer der besten. ' s war ein Räuber. ",, Wetter, wünscht ', ich wär ' auch einer. Wen beraubte er denn? ",, Nur Sheriffs und Bischöfe und reiche Leute und Könige und solches Volk. Arme beraubte er nie. Er liebte sie. Er teilte alles mit ihnen bis auf den letzten Penny. ",, Muß ein verflucht guter Bursche gewesen sein. ",, Will ich meinen, Huck. O, er war der edelste Mensch, der je gelebt hat. Solche Leute gibt's jetzt gar nicht mehr, sag ' ich dir. Er konnte alle Menschen in England besiegen, auch wenn seine eine Hand gebunden war. Und dann konnte er mit seinem Eibenbogen und seinem Pfeil ein Zehn - Centstück jederzeit treffen - - anderthalb Meilen davon. ",, Was ist ' n Eibenbogen? ",, Weiß nicht; ' s ist halt irgend ein Bogen. Und wenn er das Stück nur am Rande traf, setzte er sich hin und weinte - - wahrhaftig. Aber laß uns Robin Hood spielen - - ' s ist ' n famoser Spaß. Werd's dir beibringen. ",, Mir recht. " So spielten sie Robin Hood den ganzen Nachmittag, zuweilen sehnsüchtige Blicke auf das Beinhaus werfend und eine Bemerkung über die Aussichten und möglichen Ereignisse des nächsten Tages fallen lassend. Als die Sonne im Westen zu sinken begann, schlenderten sie heimwärts durch die langen Schatten der Bäume und waren bald im Walde von Cardiff Hill verschwunden. Am Samstag, kurz nach Mittag, waren die Jungen abermals am Fuße des bewußten Baumes. Sie rauchten ein bißchen und hielten ein Schwätzchen im Schatten der Bäume, und stocherten dann ein wenig in ihrer Grube, nicht mit großen Hoffnungen, sondern mehr, weil Tom sagte, es wäre schon oft vorgekommen, daß Leute einen Schatz schon aufgegeben, nachdem sie ihm bis auf sechs Zoll nahe gekommen seien, und dann sei irgend ein anderer gekommen und habe ihn mit einem einzigen Spatenstich ausgehoben. Diesmal war's indessen nichts, so nahmen die Jungen ihr Werkzeug auf die Schultern und marschierten ab, im Gefühl, daß sie beim Graben zwar kein Glück gehabt, aber alles getan hätten, was beim Schatzsuchen vonnöten sei. Als sie das Beinhaus erreichten, lag etwas so Geheimnisvolles, Unheimliches in dem toten Schweigen, das hier unter der brütenden Sonne herrschte, und etwas so Niederdrückendes in der Verlassenheit und Trostlosigkeit des Ortes, daß sie für einen Augenblick nicht den Mut hatten, einzutreten. Dann schlichen sie zur Tür und spähten vorsichtig hinein. Sie erblickten einen von Unkraut überwucherten, ungepflasterten Raum, einen alten Feuerherd, leere Fensterhöhlen, eine halb zerfallene Treppe, und hier und da und dort hingen zerrissene, verlassene Spinnengewebe. Sie traten sogleich vorsichtig ein, mit klopfenden Pulsen, sich im Flüsterton besprechend, die Ohren für das geringste Geräusch gespitzt, die Muskeln angespannt, um unverzüglich davonlaufen zu können. Aber in kurzem wurden sie heimisch, verloren ihre Furcht und unterzogen die Szenerie einer kritischen, aufmerksamen Inspektion, dabei immer mehr ihre eigene Kühnheit bewundernd. Danach richteten sich ihre Blicke auf die Treppe. Es hieß, sich den Rückzug abschneiden, aber sie ermutigten sich gegenseitig, und so konnte es nicht fehlen - - sie warfen ihre Geräte in eine Ecke und kletterten hinauf. Oben zeigten sich dieselben Spuren des Verfalls. In einem Winkel fanden sie einen vielversprechenden Wandschrank, aber die Hoffnung war trügerisch - - es war nichts drin. Jetzt waren sie wieder ganz im Besitz ihres Mutes und ihrer Unternehmungslust. Gerade wollten sie wieder hinunter und ihr Werk beginnen, da - -,, Pst, " flüsterte Tom.,, Was gibt's? " Huck ebenso, schneeweiß vor Schreck.,, Pscht - - du - - hörst du nichts? ",, Ja - - o Himmel - - laß uns fortlaufen! ",, Halt's Maul! Rühr ' dich nicht! Sie kommen richtig auf die Tür zu! " Die Jungen kauerten sich auf den Fußboden nieder, spähten durch Ritzen auf dem Fußboden und warteten in Furcht und Elend.,, Sie halten - - - - nein - - sie kommen - - da sind sie! Kein Wort mehr, Huck! Mein Gott - - ich wollt ', ich wär ' hier raus! " Zwei Männer traten ein. Beide Jungen sagten zu sich selbst:,, ' s ist der alte taubstumme Spanier, der ein paarmal letzthin im Dorfe war - - den anderen hab ' ich nie gesehn. " Der,, andere " war ein zerlumpter, ungekämmter Strolch mit wenig einladenden Gesichtszügen. Der Spanier war in eine,, Serape " gehüllt, er hatte einen struppigen weißen Bart, langes, weißes Haar flatterte unter dem Räuberhut hervor, er trug grüne Augengläser. Indem sie hereinkamen, sprach der,, andere " mit leiser Stimme; sie setzten sich auf die Erde, das Gesicht zur Tür, den Rücken gegen die Wand, und der Sprecher fuhr fort. Sein Benehmen wurde ungenierter und seine Sprache entschiedener.,, Nein, " sagte er,,, hab ' drüber nachgedacht - - ' s geht nicht; ' s ist zu gefährlich. ",, Gefährlich, " höhnte der taubstumme Spanier zur höchsten Überraschung der Jungen.,, Waschlappen! " Diese Stimme ließ die Jungen erzittern wie Espenlaub. Es war der Indianer - Joe! Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann fuhr Joe fort:,, Was ist wohl gefährlicher als der letzte Streich - - und doch ist nichts passiert. ",, Das ist ' n Unterschied. Weit draußen am Fluß und kein Haus in der Nähe! Wer sollt ' denn wissen, daß wir was versucht haben, wo wir doch nichts erreicht haben! ",, Na, wie kann was gefährlicher sein, als bei Tage hierher kommen? Wer uns säh ', müßt ' doch Verdacht haben. ",, Weiß wohl. ' s gab aber keinen besseren Platz nach dem mißglückten Streich. Muß fort von hier. Wollt's auch gestern schon, ' s war aber nicht möglich, von hier auszuziehen, solange diese Teufelsjungen da oben ganz in der Nähe spielten. ",, Diese Teufelsjungen " zuckten unter dieser Bemerkung zusammen und dachten, wie gut es doch sei, daß sie sich noch zur rechten Zeit an den Freitag erinnert und beschlossen hatten, bis Samstag zu warten. Sie wünschten nur, ein Jahr gewartet zu haben. Die beiden Männer holten ein paar Lebensmittel hervor und hielten eine Mahlzeit. Nach langem, gedankenvollen Schweigen sagte Joe:,, Paß auf, Kerl, mache, daß du wieder stromaufwärts kommst, wo du hingehörst. Warte dort, bis du von mir hörst. Werd ' mir mal die Gelegenheit ansehen im Dorf. Wenn ich ' n bißchen rumgeschnüffelt hab ' und alles sich gut anläßt, wolln wir das, gefährliche Stückchen ' ausführen. Dann nach Texas! Wollen's zusammen machen! " Das war befriedigend. Beide fingen an zu gähnen, und Joe sagte:,, Bin todmüde! Die Reihe ist an dir, zu wachen. " Er warf sich nieder und begann bald zu schnarchen. Der andere stieß ihn ein paarmal an, und er wurde ruhig. Plötzlich begann der Wächter zu nicken; sein Kopf sank tiefer und tiefer; dann schliefen beide. Die Jungen taten einen langen, erleichterten Atemzug. Tom flüsterte:,, Jetzt gilt's - - komm! " Huck aber meinte:,, Kann nicht - - wär ' tot, wenn sie aufwachten! " Tom drängte, Huck hielt zurück. Schließlich erhob sich Tom leise und furchtsam und schlich allein davon. Aber der erste Schritt, den er tat, erzeugte auf dem Holzboden ein solches Krachen, daß er halbtot vor Angst wieder niederkauerte. Er machte keinen zweiten Versuch. Die Jungen lagen da, die schrecklichen Augenblicke zählend, bis es ihnen schien, die Zeit habe aufgehört und die Ewigkeit beginne. Und dann erleichterte sie der Gedanke, daß schließlich die Sonne untergehen müsse. Jetzt rührte sich der eine Schläfer. Joe richtete sich auf, starrte um sich, lächelte verächtlich auf seinen Spießgesellen nieder, dessen Kopf auf seine Knie gesunken war, stieß ihn mit dem Fuße an und rief:,, Auf! Bist mir ' n schöner Wächter, Kerl! ",, Na ja, was denn - - ' s ist ja nichts passiert. ",, Na - - hast du denn jetzt ausgeschlafen? ",, ' s geht halb und halb. ",, Jetzt heißt's aber aufbrechen. Was machen wir nur mit dem bißchen Geld, was wir noch haben? ",, Weiß nicht - - lassen's hier, wie sonst, denk ' ich. Wer sollt's fortnehmen, wenn wir weg sind? Sechshundertundfünfzig in Silber ist auch zu viel zum Mitschleppen. ",, Na ja - - ist recht - - wenn wir doch noch mal herkommen müssen. ",, Dann ist's aber doch besser, in der Nacht herzukommen, wie sonst. ",, Ja - - aber denk ' mal, ' s könnt ' doch ' ne ziemliche Zeit dauern, bis ich zu dem Streich kommen kann, ' s könnt sich was zutragen und ' s liegt hier grad ' an keinem guten Platz. Wollen's doch lieber richtig vergraben - - und tief vergraben. ",, ' s ist ' n guter Gedanke, " sagte der andere, ging durch den Raum, kniete nieder, riß einen der Herdsteine auf und holte einen Sack heraus, der vielversprechend klang. Er nahm zwanzig bis dreißig Dollar für sich und ebensoviel für Joe heraus und gab den Sack letzterem, der in der Ecke kniete, mit seinem Messer die Erde aufwühlend. Die Jungen vergaßen alle Angst, all ihre Verlegenheit bei diesem Anblick. Mit glänzenden Augen verfolgten sie jede Bewegung. Der Glanz da unten übertraf all ihre Vorstellungen! Sechshundert Dollar war Geld genug, ein halbes Dutzend kleiner Jungen reich zu machen! Hier ließ sich unter den glücklichsten Aussichten nach Gold graben, da gab's kein Kopfzerbrechen, wo man graben müsse. Jeden Augenblick stießen sie einander an - - ein leichtes Verständigungsmittel, denn ihr einziger Gedanke war: Freust dich, daß wie hier sind. Joes Messer stieß auf etwas.,, Holla, " sagte er.,, Was gibt's? " fragte der andere Strolch.,, ' n halb verfaulter Balken - - nee, glaub ', ' s ist ' n Kasten. Hier, hilf mal, wollen sehn, was es gibt. Ho, da hab ' ich ' n Loch hineingebrochen. " Er griff mit der Hand hinunter und zog sie wieder heraus.,, Mensch - - ' s ist Geld! " Die beiden untersuchten die Handvoll Münzen. Es war wirklich Gold. Die Jungen oben waren ebenso erregt und entzückt wie sie. Joes Spießgeselle sagte:,, Wollen gleich ganze Arbeit damit machen. Dort liegt ' ne alte verrostete Hacke in der Ecke, dort auf der anderen Seite vom Herd - - sah sie vorhin. " Er lief hin und brachte Hacke und Schaufel der Jungen. Joe nahm die Hacke, betrachtete sie mit kritischer Miene, schüttelte den Kopf, murmelte etwas vor sich hin und begann damit zu hantieren. Die Kiste war bald ausgegraben. Sie war nicht sehr groß; sie hatte Eisenbänder und war sehr stark gewesen, bevor der Zahn der Zeit sie angefressen hatte. Der Kerl betrachtete den Schatz eine Weile aufmerksam, schweigend, aber vergnügt.,, Kerl, ' s sind gewiß tausend Dollar, " sagte er.,, ' s hat ja immer schon geheißen, daß Murrels Bande vorigen Sommer hier gehaust hat, " bemerkte der Fremde.,, Weiß wohl, " entgegnete Joe,,, und mir scheint, ' s sieht ganz danach aus. ",, Jetzt brauchst du deinen Streich nicht mehr auszuführen, sollt ' ich denken. " Der Indianer runzelte die Stirn und sagte:,, Du kennst mich nicht. Wenigstens weißt du nichts von dieser Sache. Hier will ich nicht rauben - - ' s ist Rache! " Und mit flammenden Augen sprang er auf.,, Brauch ' deine Hilfe dazu nicht! Wenn's geschehen ist - - nach Texas. Geh ' du nur heim zu deiner Hure und der Brut - - und sei bereit, wenn du von mir hörst! ",, ' s ist gut, wenn du's sagst. Was woll'n wir hiermit machen - - wieder vergraben? ",, Ja. (Freude und Entzücken oben.) Nein, beim großen Geist, nein! (Tiefe Niedergeschlagenheit.) ' s könnt ' leicht vergessen werden. - - Die Hacke da hat frische Erdspuren! (Die Jungen wurden fast ohnmächtig vor plötzlichem Schreck.) Was haben ' ne Hacke und ' ne Schaufel hier zu tun? Wie kommt frische Erde dran? Wer hat sie hier gebraucht - - und wo sind die Burschen hin? Hast du was gehört - - was gesehn? Zum Teufel - - wieder vergraben und sie kommen lassen und die Erde frisch aufgewühlt sehen? Wär ' so was! Glaub's. Wir nehmen das mit. ",, Na, meinetwegen. Aber überleg ' erst, wohin. Meinst du Nummer eins? ",, Nein - - Nummer zwei - - unter dem Kreuz. Der andere Platz ist schlecht - - zu gewöhnlich. ",, Recht. ' s ist bald dunkel genug, aufzubrechen. " Joe richtete sich auf und ging von Fenster zu Fenster, vorsichtig hinausspähend. Plötzlich sagte er:,, Wer könnt ' doch nur das Handwerkszeug da hergebracht haben? Glaubst du, sie könnten oben sein? " Den Jungen stand der Atem still. Joe legte die Hand ans Messer, zögerte einen Moment unentschlossen, dann begann er die Treppe zu ersteigen. Die Jungen dachten an den Schrank, aber die Kräfte versagten ihnen. Die Schritte näherten sich knarrend - - die verzweifelte Lage stachelte die gesunkenen Lebensgeister wieder auf - - sie waren im Begriff, zum Schrank zu laufen, als plötzlich das Krachen brechenden Holzes ertönte und Joe wieder unten ankam, mit den Trümmern der Treppe. Fluchend rappelte er sich empor und der andere Strolch sagte:,, Na, wozu das alles! Wenn jemand da ist und er steckt oben - - laß ihn stecken - - was kümmert's uns? Wenn einer runter kommen will und sich hier Ungelegenheiten zuzieht - - meinetwegen! In fünfzehn Minuten wird's dunkel - - dann soll uns folgen, wer will. Meine Meinung ist: die Kerls, die die Sachen hierher geschleppt haben, haben uns gesehen und uns für Gespenster und Geister gehalten. Will wetten, sie laufen noch! " Joe brummte noch ' ne Weile, dann stimmte er dem anderen bei, das letzte Tageslicht zur Ausführung der nötigen Vorbereitungen zu benützen. Kurz danach schlüpften sie aus dem Haus ins Zwielicht und wandten sich mit ihrer kostbaren Last dem Flusse zu. Tom und Huck erhoben sich, warteten, bis alles still war und starrten dann durch Ritzen im Gebälk ihnen nach. Folgen! Kein Gedanke - - sie waren zufrieden, den Boden zu erreichen, ohne sich den Hals gebrochen zu haben, und machten sich über den Hügel auf den Heimweg. Sie sprachen nicht viel, sie waren zu ärgerlich auf sich selbst - - ärgerlich über die Dummheit, Hacke und Spaten mit hierher zu nehmen. Denn ohne das würde Joe niemals Verdacht geschöpft haben. Er hätte Silber und Gold vergraben, um erst seine,, Rache " auszuführen - - und dann würde er das Unglück gehabt haben, nichts mehr vorzufinden! Bitteres, bitteres Verhängnis, daß sie ihr Werkzeug mitschleppen mußten! Sie nahmen sich vor, auf den Spanier zu achten, wenn er ins Dorf kommen sollte, um das Terrain für seinen Racheplan zu sondieren, und ihm dann nach,, Nummer zwei " zu folgen, mochte es sein, wo es wollte. Da kam Tom ein schrecklicher Gedanke:,, Rache? Wenn er uns meinte. Huck? ",, Er wird doch nicht? " stotterte Huck, fast umfallend. Sie sprachen eifrig darüber und einigten sich in der Annahme, daß er jemand anders gemeint haben müsse - - im schlimmsten Fall könne er nur Tom meinen, da nur dieser Zeugnis abgelegt habe. Was ein sehr, sehr schwacher Trost für Tom war, allein in Gefahr zu sein! Ein Leidensgefährte würde hier ein besserer Trost sein - - dachte er. Achtundzwanzigstes Kapitel. Das Abenteuer des Tages quälte Tom nachts im Traum. Manchmal hielt er den Schatz in Händen, manchmal zerrann er ihm zwischen den Fingern in nichts, bis ihn der Schlaf verließ und das Erwachen ihn von der schrecklichen Wirklichkeit seiner Lage überzeugte. Als er am frühen Morgen, die Einzelheiten seines Abenteuers überdenkend, dalag, erschienen sie ihm immer undeutlicher und unklarer, als wenn sie sich in irgend einer anderen Welt ereignet hätten oder in längst vergangener Zeit. Dann schien ihm das große Ereignis wie ein Traum! Es sprach sehr viel dafür, namentlich, daß die Menge Geld, die er gesehen hatte, gar zu groß schien, um wirklich existieren zu können. Er hatte nie mehr als fünfzig Dollar in einem Haufen gesehen und wie alle Jungen seines Alters und seiner Lebenslage, glaubte er, daß alle,, Hunderte " und,, Tausende " nichts anderes seien als glänzende Redensarten, und daß eine solche Summe in Wirklichkeit gar nicht denkbar sei. Nicht einen Augenblick hatte er gedacht, daß sich in irgend jemandes Besitz eine solche Summe, wie hundert Dollar war, finden könne. Wenn er sich seine vergrabenen Schätze vorstellte, rechnete er höchstens mit ' ner Handvoll Schillinge. Aber die Einzelheiten seines Abenteuers traten ihm, je mehr er daran dachte, um so schärfer und klarer vor die Seele und plötzlich ertappte er sich über dem Gedanken, daß möglicherweise doch nicht alles ein Traum gewesen sei. Diese Ungewißheit mußte abgeschüttelt werden. Schnell wollte er sein Frühstück hinunterschlingen und dann Huck aufsuchen. Huck saß auf dem Rande eines Bootes, seine Füße ins Wasser baumeln lassend und mit sehr melancholischem Gesichtsausdruck. Tom beschloß, Huck selbst auf den Gegenstand kommen zu lassen. Tat er's nicht, dann war alles ein Traum gewesen.,, Holla, Huck! ",, Morgen, Tom! " Minutenlanges Stillschweigen.,, Tom, hätten wir den verdammten Spaten oben beim Baum gelassen, hätten wir's Geld bekommen. Ach, ' s ist zum Verrücktwerden! ",, ' s war also kein Traum, ' s war kein Traum! Möcht ' fast, ' s wär einer gewesen. ",, Was ist kein Traum? ",, O, die Geschichte von gestern. Dachte halb, ' s wär einer gewesen. ",, Traum! Wär ' die Treppe nicht gebrochen, hättest du was von ' nem Traum erleben können! Hab ' die ganze Nacht von dem verdammten grünäugigen Spanier geträumt, wie er auf mich losging. Der Henker hol ' ihn! ",, Nicht hol ' ihn! Find ihn! Find's Geld! ",, Tom - - wollen ihn lieber nicht wiederfinden! Mich würd's schütteln, wenn ich ihn bloß wieder zu sehen kriegte. ",, Gut, so tu ich's. Möcht ' ihn schon sehen und ihm nachschleichen - - nach Nummer zwei. ",, Nummer zwei; ja, das ist's. Denk ' immerfort drüber nach. Aber ich kann's nicht rauskriegen. Was denkst du? ",, Weiß nicht. Ist zu tief. Sag ', Huck - - könnt's nicht die Nummer von ' nem Haus sein '? ",, Goddam! - - Nein, Tom, das ist's nicht. Wenn's ist, ist's doch nicht hier im Dorf. Hier gibt's keine Nummern. ",, Ja, das ist wohl so. Laß mich ' ne Minute denken. He - - ' s ist die Nummer von ' nem Zimmer - - in ' nem Wirtshaus - - weißt du! ",, Das ist's! Das ist ' n Kniff! ' s gibt aber nur zwei Wirtshäuser. Wir können's leicht finden. ",, Wart ' hier, Huck, bis ich wiederkomm '. " Im Nu war Tom verschwunden. Er wollte sich auf offener Straße nicht mit Huck sehen lassen. Eine halbe Stunde war er fort. Er fand, daß im besseren Wirtshaus Nummer zwei seit langer Zeit von einem jungen Advokaten bewohnt war und noch wurde. Im andern Wirtshaus war Nummer zwei in geheimnisvolles Dunkel gehüllt. Der Sohn des Wirtes sagte, daß sie stets geschlossen gehalten werde und daß er nie jemand habe hineingehen oder herauskommen sehen - - ausgenommen zur Nachtzeit; Näheres wußte er nicht, er selbst schon habe den Gedanken gehabt, es spuke in dem Zimmer und schließlich wußte er nichts von einem Licht darin in der letzten Nacht.,, Das hab ' ich alles rausgekriegt, Huck. Ich denke, ' s ist die Nummer zwei, die wir brauchen. ",, Denk ' auch, Tom. Und was willst du jetzt tun? ",, Laß mich nachdenken. " Tom dachte lange nach, dann sagte er:,, Will's dir sagen. Die Hintertür von Nummer zwei geht auf den Gang zwischen Wirtshaus und der alten Mauer. Nun sollst du alle Schlüssel, die du nur auftreiben kannst, zusammentragen und ich will alle von meiner Tante nehmen und in der ersten dunklen Nacht wollen wir hingehen und sie versuchen. Und dann sollst du auf Joe aufpassen, weil er doch gesagt hat, daß er hier ' ne Gelegenheit für seine Rache aushorchen will. Wenn du ihn siehst, folgst du ihm; und wenn er dann nicht nach Nummer zwei geht, dann ist's nicht der rechte Ort. ",, Herr Gott, ich wag's nicht, ihm zu folgen! ",, Unsinn, bei Nacht ist's sicher. Er braucht dich ja nicht zu sehen - - und wenn er's tut, denkt er sich nichts dabei. ",, Na, ' s ist gut: wenn's dunkel ist, denk ' ich, ich folg ' ihm. Werd's versuchen. ",, Aber sicher, Huck - - wenn du nicht gut aufpaßt, wird's nichts! " Neunundzwanzigstes Kapitel. Nachts waren Tom und Huck bereit für ihr Abenteuer. Bis nach neun Uhr trieben sie sich in der Nachbarschaft des Gasthofes herum, einer stets den bewußten Gang aus einiger Entfernung bewachend, der andere die vordere Tür. Niemand passierte den Gang; niemand, der dem Spanier ähnlich gesehen hätte, passierte die Tür. Die Nacht versprach klar zu werden; so ging Tom nach Hause, mit der Verabredung, daß, sollte sich der Himmel noch bewölken, Huck kommen und miauen solle, worauf er wieder herauskommen und die Schlüssel probieren würde. Aber die Nacht blieb klar, Huck beschloß seine Wacht und zog sich gegen 12 Uhr zum Schlafen in eine leere Zuckertonne zurück. Am Dienstag hatten die Jungen ebensowenig Erfolg; auch am Mittwoch. Aber die Donnerstagnacht ließ sich besser an. Tom schlüpfte zu guter Zeit mit der alten Blechlaterne seiner Tante und einem großen Tuch zum Zudecken aus dem Haus. Er versteckte die Laterne in Hucks Zuckertonne und die Wache begann. Eine Stunde vor Mitternacht wurde das Gasthaus geschlossen und seine Lichter (überhaupt die einzigen) erloschen. Kein Spanier hatte sich gezeigt. Niemand war im Gange gesehen worden. Alles versprach günstigen Erfolg. Absolute Finsternis herrschte, und die tiefe Stille wurde nur zuweilen von fernem Donner unterbrochen. Tom holte seine Laterne, hüllte sie fest in das Tuch, und die beiden Abenteurer tasteten sich in der Finsternis dem Wirtshaus zu, Huck blieb als Schildwache zurück, Tom begab sich weiter den Gang hinauf. Dann folgte eine Zeit ängstlicher Erwartung, die gleich einer schweren Last auf Hucks Geist lastete. Er begann zu hoffen, es möge sich wenigstens ein schwacher Schimmer von der Laterne zeigen - - es hätte ihm Furcht eingejagt, aber wenigstens hätte es ihm gezeigt, daß Tom noch am Leben sei. Stunden schienen vergangen, seit Tom verschwunden war. Sicher war er verunglückt. Vielleicht war er gar tot; vielleicht war sein Herz vor Schreck und Aufregung gebrochen. In seiner Unruhe ließ sich Huck immer mehr den Gang hinauflocken, alles mögliche Unheil witternd und jeden Augenblick in Erwartung eines schrecklichen Unglücks, das ihn das Leben kosten werde. Es gehörte vielleicht nicht mehr viel dazu, denn er schien nur mehr fähig, Fingerhut - Portionen Luft einzuatmen und sein Herz mußte bald springen, so heftig schlug es. Plötzlich blitzte vor ihm Licht auf und Tom kam herangerast, ihm zurufend:,, Fort - - fort - - wenn dir dein Leben lieb ist! " Er brauchte nicht zu wiederholen; einmal war genug. Huck rannte mit dreißig bis vierzig Meilen Schnelligkeit, ehe Tom noch ausgesprochen hatte. Die Jungen standen nicht eher, als bis sie den Schatten des Schlachthauses am entferntesten Ende des Dorfes erreicht hatten. Im Moment ihrer Ankunft an diesem geschützten Ort begann der Sturm einzusetzen und Regen stürzte nieder. Sobald Tom wieder atmen konnte, sagte er:,, Huck, ' s war schrecklich! Ich versuchte zwei Schlüssel, so leise ich konnte, aber die schienen solch ' nen mächtigen Spektakel zu machen, daß ich ganz atemlos vor Schreck war. Na, ohne zu wissen, was ich tat, drückte ich auf den Griff und die Tür sprang auf! Sie war gar nicht zu! Ich trat ein und hob das Tuch auf, und beim Geist des großen Cäsar - - ",, Was - - was sahst du, Tom? ",, Huck - - ich wär beinahe auf die Hand des Indianer - Joe getreten! ",, Nein! ",, Ja. Er lag da auf dem Boden fest schlafend, das alte Pflaster über dem Auge, die Arme weit ausgebreitet. ",, Herrgott, was tatst du? Wachte er auf? ",, Kein Gedanke. Denk ', er war besoffen. Ich raffte schnell das Tuch auf und rannte davon! ",, Hätt ' gewiß nicht an das Tuch gedacht, glaub ' ich! ",, Na, ich sollt ' wohl! Meine Tante hätt ' mich schon drangekriegt, wenn ich's verloren hätt '. ",, Sag ', Tom, hast du die Kiste gesehen? ",, Huck - - hab ' mir keine Zeit genommen, mich lang ' umzusehen. Weder die Kiste hab ' ich gesehen noch ' s Kreuz. Nur ' ne Flasche und ' n Zinnbecher auf der Erde beim Indianer - Joe hab ' ich gesehen; und dann zwei Fässer und ' ne Menge Flaschen. Weißt du jetzt, warum die Bude, verhext ' ist? ",, Na? ",, Na - - mit Schnaps ist sie verhext! Ob all die Temperenzler - Gasthäuser so ' ne verhexte Bude haben, he, Huck? ",, Na - - ich denk wohl! Wer hätt ' aber so was gedacht! Aber sag ', Tom, ist jetzt nicht ' ne verwünscht gute Gelegenheit, die Kiste zu erwischen? Wenn Joe doch betrunken ist! ",, Teufel auch - - versuch's! " Huck schauderte.,, Na - - ich denk ' doch nicht. ",, Na - - ich auch, Huck. Bloß eine leere Flasche bei Joe ist nicht genug. Wären's drei gewesen, wär ' er wohl besoffen genug, und ich tät's. " Langes, nachdenkliches Schweigen, dann sagte Tom:,, Will dir was sagen, Huck, wollen die Sache nicht wieder probieren, wenn wir nicht wissen, daß Joe nicht drin ist. ' s ist zu gräßlich! Wenn wir jede Nacht Wache halten, ist's todsicher, daß wir ihn mal ' rausgehen sehen, dann ist's ' ne Kleinigkeit, die Kiste ' rauszuholen! ",, Na, ist mir recht. Werd ' die ganze Nacht warten und so jede Nacht, wenn du dann das andere machen willst. ",, Schon gut, werd's schon machen. Alles, was du tun sollst, ist, daß du kommst und wirfst ' ne Handvoll Erde ans Fenster, dann werd ' ich schon aufwachen. - - Jetzt, Huck, scheint mir, ' s Wetter ist vorüber, werd ' nach Hause gehen. In ' ner halben Stunde wird's Tag. Geh zurück und wach ' noch so lange - - willst du? ",, Sagte, ich würd's, und so werd ' ich, Tom! ' n ganzes Jahr werd ' ich jede Nacht wachen! Ich schlaf den ganzen Tag, und nachts halt ' ich Wache. ",, ' s ist gut. Aber wo willst du jetzt schlafen? ",, Auf Ben Rogers Heuboden. Er läßt mich, und auch seines Alten Nigger, Onkel Jack. Onkel Jack hab ' ich Wasser geholt, wenn er's verlangt hat, und manchmal, wenn ich ihn bitte, gibt er mir zu essen - - wenn er was über hat. ' s ist ' n verdammt feiner Nigger, Tom. Er liebt mich, weil ich nie tu ', als ständ ' ich über ihm. Manchmal hab ' ich mich richtig hingesetzt und mit ihm gegessen. Aber sag's niemand! Wenn man schrecklich hungrig ist, tut man wohl was, kümmert man sich den Henker um was. ",, Na, Huck, werd ' dich tags nicht stören, kannst ruhig schlafen. Und wenn du was siehst nachts, komm nur gleich und miaue! " Dreißigstes Kapitel. Das erste, was Tom am Freitagmorgen vernahm, war eine freudige Nachricht - - Familie Thatcher war in der Nacht vorher zurückgekommen! Beides, Joe und der Schatz, sanken für den Augenblick zu sekundärer Bedeutung herunter, und Becky nahm Toms ganzes Interesse in Anspruch. Er sah sie und sie verlebten wundervolle Stunden mit einigen Schulkameraden,,, Blindekuh " und,, Fangen " spielend. Der Tag war tadellos und wurde in ganz besonders befriedigender Weise beschlossen. Becky erbettelte von ihrer Mutter die Erlaubnis, den nächsten Tag für das lang ' versprochene und lang ' ersehnte Picknick festzusetzen, und diese willigte ein. Das Entzücken der Kinder war grenzenlos, Toms nicht am wenigsten. Noch vor Sonnenuntergang wurden die Einladungen versandt und das gesamte junge Volk im Dorfe geriet in ein wahres Fieber von Vorfreude und angenehmer Erwartung. Tom wurde durch seine Aufregung bis zu später Stunde wachgehalten und hoffte beständig Huck miauen zu hören und am nächsten Tage Becky und alle Teilnehmer am Picknick mit seinem Schatz in Erstaunen setzen zu können. Aber er wurde enttäuscht. Kein Zeichen ließ sich hören. Endlich brach der Morgen an, und um zehn oder elf Uhr versammelte sich eine ausgelassene, freudestrahlende Gesellschaft bei Thatchers, alles war zum Aufbruch bereit. Es war nicht die Gewohnheit der Erwachsenen, Picknicks mit ihrer Gegenwart zu stören. Man glaubte die Kinder unter den Fittichen von ein paar jungen Damen von achtzehn und ein paar jungen Herren von dreiundzwanzig oder so sicher genug. Das alte Dampfboot war für die Gelegenheit gemietet worden. Bald war der ganze Weg von der lustigen, mit Vorratsbeuteln bepackten Bande erfüllt. Sid war krank und hatte zu Hause bleiben müssen; Mary blieb gleichfalls, um ihm Gesellschaft zu leisten. Das letzte, was Mrs. Thatcher zu Becky sagte, war:,, Komm ' nur nicht zu spät zurück. Vielleicht wird's besser sein, Kind, du bleibst zur Nacht bei einem von den Mädchen, das näher bei der Überfahrt wohnt. ",, Dann bleib ' ich bei Susy Harper, Mama! ",, Schon gut. Und benimm dich ordentlich und treib ' keinen Unsinn! " Sobald sie fort waren, sagte Tom zu Becky:,, Du - - ich will dir sagen, was wir tun! Statt zu Joe Harper zu gehn, klettern wir auf den Hügel rauf und gehn zur Witwe Douglas. Die hat sicher Eiscreme! Sie hat fast immer was - - ' nen ganzen Haufen. Und sie wird sich schrecklich freuen, uns zu haben! ",, Ach, das wird schön werden! " Dann dachte Becky einen Augenblick nach und sagte:,, Aber was wird Mama sagen? ",, Woher soll sie's denn erfahren? " Das Mädchen überlegte sich die Sache und sagte zögernd:,, Ich denk ' doch, ' s ist unrecht - - aber - - ",, Aber - - Unsinn! Deine Mama erfährt's nicht, was schad's also? Sie will doch nur, daß du irgendwo gut aufgehoben bist, und glaub ' nur, sie würd ' selbst gesagt haben, du solltst dahin gehen, wenn sie nur dran gedacht hätt '. Ich weiß, sie hätt's! " Die glänzende Gastfreundschaft der Witwe Douglas war ein verlockender Köder. Das und Toms Beredsamkeit behielten die Oberhand. So wurde beschlossen, niemand was von dem Programm für die Nacht zu sagen. Plötzlich fiel Tom ein, Huck könne gerade in dieser Nacht kommen und das Zeichen geben. Der Gedanke machte ihn ein wenig nachdenklich. Schließlich konnte er's aber doch nicht übers Herz bringen, das Projekt mit der Witwe Douglas aufzugeben. Und warum sollte er es aufgeben - - war das Zeichen in der letzten Nacht nicht gekommen, warum sollte es denn wohl gerade in dieser Nacht kommen? Die Aussicht auf das sichere Vergnügen des Abends schlug die unbestimmte auf den Schatz aus dem Felde. Und - - wie Kinder sind - - er beschloß ganz der stärkeren Anziehungskraft zu folgen und sich während des ganzen Tages keinen Gedanken an das Geld zu gestatten. Drei Meilen unterhalb des Dorfes legte das Dampfboot an einem bewaldeten Hügel an. Die Gesellschaft schwärmte hinaus und bald hallten die entlegensten Teile des Waldes und die unzugänglichsten Höhen von Geschrei und Lachen wider. Alle Mittel, heiß und müde zu werden, wurden gewissenhaft angewandt, und allmählich strömten alle Ausflügler zurück zum Lager, mit tüchtigem Hunger ausgestattet und dann begann die Vernichtung der guten Sachen. Nach dem Frühstück wurde eine erfrischende Ruhepause im Schatten breitästiger Eichen gemacht. Dann rief auf einmal jemand:,, Wer will mit zur Höhle? " Alles wollte. Bündel von Kerzen wurden zusammengerafft und geradenwegs hinauf auf den Hügel. Die Mündung der Höhle war hoch oben, ein offenes Tor in der Form des Buchstabens A. Die massive eichene Tür stand offen. Dahinter tat sich ein kleiner Raum auf, kalt wie ein Eiskeller und von der Natur durch solide Kalkmauern eingefaßt, die von kalter Feuchtigkeit bedeckt waren. Es war romantisch und geheimnisvoll, hier in tiefer Dunkelheit zu stehen und auf die grünen, in der Sonne glänzenden Laubmassen hinauszuschauen. Aber der überwältigende Eindruck nahm schließlich doch bedeutend ab und das Umhertollen begann wieder. Jeden Augenblick wurde eine Kerze angezündet, dann stürzte sich alles auf den, der sie trug, ein Kampf und mutige Verteidigung folgten, aber die Kerze war bald zu Boden geschlagen oder ausgeblasen, und dann gab's allgemeines Gelächter und eine neue Jagd. Aber alles hat ein Ende. Allmählich begab sich der Zug tiefer in die Höhle hinab, immer tiefer, wobei der flackernde Schein der Lichter die mächtigen Felswände fast bis zu ihrer vollen Höhe von sechzig Fuß ungewiß beleuchtete. Der Weg war hier nicht mehr als acht oder zehn Fuß breit. Alle paar Schritt taten sich noch engere, hohe Gänge nach beiden Seiten auf, denn die Douglashöhle war nichts als ein wildes Labyrinth von verzweigten Gängen, die überall auseinander liefen, um sich doch immer wieder zu treffen. Man sagte, es könne jemand viele Tage und Nächte durch dies unglaubliche Gewirr von Gängen und Spalten irren, ohne jemals das Ende der Höhle zu finden; und daß er tiefer und immer tiefer, bis in den Mittelpunkt der Erde dringen könne, und es wäre doch immer dasselbe - - Labyrinth unter Labyrinth, und nirgends ein Ende. Niemand,, kannte " die Höhle; das war unmöglich. Die meisten der jungen Leute kannten einen Teil davon und so leicht wagte sich niemand über diesen bekannten Teil hinaus. Tom Sawyer kannte so viel von der Höhle wie alle anderen. Ungefähr dreiviertel Meilen marschierte man in geschlossenem Zug durch den Hauptgang, dann begannen sich einzelne Haufen und Paare seitwärts in die Nebengänge zu zerstreuen, durch die unheimlichen Gänge laufend, um sich schließlich zu gegenseitiger Überraschung an irgend einem Punkt wieder zu treffen. Man konnte wohl eine halbe Stunde auch hier im bekannten Teil herumstreifen, ohne einander zu begegnen. Schließlich kam Paar auf Paar zur Höhle zurückgeschlendert, mit Talg bespritzt, kalkbeschmiert und ganz berauscht von den Herrlichkeiten des Tages. Dann waren alle ganz überrascht, daß sie so wenig auf die Zeit geachtet hatten und es schon fast Nacht war. Schon seit einer halben Stunde hatte die Schiffsglocke zum Aufbruch gemahnt. Indessen, auch diese Art, die Abenteuer des Tages zu beschließen, war romantisch und deshalb befriedigend. Als das Dampfboot mit seiner ausgelassenen Fracht vom Ufer abstieß, kümmerte sich niemand ' nen Deut um die versäumte Zeit - - außer dem Kapitän. Huck befand sich bereits auf seinem Wachposten, als die Lichter des Dampfbootes an der Landungsstelle vorbeiglitten. Er hörte keinen Ton an Bord, denn das Volk war so zahm geworden, wie man zu sein pflegt, wenn man sich halbtot gehetzt hat. Er grübelte darüber, was für ein Boot das sein möge und warum es nicht am gewöhnlichen Ort anlege - - und dann vergaß er es und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf seine eigene Angelegenheit. Die Nacht war bewölkt und dunkel. Zehn Uhr schlug's, das Wagengerassel schwieg, die Lichter begannen zu verlöschen, der Lärm der Fußgänger verstummte nach und nach - - das Dorf ging zur Ruhe und überließ den kleinen Wächter dem Schweigen und den Gespenstern. Elf Uhr schlug's, und das Licht im Wirtshaus erlosch; jetzt herrschte überall Finsternis. Huck wartete, schien ihm, sehr lange Zeit, aber nichts geschah. Unruhe überkam ihn. Wenn alles umsonst war? Wenn er genarrt wurde? Warum nicht die Sache aufgeben und sich davon machen? Da hörte er eine Stimme. Sofort war er ganz Aufmerksamkeit. Vorsichtig wurde die Gangtür geschlossen. Schnell drückte er sich in eine Ecke an der Mauer. Im nächsten Augenblick huschten zwei Männer vorbei, und einer schien etwas unter dem Arm zu haben. Das mußte die Kiste sein! So wollten sie also heute den Schatz vergraben. Ob er Tom weckte? Es wäre Wahnsinn gewesen - - die Leute wären mit der Kiste entwischt und niemand hätte sie jemals gefunden. Nein, er wollte ihnen folgen; er wollte sich unter dem Schutze der Finsternis ihnen an die Fersen heften. So mit sich selbst sprechend, kam Huck hervor und glitt hinter den Männern her, leise wie eine Katze, barfuß, gerade so weit von ihnen entfernt, um nicht gesehen zu werden. Eine Zeitlang gingen sie die Flußstraße aufwärts und wandten sich dann durch eine kleine Gasse seitwärts. Immer steil hinauf kamen sie schließlich an den Weg, der nach Cardiff Hill hinaufführte; diesen schlugen sie ein. Sie kamen am Haus des alten Wallisers vorbei, in halber Höhe des Hügels, und stiegen, ohne sich aufzuhalten, immer noch höher. Gut, dachte Huck, sie werden's im alten Steinbruch vergraben. Aber auch da hielten sie nicht an. Sie gingen vorbei, ganz auf den Hügel. Dann schwenkten sie in den Weg durch den großen Sumachwald ein und waren auf einmal in der Finsternis verschwunden. Huck beeilte sich die Entfernung zu verringern, denn er war sonst nicht mehr imstande, sie im Auge zu behalten. Eine Weile rannte er vorwärts; dann hielt er inne, aus Furcht, zu weit geraten zu sein; rannte wieder ein Stück vorwärts, und hielt wieder; horchte; nichts zu hören; nur, daß er das Klopfen des eigenen Herzens hörte. Der Schrei einer Eule ertönte - - unheilverkündend; aber keine Fußtritte. Himmel, hatte er sie verloren? Er war im Begriff, Hals über Kopf vorwärts zu stürzen, als jemand nicht vier Fuß vor ihm sich räusperte. Das Herz fuhr Huck in die Kehle, aber er bezwang sich. Und dann stand er da, zitternd, als hätten ihn tausend Fieber auf einmal gepackt, und so schwach, daß er gleich umfallen zu müssen meinte. Er wußte, wo er war. Er wußte, er war nicht fünf Schritt von dem Zaun entfernt, der um den Grund und Boden der Witwe Douglas führte.,, Famos, " dachte er,,, mögen sie's hier vergraben, ' s wird nicht schwer sein, es hier wieder zu finden. " Jetzt hörte er eine leise Stimme - - eine sehr leise Stimme - - die des Indianer - Joe:,, Hol sie der Teufel - - muß sie grad ' heut Gesellschaft haben - - ' s ist Licht, so spät's auch ist! ",, Kann nicht sehn! " Dies war des Fremden Stimme - - des Fremden aus dem Beinhaus. Tödlicher Schreck durchfuhr Hucks Herz - - dies also war die,, Rache! " Sein erster Gedanke war auszureißen. Dann erinnerte er sich, wie die Witwe Douglas mehr als einmal freundlich gegen ihn gewesen sei - - und wer weiß, ob diese da nicht die Absicht hatten, sie zu ermorden! Er sehnte sich nach einer Gelegenheit, sie zu warnen. Aber er wußte, er könnte ' s nicht wagen; sie würden ihn kriegen und umbringen. All dies und noch anderes ging ihm in einem Augenblick durch den Kopf zwischen den Worten des Fremden und den nächsten Joes.,, Weil der Busch dir im Wege ist. So - - hierher - - kannst du jetzt sehn? ",, Ja. Denk auch, ' s ist Gesellschaft da. Besser, wir geben's auf. ",, Aufgeben, wo ich dies Land für immer verlassen soll! Aufgeben und nie wieder ' ne Gelegenheit haben! Sag ' dir nochmal, was ich dir schon mal gesagt hab ' - - brauch ' ihre Pfennige nicht - - kannst du haben. Aber ihr Mann war gemein gegen mich - - oft genug - - und er war der Richter, der mich zu ' nem Landstreicher gemacht hat. Und ' s ist nicht alles! ' s ist noch nicht der millionste Teil davon! Gepeitscht hat er mich - - gepeitscht vorm Gefängnis - - wie ' nen Nigger! Das ganze Dorf konnt's sehen! Gepeitscht!! Verstehst du? Er ist mir zuvorgekommen - - er ist tot. Aber sie soll dran! ",, Bitt ' dich - - töt ' sie nicht! Tu's nicht! ",, Töten? Wer spricht von töten? Ihn würd ' ich abschneiden, wenn er hier wär ' - - sie nicht. Wenn man sich an ' ner Frau rächen will - - die muß man an der Fratze packen! Schneid't ihr die Nase auf und stutzt ihr die Ohren - - wie ' nem Schwein! ",, Teufel - - ",, Behalt deine verdammte Meinung für dich! Wird's beste für dich sein! Werd ' sie ans Bett festbinden. Wenn sie sich zu Tode blutet - - was kann ich dafür? Werd ' nicht drum heulen, wenn sie's tut. Du, mein Freund - - wirst mir dabei helfen - - auf meine Rechnung - - hab ' dich nur dazu mitgenommen - - möcht ' für mich allein zu viel sein. Wenn du davonläufst, hau ' ich dich zusammen - - verstehst du? Und wenn ich dich töte, bring ' ich sie auch um - - und dann, denk ' ich, kann keiner ' rauskriegen, wer das Geschäft besorgt hat. ",, Na, wenn's geschehen muß, rasch dran! Je eher, desto besser - - mir läufts ohnehin schon über. ",, Jetzt tun? Wo Gesellschaft da ist? Sollt ' dir wahrhaftig nicht trauen, scheint mir! - - Nichts da - - wollen warten, bis die Lichter aus sind - - ' s hat keine Eile. " Huck fühlte, daß jetzt Stillschweigen eintreten werde - - schrecklicher als das mörderischste Geschrei; so hielt er den Atem an und zog sich vorsichtig zurück, wobei er die Füße vorsichtig und fest aussetzte, immer auf einem Bein balanzierend, tastend und sich auf eine Seite legend, bald auf diese; dann auf die andere; und dann knackte ein Zweig unter seinen Füßen! Er hielt den Atem an und horchte. Nichts zu hören - - vollkommene Stille. Seine Dankbarkeit war grenzenlos. Nun wandte er sich um, so vorsichtig, als wäre er ein Schiff gewesen, und trabte dann rasch, aber vorsichtig davon. Beim Steinbruch angekommen, hielt er sich für sicher; so nahm er die Beine unter die Arme und rannte in gestrecktem Galopp davon. Hinunter, immer weiter hinunter, bis er das Haus des Wallisers erreicht hatte. Er klopfte an die Tür und sofort erschienen die Köpfe des alten Mannes und seiner zwei handfesten Söhne am Fenster.,, Wer spektakelt da? Was für'n Lärm draußen? Was gibt's? ",, Laßt mich ein - - schnell! Werd ' euch alles sagen! ",, So - - wer ist's denn? ",, Huckleberry Finn - - schnell, laß mich rein! ",, Huckleberry Finn - - so! ' s ist ein Name, denk ich, dem sich nicht viel Türen öffnen! Aber laßt ihn ' rein, Burschen, woll'n sehen, was er hat. ",, In des Himmels Namen - - sagt's niemand, daß ich euch was erzählt hab ', " waren Hucks erste Worte, als er hineingelassen war.,, Tut's nicht - - würd ' sicher getötet - - aber die Witwe ist oft genug freundlich gegen mich gewesen und ich werd's sagen - - werd's sagen, wenn ihr versprecht, nicht zu sagen, daß ich's gesagt hab '. ",, Bei St. Georg - - er hat was zu sagen - - oder er tät ' nicht so, " rief der Alte.,, Heraus damit, und daß ihr's niemand sagt, Burschen! " Drei Minuten später waren der Alte und seine Söhne wohlbewaffnet oben auf dem Hügel und drangen auf den Zehen in den Sumachwald ein, die Büchse in der Hand. Huck begleitete sie nicht weiter. Er verbarg sich hinter einem Felsblock und lauschte. Langes, angstvolles Schweigen - - und dann plötzlich ein Schuß und ein Schrei! Huck wartete nichts weiter ab. Er sprang auf und rannte den Hügel hinunter, so schnell ihn seine Beine tragen wollten. Einunddreißigstes Kapitel. Beim ersten Tagesgrauen am nächsten Tage, einem Sonntagsmorgen, kam Huck den Hügel hinaufgeschlichen und klopfte leise an des Wallisers Tür. Die Inwohner schliefen, aber es war infolge der aufregenden Ereignisse der Nacht ein sehr leichter Schlaf. Eine Stimme fragte durchs Fenster:,, Wer da? " Hucks schüchterne Stimme antwortete in leisem Ton:,, Bitte, laß mich ' rein - - ' s ist nur Huck Finn. ",, ' s ist ein Name, dem sich die Tür bei Tag und Nacht öffnen kann, Bursche - - und willkommen! " Dies waren ungewohnte Worte für die Ohren des kleinen Herumstreichers und die angenehmsten, die er je gehört hatte. Er konnte sich nicht erinnern, die Schlußworte jemals vorher gehört zu haben. Die Tür wurde sofort geöffnet und er schlüpfte hinein. Huck bekam einen Stuhl, und der Alte und seine Enakssöhne kleideten sich rasch an.,, Nun, mein Junge, hoff ', ' s geht dir gut und du hast Hunger, denn ' s Frühstück wird mit der Sonne fertig sein und ' s wird zudem tüchtig heiß sein - - brauchst keine Sorgen zu haben. Ich und die Jungen hofften, würd'st letzte Nacht nochmal wieder hierher kommen. ",, Hatt ' zu große Angst, " sagte Huck,,, und machte, daß ich fortkam. Lief davon, als die Schüsse losgingen, und hielt erst nach drei Meilen an. Jetzt bin ich gekommen, weil ich wissen möchte von - - Ihr wißt schon! und komm ' vor Tageslicht, weil ich den Teufeln nicht begegnen möcht, selbst wenn sie tot wären. ",, Glaub's, armer Kerl, siehst aus, als hättst du ' ne böse Nacht hinter dir - - na, hier ist ' n Bett für dich, wenn du gefrühstückt hast. Nun - - tot sind sie nicht, leider - - tut uns wahrhaftig leid genug. Du weißt, wir wußten nach deiner Beschreibung wohl, wo wir sie am Kragen kriegen würden, so schlichen wir auf den Zehen bis fünfzehn Schritt von ihnen entfernt - - ' s war dunkel wie in ' nem Loch - - und gerade da fühlt ' ich, daß ich niesen müsse. ' s war wohl grad ' der rechte Augenblick! Ich versucht ', es zurückzuhalten, aber keine Möglichkeit, ' s wollte kommen und ' s kam! Ich war voran, die Pistole schußfertig, und wie nun mein Niesen die Schufte aufschreckte, hört ich ' n Rascheln vor mir, so rief ich:,, Feuer, Jungens! " und gab ' nen Schuß, wo die Kerle waren. Ebenso meine Jungen. Aber wie ' n Wind waren sie fort, diese Halunken; wir hinterher, runter durch den Wald. Denk, wir haben sie nicht getroffen. Im Laufen gaben sie noch jeder ' nen Schuß ab, aber die Kugeln fuhren vorbei und taten uns nichts. Sobald wir sie nicht mehr hörten, gingen wir heim und weckten die Konstabler. Sie wollten ' ne Treibjagd machen und gingen runter, die Flußufer abzusuchen, und wenn's hell ist, woll'n sie und der Sheriff die Wälder vornehmen. Meine Jungen werden auch dabei sein. Wollt ' nur, wir hätten so was wie ' ne Beschreibung von diesen Galgenvögeln - - ' s würd ' n gut Teil helfen. Du konntest wohl im Dunkeln nicht sehen, was es für Kerle waren, denk ' ich? ",, Doch - - sah sie schon im Dorf und folgte ihnen. ",, Famos! - - Beschreib ' sie - - beschreib ' sie, mein Junge! ",, Der eine ist der taubstumme Spanier, der hier ' n paarmal ' rumgeschlichen ist, der andere ein verdächtig aussehender, zerlumpter - - ",, ' s ist genug, Junge, kenne die Kerle schon! Traf sie mal in den Wäldern hinter dem Garten der Witwe, und sie machten sich auch gleich davon. Fort mit euch, Burschen, sagt's dem Sheriff - - könnt euer Frühstück morgen essen! " Sofort verschwanden die Söhne des Alten. Als sie das Zimmer verlassen hatten, sprang Huck auf und rief:,, O, bitte, sagt's niemand, daß ich's war, der sie aufgespürt hat - - bitte! ",, Ist schon gut, Huck, wenn du's wünschst, aber du sollst doch den Lohn für das haben, was du da getan hast! ",, Ach, nein, nein! Bitte, sagt's nicht! ",, Sie werden's nicht sagen, " beruhigte der Alte,,, und ich auch nicht. Aber warum soll's keiner wissen? " Huck wollte nichts weiter sagen, als daß er schon zu viel über einen der Strolche wisse und nicht wünschte, daß der von seiner Mitwisserschaft Wind bekomme, nicht um die Welt, denn ' s wär sicher, daß er dafür getötet werden würde. Der alte Mann versprach nochmals Schweigen und sagte:,, Aber, Bursche, wie kamst du denn drauf, diesen Gaunern zu folgen? Kamen sie dir verdächtig vor? " Huck schwieg einen Moment, während er über einer möglichst unverfänglichen Antwort brütete. Dann sagte er:,, Na, seht Ihr, ich bin halt mal ' n ungehobelter Bursche - - jeder sagt's, und ich weiß nicht, was dagegen einzuwenden wäre - - und manchmal kann ich nicht schlafen vor dem Gedanken daran, und nehm ' mir vor, zu versuchen, mich zu ändern. ' s war wieder so letzte Nacht. Ich konnt ' nicht schlafen und so kam ich um Mitternacht etwa, drüber nachdenkend, auf die Straße, und wie ich an die alte Mauer beim Temperenzler - Wirtshaus komme, lehn ' ich mich so, ohne mir was zu denken, dran. Na, gerade in dem Augenblick kamen die beiden Strolche angeschlichen, dicht an mir vorbei, was unterm Arm tragend; es ist gewiß gestohlen, denk ich. Der eine rauchte, der andere wollt ' auch Feuer haben; blieben also gerade vor mir stehn, und beim Anzünden der Zigarren wurden ihre Gesichter erleuchtet, und ich sah, daß der größere der taubstumme Spanier war - - an den weißen Haaren und dem Pflaster aus dem Auge, - - und der andere war ein roher, zerlumpter Teufel. ",, Konntst auch die Lumpen beim Leuchten der Zigarren sehen? " Dies verwirrte Huck für ' nen Augenblick. Dann sagte er:,, Ja, ich weiß nicht - - aber ' s schien mir wenigsten so. ",, Dann gingen sie weiter, und du - -? ",, Folgte ihnen - - ja, ' s war so. Wollt ' doch sehen, was sie vorhätten - - sie schlichen so verdächtig davon. Ich folgte ihnen bis zum Garten der Witwe und stand dort im Dunkeln und hörte den Zerlumpten für die Witwe bitten, und der Spanier schwor, er wollt ' der Witwe die Nasenlöcher aufschneiden; gerade so wie ich's Euch sagte und Euren - - ",, Was, all das sagte der taubstumme Mann! " Huck hatte wieder einen schrecklichen Mißgriff begangen. Er hatte sich die größtmöglichste Mühe gegeben, den Alten nicht erraten zu lassen, wer der Spanier sei, und doch schien ihn seine Zunge trotz aller Vorsicht in Ungelegenheiten bringen zu wollen. Er machte krampfhafte Anstrengungen, aus seiner Verwirrung herauszukommen, aber das Auge des alten Mannes haftete auf ihm, schärfer und immer schärfer. Plötzlich sagte der Walliser:,, Mein guter Junge, brauchst dich nicht vor mir zu fürchten, möcht ' um alles in der Welt nicht ein Haar auf deinem Haupte krümmen. Nein - - ich würd ' dich beschützen - - verlaß dich drauf. Dieser Spanier ist nicht taubstumm. Da hast du dir was entschlüpfen lassen. Du weißt was über diesen Kerl, das du nicht verraten möchtest. Na, vertrau ' dich mir an - - sag ' mir, was es ist, vertrau ' mir - - werd ' dich nicht verraten! " Huck blickte in des alten Mannes ehrliche Augen, dann beugte er sich hinüber und flüsterte ihm ins Ohr:,, ' s ist kein Spanier - - ' s ist der Indianer - Joe! " Der Walliser fuhr fast von seinem Stuhl auf. Nach kurzer Pause sagte er dann:,, ' s ist jetzt klar genug. Als du von Nasenaufschlitzen und Ohrenstutzen sprachst, dacht ' ich, ' s wär deine eigene Erfindung, denn kein Weißer übt so ' ne Rache. Aber ein Indianer! Das ist freilich ' n großer Unterschied. " Während des Frühstücks ging die Unterhaltung weiter, in deren Verlauf der Alte erwähnte, das letzte, was sie getan hatten, bevor sie zu Bett gegangen seien, sei gewesen, mit einer Laterne die Kampfstelle nach Blutspuren zu untersuchen. Die hätten sie nicht gefunden, wohl aber ein dickes Bündel mit - -,, Mit was? " Wären die Worte Blitze gewesen, sie hätten nicht schneller aus Hucks bleichen Lippen kommen können. Seine Augen waren weit aufgerissen, sein Atem stockte - - indem er auf Antwort wartete. Der Walliser stutzte - - zögerte mit der Antwort - - drei Sekunden - - fünf Sekunden - - zehn - - dann endlich entgegnete er:,, Mit Einbrecherwerkzeug. - - Nanu, was ist's mit dir? " Huck sank nieder, sein Herz klopfte stürmisch, aber er war dankerfüllt, unsagbar dankerfüllt. Der Walliser sah ihn wieder scharf an, erstaunt, und sagte:,, Ja - - Einbrecherwerkzeug. Schien dich mächtig zu freun. Aber was geht das dich an? Was dachtest du denn, was wir gefunden hätten? " Huck saß schon wieder in der Klemme. Forschende Augen richteten sich wiederum auf ihn - - alles hätte er für eine glaubliche Antwort gegeben. Nichts fiel ihm ein; die forschenden Augen drangen tiefer und tiefer - - eine unsinnige Antwort drängte sich ihm auf - - Zeit zur Überlegung gab's nicht, so stieß er auf gut Glück mit schwacher Stimme heraus:,, Sonntagsschulbücher, vielleicht - - " Der arme Huck war zu verwirrt, um lächeln zu können, aber der alte Mann lachte laut und vergnügt, wurde von Kopf bis zu Fuß vom Lachen geschüttelt und sagte schließlich, so ein Lachen wäre gerade so gut wie bar Geld in der Tasche, denn es mache jede Doktorrechnung überflüssig. Dann fügte er hinzu:,, Kleiner Dummkopf, bist ja ganz blaß und zitterst; bist nicht wohl. ' s ist kein Wunder, daß du ein wenig aus der Balanze bist. Aber sollst schon wieder ' reinkommen. Ruhe und Schlaf wird dich wohl zurechtbringen - - hoff ' ich. " Huck ärgerte sich, daß er ein solcher Esel gewesen und solche Aufregung gezeigt hatte, hatte er doch seit dem Gespräch am Gartenzaun der Witwe ohnehin schon den Verdacht gehabt, daß jenes Bündel, das er vom Wirtshaus hatte forttragen sehen, gar nicht sein Schatz gewesen sei. Indessen hatte er das doch nur vermutet, gewußt hatte er es nicht; und so war die Erwähnung von der Auffindung des Bündels zuviel gewesen für seine Selbstbeherrschung. Da er nun aber volle Gewißheit hatte, beruhigte er sich bald und wurde ganz vergnügt. Der Schatz mußte noch in Nummer zwei sein, die Kerle würden wohl noch am gleichen Tage erwischt werden, so konnten er und Tom ohne alle Angst oder Furcht vor Überraschung nachts das Geld abholen. Gerade war das Frühstück beendet, da klopfte es an die Tür. Huck sprang schnell in ein Versteck, denn er hatte gar keine Lust, mit den letzten Ereignissen in Verbindung gebracht zu werden. Der Walliser ließ einige Damen und Herren ein, unter ihnen die Witwe Douglas, und sah dabei noch verschiedene Gruppen von Bürgern den Hügel heraufklettern, um sich den Schauplatz anzusehen. So war also die Sache schon allgemein bekannt. Er mußte den Besuchern die Geschichte der Nacht erzählen, worauf sich die Witwe Douglas bei ihm bedankte.,, Kein Wort davon, Madam. ' s ist noch ' n anderer da, dem Sie mehr zu danken haben als mir und meinen Jungen, denk ' ich; aber er hat's mir nicht erlaubt, seinen Namen zu sagen. Ohne ihn wären wir überhaupt gar nicht dazu gekommen. " Dies rief solche Neugier hervor, daß schließlich die Hauptsache darüber vergessen wurde; aber der Walliser ließ seine Besucher sich ruhig die Köpfe zerbrechen und behielt sein Geheimnis für sich, auch als das ganze Dorf von der Sache erfuhr. Nachdem alle Einzelheiten erörtert waren, sagte die Witwe:,, Ich las noch vorm Einschlafen im Bett, dann schlief ich so fest, daß ich von all dem Lärm nichts hörte. Warum haben Sie mich nicht geweckt? ",, Hielten's nicht für nötig. Die Schufte würden doch nicht wiederkommen, würden sich wohl gehütet haben; wozu also Sie wecken und zu Tode erschrecken? Übrigens haben meine drei Nigger die ganze Nacht vor Ihrem Haus Wache gehalten. Da kommen sie gerade zurück. " Noch mehr Besucher kamen, und die Geschichte mußte während mehrerer Stunden wieder und immer wieder erzählt werden. Während der Schulferien fiel auch die Sonntagsschule aus, trotzdem war heut alles frühzeitig in der Kirche. Das aufregende Ereignis wurde lebhaft erörtert. Es wurde erzählt, daß noch keine Spur von den Landstreichern gefunden worden sei. Als die Predigt zu Ende war, ging die Frau des Richters Thatcher auf Frau Harper zu, die mit der großen Menge den Gang hinunterschritt, und sagte:,, Will meine Becky denn den ganzen Tag schlafen? Habs mir aber wohl gedacht, daß sie todmüde sein würde. ",, Ihre Becky? ",, Freilich. " (Mit erschrockenem Blick):,, Blieb sie denn abends nicht bei Ihnen? ",, Bewahre. " Mrs. Thatcher wurde leichenblaß und sank auf eine Bank in dem Augenblick, als Tante Polly, mit einer Bekannten sich unterhaltend, vorbeikam.,, Guten Morgen, Mrs. Thatcher, " sagte sie,,, guten Morgen, Mrs. Harper. Hab ' wieder mal ' nen verlorenen Jungen. Denk ' wohl, Tom ist die Nacht im Haus von einer von Ihnen geblieben. Nun hat er Angst, in die Kirche zu kommen. Werd ' wieder mal Abrechnung halten müssen mit ihm. " Frau Thatcher schüttelte schwach den Kopf und wurde noch blasser.,, Bei uns ist er nicht gewesen, " sagte unsicher Frau Harper. In Tante Pollys Gesicht zeigte sich merkliche Unruhe.,, Joe Harper, hast du meinen Tom diesen Morgen schon gesehen? ",, Nein, Ma'm. ",, Wann hast du ihn zuletzt gesehen? " Joe versuchte sich zu erinnern, konnt's aber nicht bestimmt sagen. Die Leute blieben allmählich, neugierig geworden, stehen. Geflüster entstand, lebhafte Erregung verbreitete sich unter ihnen, Kinder wurden ängstlich ausgehorcht, auch die jungen Wächter. Alle sagten sie, sie hätten nicht acht gegeben, ob Tom und Becky bei der Heimfahrt an Bord gewesen seien; es war dunkel gewesen und niemand hatte daran gedacht, sich zu vergewissern, ob auch jemand fehle. Schließlich platzte ein junger Mann damit heraus, sie möchten noch in der Höhle stecken! Frau Thatcher fiel in Ohnmacht, Tante Polly begann zu weinen und die Hände zu ringen. Die schrecklichen Worte gingen von Mund zu Mund, von Gruppe zu Gruppe, von Straße zu Straße, und in nicht ganz fünf Minuten hallten die Glocken wild, und die ganze Ortschaft war in Aufregung. Die Geschichte von Cardiff Hill wurde zur gleichgültigen Episode, die Einbrecher waren vergessen, Pferde wurden gesattelt, Boote bemannt, das Dampfboot instandgesetzt, und ehe der allgemeine Schreck eine halbe Stunde alt geworden, waren zweihundert Mann unterwegs, über den Fluß und auf dem Wege zur Höhle. Den ganzen langen Nachmittag schien das Dorf tot und verlassen. Eine Menge Frauen besuchten Tante Polly und Frau Thatcher, und versuchten, sie zu trösten. Oder sie weinten mit ihnen - - und das war noch besser als alle Worte. Während der ganzen schrecklichen Nacht warteten die Frauen auf Nachricht; aber als schließlich der Morgen graute, bekam man nichts zu hören als:,, Schickt mehr Kerzen und Lebensmittel " Frau Thatcher war völlig verzweifelt, Tante Polly nicht weniger. Richter Thatcher schickte hoffnungsvolle Botschaften aus der Höhle, aber sie brachten keine rechte Erleichterung. Gegen Morgen kam der alte Walliser, mit Lehm und Wachs beschmiert, nach Hause, zu Tode erschöpft. Er fand Huck noch im Bett, das für ihn hergerichtet worden war, und im Fieber irreredend. Die Ärzte waren alle in der Höhle, so kam die Witwe Douglas, um sich nach dem Patienten umzusehen. Sie sagte, sie wolle ihr Bestes für ihn tun, denn, ob er nun gut, schlecht oder keins von beiden sei, er sei Gottes Geschöpf, und nichts, was von Gott sei, dürfe man mißachten. Der Walliser meinte, Huck habe wohl gute Seiten, worauf die Witwe entgegnete:,, Sie können sich darauf verlassen. Er trägt des Herren Mal an sich. Er wird ihn nie verlassen. Er tut's nie. Er vergißt keine Kreatur, die von ihm stammt. " Früh am Vormittag kamen einzelne Trupps von Männern ins Dorf zurück, die meisten aber suchten noch immer weiter. Alles, was zu berichten war, war, daß man so weit wie noch nie jemand in die Höhle vorgedrungen sei; daß jeder Winkel, jede Spalte aufs sorgfältigste abgesucht worden sei. Wo man auch gehe in den Irrgängen, überall könne man Lichter nah und fern hin und her huschen sehen; Rufe und Pistolenschüsse hätten ihren Schall bis in die tiefsten Gänge hinuntergesandt. An einer Stelle, fern von dem gewöhnlich besuchten Teil, hatte man die Namen,, Becky " und,, Tom " mit Ruß an einem Felsen geschrieben gefunden, und nahe dabei ein beschmutztes Band. Frau Thatcher erkannte das Band und brach in Tränen aus. Sie klagte, es sei das letzte Andenken, das sie von ihrem Kinde haben solle, und daß keine andere Erinnerung jemals so kostbar sein könne; denn dieses Band war das letzte, was sie von dem kleinen Körper bekam, bevor ihn der schreckliche Tod zerstörte. Einige behaupteten, man könne in der Höhle zuweilen fernen Lichtschein sehen, und dann machte sich jedesmal ein ganzer Trupp unter lauten Freudenrufen dorthin auf - - und dann folgte jedesmal die traurigste Enttäuschung. Es ging nicht von den Kindern aus, es war nur das Licht eines Suchenden. Drei schreckliche Tage und Nächte schleppten ihre unendlichen Stunden dahin, und das Dorf versank in stumme Hoffnungslosigkeit. Für nichts anderes hatten die Leute Sinn. Die eben gemachte überraschende Entdeckung, daß der Besitzer des Temperenzler - Wirtshauses Spirituosen im Besitz habe, erregte kaum schwaches Aufsehen, so unerhört sie auch war. In einem lichten Moment begann Huck mit schwacher Stimme von Wirtshäusern im allgemeinen zu sprechen und fragte schließlich, von vornherein das Schlimmste fürchtend, ob, seit er krank sei, etwas in dem Temperenzler - Wirtshaus entdeckt worden sei. Die Witwe bejahte. Huck fuhr im Bett in die Höhe, die Augen rollend:,, Was - - was ist's? ",, Spirituosen! Und ' s ist daraufhin zugesperrt worden. Lieg ' still, Kind - - wie hast du mich erschreckt! ",, Nur noch das sagen Sie mir - - nur das noch - - bitte: - - War's Tom Sawyer, der's entdeckt hat? " Die Witwe brach in Tränen aus:,, Still, still, Kind! habs dir doch gesagt, du sollst nicht sprechen. Du bist sehr, sehr krank! " Also war nichts als Schnaps gefunden; wär's das Geld gewesen, hätt's doch sicher mächtiges Aufsehen erregt. So war also der Schatz für immer verloren - - für immer! - - Aber warum weinte sie denn? Sonderbar, daß die Frau da weinte. Solche trüben Gedanken gingen Huck durch den Kopf, und infolge der dadurch erzeugten Erschöpfung schlief er ein. Die Witwe dachte bei sich:,, So da - - jetzt schläft er wieder - - armer Kerl! Tom Sawyer es finden! Erbarm ' dich - - wenn doch jemand den Tom Sawyer finden wollte! Viele gibt's sicher nicht, die noch Hoffnung oder auch nur Kraft genug haben, auf die Suche zu gehen! " Zweiunddreißigstes Kapitel. Kehren wir jetzt wieder zu Toms und Beckys Anteil am Picknick zurück. Mit der übrigen Gesellschaft trieben sie sich durch die finsteren Gänge, die bekannten Wunder der Höhle betrachtend - - mit hochtrabenden Bezeichnungen wie,, Gesellschaftszimmer ",,, Kathedrale ",,, Aladins Palast " usw. ausgestattete Wunder. Als dann das lustige Fangen und Verstecken begann, beteiligten sich Tom und Becky eifrig daran, bis auch das allmählich langweilig wurde. Darauf spazierten sie eine gewundene Felsgasse hinunter, indem sie mit hochgehaltenen Kerzen die halb von Spinnweben verdeckten Namen, Daten, Postorte und Mottos lasen, mit denen die Wände verziert waren. Als sie so allein und plaudernd weitertrieben, merkten sie schließlich, daß sie sich bereits in einem Teil der Höhle befanden, der keine solchen Inschriften aufwies. Sie kritzelten ihre eigenen Namen mit Kerzenrauch unter einen Felsvorsprung und gingen weiter. Plötzlich kamen sie an eine Stelle, wo eine Quelle, über Geröll herunterrieselnd und Kalkstückchen mit sich treibend, durch endlose Jahrhunderte einen kleinen Niagara über in ewige Finsternis gehüllte unveränderbare Felsen bildete. Tom zwängte seinen kleinen Körper darunter, um den Wasserfall zu illuminieren. Er fand, daß er eine Art natürliche steinerne Treppe in die Tiefe verbarg, welche zwischen schmalen Wänden eingeklemmt war. Die Begierde, den Entdecker zu spielen, ergriff ihn sofort. Becky stimmte ihm bei, und sie machten zur Sicherheit wieder ein Rauchzeichen und machten sich auf die Suche. Sie verfolgten diesen Weg, brachten tief in den tiefsten Abgründen der Höhle noch mehrere solche Zeichen an und trieben sich dann kreuz und quer herum, um Dinge zu entdecken, mit denen sie die Oberwelt verblüffen könnten. Irgendwo fanden sie eine große Höhle, von deren Wölbung eine große Menge schimmernder Tropfsteine, von der Länge und dem Umfange eines Mannes herunterhingen. Staunend und sich verwundernd gingen sie hindurch und plötzlich mündete die Höhle in einen engen Gang, und dieser brachte sie zu einem bezaubernd schönen Springbrunnen, dessen Becken mit einer Eisschicht glänzenden Kristalls bedeckt war. Er befand sich in der Mitte eines hallenartigen Raumes, dessen Wände getragen wurden von einer Reihe phantastisch geformter, aus Tropfstein gebildeter Säulen, das Resultat durch Jahrtausende ruhelos fallender Wassertropfen. Unter der Wölbung hatten sich riesige Ballen von Fledermäusen gebildet, viele tausend aneinander hängend; die Lichter schreckten die Tiere auf, und sie kamen hundertweise herunter, quiekend und wahnsinnig auf die Flammen der Kerzen losstürzend. Tom kannte ihre Art und die Gefahr, die hier entstand. Er griff Becky bei der Hand und zog sie in den ersten sich auftuenden Gang; und nicht zu früh, denn eine Fledermaus löschte mit ihrem Flügel Beckys Licht aus, während sie aus der Höhle rannten. Die Tiere verfolgten die Kinder noch eine gute Strecke, aber die Flüchtlinge stürzten sich in jeden neuen Gang und entgingen so schließlich der gefährlichen Situation. Tom entdeckte einen unterirdischen See, dessen düsteres Wasser weit entfernt sich im Schatten des Unbekannten verlor. Tom wollte seine Ufer umwandern, meinte aber, es möchte besser sein, sich vorher zu setzen und eine Weile zu ruhen. Jetzt, zum erstenmal legte sich die tiefe Stille der Umgebung gleich einer feuchten Hand auf die Gemüter der Kinder. Becky sagte:,, Weißt du, drauf geachtet hab ' ich ja nicht, aber es scheint mir so lange her, seit ich die andern gehört hab '. ",, Na, Becky, denk ' doch nur, wir sind doch tief unter ihnen, und ich weiß nicht, wie weit nördlich oder südlich oder westlich oder was sonst. Können sie hier unmöglich hören. " Becky wurde ängstlich.,, Möcht ' doch wissen, wie lang ' wir schon hier unten sind, Tom. Laß uns lieber umkehren. ",, Ja, denk auch, ' s ist besser. Vielleicht ist's besser. ",, Kannst du den Weg finden, Tom? Für mich ist's ein reiner Irrgarten. ",, Denk wohl, ich könnt ' n finden. Aber dann die Fledermäuse, wenn die uns die Kerzen ausmachen, ist's ' ne schreckliche Sache. Laß uns ' nen anderen Weg versuchen, wo wir nicht durch müssen. ",, Ja, aber ich hoff ', wir werden uns nicht verlaufen. ' s wär doch zu gräßlich. " Und das Kind schüttelte sich schaudernd beim bloßen Gedanken an die furchtbare Möglichkeit. Sie verfolgten einen Gang lange Zeit schweigend, nach jeder neuen Öffnung schauend, ob sich dort nicht eins ihrer Merkmale sehen lasse; aber nichts war zu sehen. So oft Tom seine Untersuchung anstellte, durchforschte Becky sein Gesicht nach einem ermutigenden Zeichen, und er sagte zuversichtlich:,, O, ' s ist schon recht! Der da ist's noch nicht, aber wir werden schon zum rechten kommen! " Aber bei jedem mißlungenen Nachforschen fühlte er weniger und weniger Zuversicht, und schließlich begann er auf gut Glück in jeden sich öffnenden Gang einzulenken, in der verzweifelten Hoffnung, zu finden, was so bitter not tat. Er sagte immer noch:,, ' s wäre recht, " aber auf seinem Herzen lastete solch lähmende Angst, daß die Worte ihren Klang verloren hatten und klangen, als habe er gesagt:,, Alles ist verloren. " Becky, halbtot vor Furcht, schmiegte sich an ihn und versuchte, krampfhaft die Tränen zurückzuhalten, aber sie kamen doch. Schließlich sagte sie:,, O, Tom, was tun die Fledermäuse. Laß uns denselben Weg zurückgehen! Wir kommen ja weiter und immer weiter ab. " Tom blieb stehen,, Horch, " sagte er. Tiefe Stille; so tiefe Stille, daß sogar ihr Atem hörbar wurde. Tom schrie. Der Schall dröhnte durch die hohlen Gänge und erzeugte hundertfaches Echo, um in der Ferne in einem schwachen Ton zu ersterben, der wie höhnisches Lachen klang.,, O, tu's nicht wieder, Tom! ' s ist zu gräßlich, " flehte Becky.,, ' s ist gräßlich, aber ' s muß sein, Becky. Sie könnten uns doch hören, weißt du. " Und er schrie abermals. Dieses,, könnte " war ebenso schrecklich wie das höhnische Lachen, es sprach so völlige Hoffnungslosigkeit daraus. Die Kinder verharrten in Schweigen und lauschten. Aber nichts war zu hören. Plötzlich wandte Tom sich auf demselben Weg zurück und beeilte seine Schritte. Es dauerte gar nicht lange, da enthüllte eine gewisse Unsicherheit in seinen Bewegungen Becky eine neue schreckliche Tatsache: er konnte den Weg nicht wiederfinden!,, Ach, Tom, du hast keine Zeichen mehr gemacht! ",, Becky, was war ich für ' n Esel! Was für ' n Esel! Dachte gar nicht dran, daß wir wieder zurück müßten. Und jetzt kann ich den Weg nicht mehr finden; ' s geht ja so durch'nander! ",, Tom, Tom, wir sind verloren! wir sind verloren! Nie, nie wieder kommen wir aus dieser gräßlichen Höhle heraus! Ach, warum sind wir nicht bei den anderen geblieben! " Sie sank nieder und brach in so herzzerreißendes Weinen aus, daß Tom von dem Gedanken gepackt wurde, sie möchte sterben oder den Verstand verlieren. Er setzte sich zu ihr und legte seinen Arm um sie, sie verbarg ihr Gesicht an seiner Brust, sie weinte sich aus, klagte sich an, zerfloß in nutzloser Reue; und das ferne Echo gab alles als höhnisches Gelächter zurück. Tom bat sie, wieder Mut zu fassen, und sie sagte, sie könne es nicht. Er begann, sich selbst bitter anzuklagen, da er sie in diese fürchterliche Lage gebracht habe. Dies wirkte. Sie sagte, sie wolle wieder Hoffnung zu fassen versuchen, sie wolle sich aufraffen und ihm folgen, wohin er sie auch führen würde, wenn er nur so etwas nicht wieder reden wolle; denn er sei nicht schlimmer als sie selbst. So setzten sie sich also wieder in Bewegung - - ziellos, lediglich dem Zufall sich überlassend. Alles, was sie tun konnten, war ja, vorwärts zu gehen. Während kurzer Zeit belebte sie schwache Hoffnung, nicht auf Grund irgendwelcher Überlegung, sondern lediglich, weil es in der Natur liegt, zuversichtlich zu sein, so lange Alter und die Gewohnheit des Mißlingens ihr noch nicht die Schwingen gebrochen haben. Plötzlich nahm Tom Beckys Kerze und blies sie aus. Diese Sparsamkeit sprach schrecklich deutlich. Worte waren nicht nötig. Becky verstand, und ihre Hoffnung starb wieder. Sie wußte, Tom hatte eine ganze Kerze und drei oder vier Stückchen in der Tasche - - und doch mußte er sparen! Dann begann sich Müdigkeit geltend zu machen. Die Kinder versuchten, ihr nicht nachzugeben, denn der Gedanke, sich zu setzen und dadurch eine Menge kostbarer Zeit zu verlieren, stachelte sie wieder auf; sich bald in dieser, bald in jener Richtung fortzubewegen, war doch immerhin Fortschritt und konnte irgend welchen Erfolg haben; aber sich setzen, hieß den Tod herbeirufen und beschleunigen. Schließlich versagten Beckys zarte Glieder den Dienst, sie setzte sich. Tom blieb bei ihr, und sie sprachen von zu Hause, ihren Freunden, ihren bequemen Betten, und vor allem - - dem Tageslicht! Becky weinte, und Tom zermarterte sich das Hirn, um etwas zu ihrer Aufheiterung zu finden, aber all seine ermunternden Worte waren längst verbrauchte Argumente und klangen wie Hohn. Schließlich drückte die Erschöpfung so schwer auf Becky, daß sie in Schlaf verfiel. Tom war glücklich. Er saß da, starrte in ihr bekümmertes Gesichtchen und sah es sich immer mehr aufhellen unter dem Einfluß angenehmer Träume; schließlich breitete sich ein Lächeln darüber aus. Auch auf ihn schien aus diesen friedvollen Gesichtszügen etwas wie Frieden und Vergessenheit überzugehen, seine Gedanken verloren sich in vergangenen Tagen und zauberten schöne Erinnerungen hervor. Während er tief darin versunken war, wachte Becky mit einem reizenden, kleinen Lachen auf - - aber es erstarb ihr auf den Lippen, und ein Stöhnen folgte ihm.,, O, wie konnte ich schlafen! Ich wollt ', ich wär ' nie, nie wieder aufgewacht! Nein, nein, Tom, ' s ist ja nicht wahr, Tom! Schau nicht so! Ich will's ja nicht wiedersagen! ",, Becky, ich war so froh, daß du schliefst; jetzt bist du wieder stark, und wir werden den Weg heraus schon finden! ",, Wollen's versuchen, Tom! Aber ich hab ' im Traum so ' n schönes Land gesehen. Ich glaub ' dahin gehen wir beide jetzt. ",, Nein, nein! Sei lieb, Becky, und laß uns gehen und ' s versuchen. " Sie standen auf und gingen weiter, Hand in Hand und hoffnungslos. Sie versuchten, sich vorzustellen, wie lange sie schon in der Höhle seien, aber alles, was sie wußten, war, daß es Tage und Wochen schienen, und doch war's nicht möglich, da ihre Kerzen ja immer noch brannten. Eine lange Zeit war vergangen - - sie hätten nicht sagen können, eine wie lange - - als Tom vorschlug, leise zu gehen und zu horchen, ob sie nicht irgendwo Wasser tropfen hörten, sie müßten eine Quelle finden. Bald fanden sie wirklich eine, und Tom meinte, es sei wieder an der Zeit, auszuruhen. Beide waren schrecklich müde, doch Becky erklärte, noch weiter gehen zu können. Sie wunderte sich, daß Tom widersprach. Sie verstand das nicht. Sie setzten sich und Tom befestigte seine Kerze an der Wand vor ihnen. Wieder wurde ihnen schwer zumute. Lange herrschte tiefes Schweigen. Da wimmerte Becky:,, Tom, ich bin so hungrig! " Tom zog etwas aus der Tasche.,, Kennst du das? " fragte er. Becky lächelte beinahe.,, ' s ist unser Hochzeitskuchen, Tom! ",, Ja - - wollt ', ' s wär ' so groß wie ' n Balken, denn ' s ist alles, was wir haben. ",, Ich hab's vom Picknick aufbewahrt, Tom, um davon zu träumen, wie ' s die erwachsenen Leute mit dem Hochzeitskuchen machen - - aber nun wird's unser - - " Sie ließ den Satz unvollendet. Tom teilte den Kuchen und Becky aß mit Appetit, während er nur daran herumknapperte. Es gab eine Menge kaltes Wasser - - zum Beschluß der Mahlzeit. Bald schlug Becky vor, weiter zu gehen. Tom schwieg einen Augenblick, dann sagte er:,, Becky, kannst du's ertragen, wenn ich dir was sage - -? " Becky wurde totenblaß, aber sie sagte, sie dächte.,, Na also, Becky, wir müssen hier bleiben, wo's Trinkwasser gibt. Dies kleine Stückchen da ist unser letztes Licht! " Nun brach Becky doch in Tränen aus und wimmerte leise. Tom tat, was er konnte, sie zu beruhigen, aber mit schwachem Erfolg. Schließlich hauchte Becky:,, Tom! ",, Na, Becky? ",, Sie müssen uns doch vermissen und nach uns suchen! ",, Gewiß, müssen sie! Selbstverständlich müssen sie! ",, Suchen sie uns wohl jetzt schon, Tom? ",, Na, ich denk ' doch, sie tun's! - - Hoff ' wenigstens, sie tun's. ",, Wann mögen Sie uns vermißt haben, Tom? ",, Denk ' doch - - wie sie zum Dampfboot zurückgingen. ",, Tom, ' s mußte doch dunkel sein - - konnten sie's merken, daß wir nicht kamen? ",, Glaub ' kaum. Aber dann mußte deine Mutter es merken, wie die andern nach Haus kamen. " Ein erschreckter Blick aus Beckys Augen brachte Tom zur Besinnung, und ihm fiel ein, daß er sich da einem traurigen Irrtum hingegeben hatte. Becky sollte zur Nacht ja gar nicht heimkommen! Die Kinder wurden still und nachdenklich. Dann belehrte ein neuer Anfall von Verzweiflung bei Becky Tom, daß sie denselben Gedanken hatte wie er - - daß der Sonntagmorgen zur Hälfte vergehen konnte, bevor Frau Thatcher erfuhr, daß Becky nicht bei Harpers gewesen sei. Die Kinder hefteten die Augen auf das Kerzenrestchen und beobachteten, wie es erbarmungslos kleiner und immer kleiner wurde; sahen, wie schließlich nur noch ein halber Zoll Docht übrig war; sahen die Flamme flackern, auf und nieder, eine kleine Rauchsäule von dem Docht aufsteigen, und dann - - dann herrschte der Schrecken vollkommener Finsternis. Wie lange danach Becky allmählich zu dem Bewußtsein gelangte, daß sie weinend in Toms Armen lag, wußten beide nicht. Alles, was sie wußten, war, daß nach anscheinend sehr langer Zeit beide aus totenähnlichem Schlaf erwachten und sich ihres Elends wieder bewußt wurden. Tom meinte, es könne Sonntag sein, vielleicht auch Montag. Er versuchte, Becky zum Sprechen zu bringen, aber ihr Kummer war zu niederdrückend, sie hatte alle Hoffnung verloren. Tom tröstete sie mit der Bemerkung, sie müßten schon lange vermißt sein, und es sei kein Zweifel, daß die Suche schon begonnen habe. Er wollte schreien, vielleicht würde doch jemand kommen. Er versuchte es - - aber in der Dunkelheit tönte das ferne Echo so gräßlich, daß er's nicht zum zweitenmal tun mochte. Die Stunden flossen dahin, wieder stellte sich quälender Hunger ein. Ein Stück von Toms Kuchenhälfte war noch da; sie teilten und aßen sie. Aber sie schienen nur hungriger zu werden. Die armseligen Krümel erweckten nur das Verlangen nach mehr. Plötzlich sagte Tom:,, Pscht! Hörst du nichts? " Beide hielten den Atem an und horchten. Es wurde etwas wie ein ganz entfernter Ruf hörbar. Sofort antwortete Tom, und, Becky an der Hand führend, lief er in der entsprechenden Richtung den Gang entlang. Dann horchte er wieder; wieder war der Ton hörbar, und, wie es schien, noch näher.,, Sie sind's! " jubelte Tom.,, Sie kommen! Komm mit! Becky - - jetzt ist alles gut! " Die Freude der Gefangenen war nahezu überwältigend. Das Vorwärtskommen war indessen schwer, weil es hier zahlreiche Spalten gab, man mußte daher äußerst vorsichtig sein. Bald kamen sie an eine und mußten halten. Sie konnte drei Fuß tief sein, aber auch hundert - - es war kein Hinüberkommen. Tom legte sich platt nieder und reichte so tief es ihm möglich war. Kein Boden. Sie mußten bleiben und warten, bis die Retter kommen würden. Sie horchten; augenscheinlich klangen die Rufe immer entfernter. Ein bis zwei Minuten, dann waren sie ganz verklungen! Herzbrechende Verzweiflung! Tom brüllte, bis er heiser war, aber vergebens. Er sprach Becky hoffnungsvoll zu, aber eine Ewigkeit angstvollen Wartens verging, kein Ruf ertönte. Die Kinder tasteten zur Quelle zurück. Endlos schleppte sich die Zeit hin. Sie schliefen wieder und erwachten hungrig und trostlos. Tom glaubte, es müsse jetzt schon Dienstag sein. Jetzt kam ihm ein neuer Gedanke. Es gab dicht dabei ein paar Seitengänge. Es würde besser sein, einige von ihnen zu untersuchen, als die Last der Verzweiflung in Untätigkeit zu tragen. Er nahm eine Drachenleine aus der Tasche, befestigte sie an einer Felskante und er und Becky gingen, Tom voran, indem sich die Leine allmählich abwickelte, vorwärts. Nach zwanzig Schritt endete der Gang in einen abfallenden Platz. Tom warf sich auf die Knie, tastete herum und suchte mit der Hand um die Ecke des Felsens herumzukommen; er machte eine heftige Anstrengung, möglichst weit zu reichen, und sah, nicht zwanzig Meter entfernt, eine menschliche Hand, ein Licht haltend, um eine Ecke erscheinen! Tom stieß ein Triumphgeschrei aus, und plötzlich folgte der Hand der dazu gehörige Körper - - der des Indianer - Joe! Tom erstarrte; er konnte kein Glied rühren. Dabei war er höchst überrascht, den,, Spanier " sich Hals über Kopf davonmachen zu sehen. Er wunderte sich, daß Joe seine Stimme nicht erkannt und ihm nicht für seine Aussage vor Gericht den Hals abgeschnitten habe. Das Echo mußte also wohl seine Stimme unkenntlich gemacht haben. Zweifellos war es so, dachte er. Der Schreck hatte jeden Muskel in ihm erschlafft. Er beschloß, wenn er noch Kraft genug habe, zur Quelle zurückzukehren, dort bleiben zu wollen, und nichts solle ihn wieder veranlassen können, sich der Gefahr eines Zusammentreffens mit dem Indianer - Joe auszusetzen. Er war besorgt, Becky von dem, was er gesehen habe, nichts merken zu lassen. Er sagte, er habe nur auf gut Glück nochmals gerufen. Aber Hunger und Trostlosigkeit wurden immer schlimmer. Nochmals eine Zeit tödlichen Einerleis an der Quelle und nochmals ein langer Schlaf brachten ihn zu einem anderen Entschluß. Sie erwachten, von rasendem Hunger gequält. Tom glaubte, es müsse Mittwoch oder Donnerstag, vielleicht gar Freitag oder Samstag sein, und daß die Suche längst aufgegeben sei. Er schlug vor, einen anderen Gang zu untersuchen. Er war jetzt bereit, es mit Joe und allen Schrecken aufzunehmen. Aber Becky war sehr schwach. Sie war in tiefe Empfindungslosigkeit versunken und wollte nicht gestört sein. Sie erklärte, wo sie jetzt sei, warten zu wollen - - und zu sterben; es werde ja nicht mehr lange dauern. Tom solle nur mit der Drachenleine weiter suchen; aber sie beschwor ihn, zuweilen wiederzukommen und mit ihr zu sprechen; und wenn die schreckliche Stunde gekommen sei, solle er bei ihr sein und ihre Hand halten - - bis alles vorüber sein würde. Tom küßte sie mit erstickendem Gefühl in der Kehle und zeigte dabei nach Kräften Zuversicht, die Suchenden zu finden oder aber einen Ausweg aus der Höhle. Dann nahm er die Drachenleine und machte sich, auf Händen und Füßen kriechend, davon, von Hunger gequält und elend vor trüben Ahnungen des Kommenden. Dreiunddreißigstes Kapitel. Dienstag - Nachmittag kam und wurde von der Dämmerung abgelöst. Das Dorf St. Petersburg lag wie im Totenschlaf. Die verlorenen Kinder waren nicht gefunden worden. Öffentliche Gebete waren für sie abgehalten worden; wieviel ungehörte Gebete mochten außerdem zum Himmel gestiegen sein! Aber noch immer kam keine hoffnungsvollere Nachricht aus der Höhle. Die meisten Suchenden hatten ihre Bemühungen aufgegeben und waren zu ihren täglichen Beschäftigungen zurückgekehrt, da nach ihrer Meinung die Kinder endgültig aufgegeben werden müßten. Frau Thatcher war sehr krank und lag meistens im Delirium. Man sagte, es sei herzbrechend, ihr Rufen nach ihrem Kinde zu hören, sie den Kopf heben und minutenlang horchen und sie dann unter Stöhnen sich mutlos wieder in die Kissen werfen zu sehen. Tante Polly war in vollkommene Schwermut versunken, ihr graues Haar war fast weiß geworden. Traurig und mutlos beschloß das Dorf den Dienstag - Abend. Ungefähr um Mitternacht ertönte wildes Glockengeläut, im Augenblick waren die Straßen erfüllt von halbbekleideten, verschlafenen Menschen, die schrien:,, Heraus, heraus - - sie sind gefunden! Sie sind gefunden! " Blechpfannen und Hörner vermehrten noch den Spektakel, das Volk bildete große Trupps, die dem Fluß zuliefen, um die Kinder in Empfang zu nehmen, welche in offenem Wagen, umgeben von schreienden Bürgern, herangezogen kamen; Hurra über Hurra brüllend, wälzte sich der Zug durch die Straßen. Das Dorf wurde illuminiert, niemand ging wieder zu Bett, es war die größte Nacht, die das kleine Nest je erlebt hatte. Während der ersten halben Stunde zog eine wahre Prozession von Bürgern nach Richter Thatchers Haus, riß die Geretteten an sich, um sie zu küssen, drückte Frau Thatchers Hand, suchte vergebens nach Worten, und strömte wieder hinaus, alles mit Tränen überschwemmend. Tante Pollys Seligkeit war vollkommen und Frau Thatchers beinahe. Vollkommen konnte sie erst sein, wenn ein Bote mit der Glücksnachricht bei ihrem noch immer in der Höhle herumirrenden Mann angelangt sein würde. Tom lag auf dem Sofa, von begierigen Zuhörern umgeben und erzählte die Geschichte seiner großartigen Abenteuer, hie und da kleine Ausschmückungen anbringend; er schloß mit der Beschreibung, wie er Becky verließ, um einen neuen Streifzug zu machen; wie er zwei Gänge, so weit seine Leine reichte, verfolgte; wie er auch eine dritte untersuchte und eben im Begriff war, umzukehren, als er in weiter Ferne einen schwachen Lichtschimmer entdeckte, der wie Tageslicht erschien; wie er die Leine fortwarf und darauf zukroch, Kopf und Schultern durch eine enge Öffnung preßte und die Ufer des Mississippi vor sich sah. Und wäre es zufällig Nacht gewesen, hätte er den Lichtschimmer nicht gesehen und wäre umgekehrt, ohne den Gang weiter zu untersuchen! Er erzählte, wie er zu Becky zurückkehrte, ihr die Nachricht brachte, und sie ihn bat, sie nicht durch solchen Unsinn aufzuregen, denn sie sei müde, im Begriff zu sterben und wolle sterben; welche Mühe er sich gab, sie zu überzeugen, und wie es ihm endlich gelang, und wie sie dann fast starb vor Freude, als sie hingekrochen und den Tagesschein selbst gesehen habe; wie er zuerst durch das Loch gekrochen sei und dann auch ihr hindurchgeholfen habe; wie sie dasaßen und vor Entzücken weinten; wie ein paar Leute in einem Boot vorbeikamen, er sie anrief und ihnen ihre Lage und ihren verhungerten Zustand schilderte; wie die Leute die ganze Erzählung erst nicht glaubten,,, denn, " sagten sie,,, ihr seid fünf Meilen stromabwärts vom Eingang der Höhle, " sie dann zu sich nahmen, sie in ihr Haus brachten, sie essen und dann bis zwei oder drei Stunden nach Dunkelwerden ruhen ließen und sie dann schließlich hierher geleiteten. Drei Tage und Nächte Aufregung und Hunger in der Höhle ließen sich nicht auf einmal abschütteln, wie Tom und Becky bald bemerkten. Mittwoch und Donnerstag mußten sie das Bett hüten und schienen dabei immer schwächer und schwächer zu werden. Donnerstag konnte Tom ein bißchen herumkriechen; am Freitag war er wieder auf den Beinen und am Samstag fast wie sonst. Becky aber konnte ihr Zimmer erst am Sonntag verlassen, und dann sah sie noch aus, als habe sie eben eine schwere Krankheit durchgemacht. Tom hörte von Hucks Krankheit und ging am Freitag hin, um ihn zu sehen, wurde aber nicht zugelassen; ebensowenig Samstags und Sonntags. Danach durfte er täglich den Kranken besuchen, doch war ihm verboten, von seinen Abenteuern zu erzählen, um keine Aufregung bei dem Freund hervorzurufen. Die Witwe Douglas saß dabei und paßte auf, daß er gehorchte. Zu Hause erfuhr Tom das Cardiff Hill - Abenteuer; auch daß der Körper des einen Strolches, des,, Fremden ", im Fluß nahe der Landungsstelle des Dampfbootes gefunden worden sei. Wahrscheinlich war er auf der Flucht angeschossen worden. Ungefähr vierzehn Tage nach seiner Wiederherstellung ging Tom zu Huck, der inzwischen wieder so weit bei Kräften war, um aufregende Neuigkeiten vertragen zu können; und Tom wußte einige, die, dachte er, ihn wohl interessieren könnten. Richter Thatchers Haus lag an Toms Weg, und er ging hinein, nach Becky zu sehen. Der Richter und ein paar Freunde zogen Tom ins Gespräch, und jemand fragte ihn ironisch, ob er wohl Lust habe, nochmals in die Höhle zu gehen. Tom sagte, ja, er glaube wohl, daß er möchte. Der Richter lachte:,, ' s gibt wohl noch mehrere außer dir, Tom, daran zweifle ich nicht im geringsten. Aber dafür ist gesorgt. Niemand soll nochmals in der Höhle verloren gehen. ",, Wieso? ",, Weil ich schon vor zwei Wochen die Eichentür mit eisernen Bändern und ' nem dreifachen Schloß habe versichern lassen; und die Schlüssel habe ich selbst in Verwahrung. " Tom wurde weiß wie die Wand.,, Was ist's mit dem Jungen? Ho - - lauf mal jemand nach ' nem Glas Wasser! " Das Wasser wurde gebracht und Tom ins Gesicht gespritzt.,, Aha - - ' s hilft schon! Na, was war denn Tom? ",, Gott, Herr Richter - - in der Höhle drinnen war der Indianer - Joe! " Vierunddreißigstes Kapitel. Wenige Minuten genügten, um die Neuigkeit bekannt zu machen, und ein Dutzend Bootsladungen Männer war unterwegs nach der Douglas - Höhle, denen bald das vollgestopfte Dampfboot folgte. Tom Sawyer befand sich im gleichen Boot mit dem Richter Thatcher. Als die Tür zur Höhle geöffnet wurde, bot sich in der ungewissen Dämmerung des Ortes ein trauriger Anblick. Der Indianer - Joe lag auf der Erde ausgestreckt, tot, das Gesicht fest an eine Lücke in der Tür gepresst, als wenn seine Augen bis zum letzten Augenblick an den Anblick der hellen, freien Welt dort draußen geheftet gewesen wären. Tom fühlte sich gerührt, denn aus eigener Erfahrung wußte er, was der Schuft gelitten haben mußte. Sein Mitleid war erregt, aber trotzdem empfand er ein überwältigendes Gefühl der Freiheit und Sicherheit, das ihm deutlich zeigte, was er bisher nur dunkel in sich getragen hatte; wie groß seine Furcht vor einem gewaltsamen Tode bei ihm gewesen sei, seit er vor Gericht gegen den Blutmenschen Zeugnis abgelegt hatte. Joes Messer lag dicht bei ihm, die Klinge war abgebrochen; mit grenzenloser Ausdauer hatte er den eichenen, starken Grundbalken der Tür durchschnitten. Freilich war es vergebliche Ausdauer gewesen, denn der Felsen bildete eine natürliche Schwelle, und an der Härte dieses Hindernisses mußte sein Messer machtlos abgleiten; eine Wirkung zeigte sich auch nur an diesem selbst. Aber auch ohne diesen Steinwall würde alle Mühe umsonst gewesen sein, denn hätte der Indianer auch den Balken ganz entfernen können, so konnte er sich doch unmöglich durch diesen engen Spalt durchzwängen - - und er wußte das. So hatte er denn die Arbeit nur verrichtet um etwas zu tun, um die fürchterliche Zeit totzuschlagen, um seinen Geist abzulenken. Gewöhnlich konnte man ein halbes Dutzend Kerzenreste in den Nischen des Eingangs finden, die von Besuchern dort zurückgelassen waren. Jetzt war nicht eine einzige da. Der Gefangene hatte sie zusammengesucht und sie gegessen. Auch hatte er ein paar Fledermäuse gefangen und sie verzehrt, nichts als die Flügel übrig lassend. Der arme, unglückliche Mensch war Hungers gestorben. In der Nähe hatte sich durch undenkliche Zeiten ein Tropfsteingebilde vom Boden herausgebildet - - infolge beständigen Wassertropfens von der Decke. Er hatte die Spitze dieser Säule abgebrochen und einen etwas ausgehöhlten Stein darauf gelegt, worin er die von zwanzig zu zwanzig Minuten regelmäßig wie durch ein Uhrwerk herunterfallenden Tropfen auffing - - einen Teelöffel voll in vierundzwanzig Stunden! Dieser Tropfen fiel schon, als die Pyramiden neu waren, als Troja sank, als Rom gegründet wurde, bei der Kreuzigung Christi, als der Eroberer nach England kam, als Columbus aussegelte, als das Blutbad von Lexington,, neu " war. Er fällt noch; er wird noch fallen, wenn all die jetzigen Dinge durch Vergangenheit Geschichte geworden, durch die Dämmerung der Sage in die Nacht der Vergessenheit versunken sein werden. Hat alles einen Zweck und eine Bestimmung? Mußte dieser Tropfen durch fünftausend Jahre fallen, weil er einmal für dieses menschliche Insekt nötig werden sollte, und hat er vielleicht in zehntausend Jahren noch einmal einen Zweck zu erfüllen? Aber genug. Es sind viele, viele Jahre vergangen, seitdem dieser hilflose Indianer den Stein aushöhlte, um ein paar unschätzbare Wassertropfen aufzufangen; aber bis zum heutigen Tage betrachtet jeder Reisende, der die Wunder der Douglas - Höhle kennen zu lernen kommt, am längsten von allem diesen merkwürdigen Stein und den langsam fallenden Tropfen.,, Der Becher des Indianer - Joe " steht unter den Sehenswürdigkeiten der Höhle an erster Stelle; selbst,, Aladins Palast " kann nicht mit ihm verglichen werden. Der Indianer wurde nahe der Mündung der Höhle begraben. Das Volk strömte dahin aus dem Dorfe und aus allen Farmen und Niederlassungen sieben Meilen in der Runde zusammen; man schleppte die Kinder und eine Menge Lebensmittel heran und war schließlich von dem Begräbnis so befriedigt, als wäre Joe gehängt worden. Die Beerdigung machte einer äußerst wichtigen Sache ein Ende - - der Petition an den Gouverneur für des Indianer - Joes Begnadigung. Sie trug eine endlose Menge Namen; mehrere gerührte, redselige Versammlungen hatten getagt, ein Komitee weiser Frauen lag dem Gouverneur mit Murren und Klagen in den Ohren und bestürmte ihn, eine mächtige Eselei zu begehen und seine Pflicht mit Füßen zu treten. Der Indianer galt als Mörder von fünf Bürgern des Dorfes - - aber was tat das? Wäre er der Teufel selbst gewesen, es hätte sich doch eine Anzahl Schwächlinge gefunden, die ihre Namen unter ein Begnadigungsgesuch gekritzelt und eine Träne aus ihren beständig übervollen Wasserwerken darauf fallen gelassen hätten. Am Morgen nach dem Begräbnis zog Tom Huck zu einer wichtigen Unterredung an einen geheimen Ort. Huck hatte bereits durch den Walliser und die Witwe Douglas von Toms Abenteuern gehört, aber Tom meinte, es gäbe wohl noch etwas, wovon jene ihm nichts gesagt haben dürften; darüber eben wollten sie jetzt sprechen. Hucks Gesicht verfinsterte sich.,, Weiß schon, was es ist, " sagte er.,, Warst in Nummer Zwei und fandst nichts als Schnaps. ' s hat mir zwar niemand gesagt, daß du's warst, aber ich wußte wohl, daß du's sein mußtest, sobald ich von dieser Schnaps - Geschichte hörte; und wußte, du hättst das Geld nicht erwischt, weil du sonst auf irgend ' ne Weise zu mir gekommen wärst und mir's gesagt hättest, auch wenn du sonst gegen alle stumm gewesen wärst. Tom, ich glaub ' fast, wir kriegen nie was von dem Schatz zu sehen. ",, Was, Huck, kein Wort red ' ich von dem Schnapswirt. Du weißt doch, den Sonntag, als ich zum Picknick ging, war in seiner Schenke noch alles in Ordnung. Erinnerst du dich nicht, daß du in der Nacht wachen solltest? ",, O, sicher. Zwar, ' s kommt mir vor, als wär's ein Jahr her. ' s war dieselbe Nacht, wo ich dem Joe zur Witwe nachschlich. ",, Du schlichst ihm nach? ",, Freilich - - aber reinen Mund halten! Denk ' doch, der Joe hat Freunde hinterlassen. Möcht ' sie doch nicht auf mich hetzen! Wär ' ich nicht gewesen, säß ' er jetzt in Sicherheit unten in Texas! " Dann erzählte Huck Tom sein ganzes Abenteuer im Vertrauen, der bisher nur von des Wallisers Anteil an der Sache wußte.,, Aber, " unterbrach er sich plötzlich, auf die Hauptfrage zurückkommend,,, wer den Schnaps in Nummer Zwei entdeckt hat, hat auch's Geld in die Finger bekommen, denk ' ich - - auf jeden Fall ist's für uns verloren, Tom. ",, Huck - - das Geld war gar nicht in Nummer Zwei. ",, Was!? " Huck starrte seinen Kameraden verdutzt an.,, Tom, hast du wieder ' ne Spur von dem Geld? ",, Huck - - ' s ist in der Höhle! " Hucks Augen leuchteten.,, Sag's noch mal, Tom! ",, Das Geld ist in der Höhle! ",, Tom - - Allmächtiger - - jetzt - - ist das Ernst oder Scherz? ",, Ernst, Huck, so ernst wie alles bei mir. Willst du mitgehn und ' s rausholen? ",, Denk ' doch, daß ich will! - - Wenn's wo liegt, wo wir's leicht finden können - - ohne den Weg zu verlieren - - ",, Huck, wir können's ohne die geringste Gefahr von der Welt. ",, Ist mal was! Aber, warum denkst du, daß das Geld - - ",, Huck, du mußt warten, bis wir drin sind. Wenn wir's nicht finden, geb ' ich dir meine Trommel - - und alles, was ich sonst noch hab '; verlaß dich drauf! ",, ' s ist gut - - ist ' n Wort. Wann wolln wir? ",, Meinetwegen gleich, wenn du magst. Bist du stark genug? ",, Ist's weit in der Höhle? Bin zwar schon drei bis vier Tage wieder auf den Beinen, aber mehr als ' ne Meile - - Tom, ich glaub ', mehr kann ich nicht. ",, ' s sind ungefähr fünf Meilen auf dem gewöhnlichen Weg, aber den wolln wir nicht gehn, Huck, sondern ' nen ganz kurzen, den niemand kennt außer mir. Huck, ich werd ' dich in ' nem Boot hinfahren. Werd ' das Boot da anlegen und ' s wieder zurückrudern, alles ganz allein. Brauchst dich gar nicht drum zu kümmern. ",, Na, Tom, laß uns schnell hin! ",, Schon recht, aber wir brauchen Brot und Fleisch und unsere Pfeifen, und ' nen kleinen Sack und zwei oder drei Drachenschnüre, und dann noch ' n paar von den neuartigen Dingern, die sie Zündhölzer nennen. Sag ' dir, ich hätt ' welche davon brauchen können, wie ich neulich drin war. " Kurz nach Mittag liehen sich die Jungen ein kleines Boot von einem Bürger, der gerade abwesend war und machten sich auf den Weg. Als sie ein paar Meilen unterhalb der Höhlenbucht waren, sagte Tom:,, Sieh mal hier, dies schroffe Ufer da sieht genau so aus, wie sonst an ' ner beliebigen Stelle - - kein Haus, kein Garten, nichts als Gestrüpp. Aber siehst du die weiße Stelle, wo ein Erdrutsch mal gewesen sein mag? Na, das ist eins von meinen Kennzeichen. Wollen landen. " Sie landeten.,, Jetzt, Huck - - wo wir jetzt stehn, kannst du das Loch berühren, aus dem ich neulich herausgekrochen bin. Schau mal, ob du's finden kannst. " Huck suchte überall herum, fand aber nichts. Tom ging stolz auf ein dickes Gewirr von Sumachbüschen zu und sagte:,, Hier ist's! Schau her, Huck. ' s ist die verborgenste Höhle in diesem gesegneten Lande. Daß du aber den Mund hältst! Hab ' ja schon immer Räuber sein wollen, aber ich wußt ', daß ich erst so ' n Ding haben müßt ', wie das da, wohin man sich mal verstecken kann. Jetzt haben wir's und müssen's geheim halten; höchstens darf's der Joe Harper und Ben Rogers wissen, weil's doch ' ne rechte Bande sein muß, oder ' s hat gar keinen Schick., Tom Sawyers Räuberbande ', ' s klingt mächtig großartig, Huck, was? ",, Na, das will ich wohl meinen, Tom! Und wen wollen wir berauben? ",, Na, so ziemlich alle Leute. Auf der Straße auflauern - - das ist so die rechte Manier. ",, Und töten die Kerls. ",, Nein - - nicht immer. Sperren sie in die Höhle, bis sie sich auslösen. ",, Aus - - was ist, auslösen '? ",, Na - - Geld zahlen. Man zwingt sie, daß ihre Freunde für sie alles, was sie auftreiben können, zusammenscharren; und wenn man sie ' n Jahr festgehalten hat, und das Geld ist noch nicht da - - dann tötet man sie. ' s ist allgemeine Sitte so. Bloß die Frauen tötet man nie. Man sperrt sie ein, aber man tötet sie nicht. Sie sind immer ganz verdammt schön und reich und schrecklich furchtsam. Man nimmt ihnen die Uhren weg und alles, was sie sonst haben, aber man nimmt bei ihnen immer den Hut ab und ist furchtbar höflich. Niemand ist so höflich wie Räuber - - du kannst das in allen Büchern lesen. Und dann - - dann verlieben sich die Weiber in uns, und wenn sie ein oder zwei Wochen in der Höhle gewesen sind, hören sie auf, zu heulen, und noch später kannst du sie gar nicht wieder los werden. Schmeißt man sie ' raus, kehren sie sofort um und kommen zurück. ' s ist in allen Büchern so. ",, Na, das ist aber unangenehm, Tom. Glaub ' doch, Pirat sein ist noch besser. ",, Ja, ' s ist besser in manchen Dingen, aber Räuber sind näher bei zu Hause, und dann haben sie ' n Zirkus und all das andere. " Inzwischen waren sie herangekommen und krochen in die Höhle, Tom voran. Sie gingen bis ans andere Ende des Ganges, befestigten ihre Drachenschnüre und setzten den Weg fort. Wenige Schritte brachten sie an die Quelle, und Tom fühlte einen kalten Schauder. Er zeigte Huck den noch an der Wand klebenden Rest des Kerzendochtes und beschrieb, wie er und Becky das letzte Aufflackern und Erlöschen der Flamme beobachtet hatten. Die Jungen verfielen jetzt unwillkürlich in Flüsterton, denn die Stille und Finsternis des Ortes lasteten schwer auf ihrem Geist. Sie gingen weiter und bogen dann plötzlich in Toms anderen Gang ein, den sie bis zu dem,, Abgrund " verfolgten, an dem Tom hatte Halt machen müssen. Die Lichter zeigten ihnen jetzt, daß es ein solcher eigentlich nicht sei, sondern nur ein steiler Lehmabhang, zwanzig oder dreißig Fuß tief. Tom flüsterte:,, Jetzt will ich dir was zeigen, Huck! " Er hielt die Kerze in die Höhe und sagte:,, Schau ' so weit um den Felsvorsprung herum, wie du kannst. Siehst du? Da - - auf dem großen Felsblock über dir - - ",, Tom, ' s ist ein Kreuz! ",, Na, und wo ist deine, Nummer Zwei '?, Unter dem Kreuz ', he? Gerade dort, wo ich den Indianer - Joe sein Licht hinhalten sah, Huck! " Huck starrte eine Weile auf das geheimnisvolle Zeichen und sagte dann mit zitternder Stimme:,, Tom, laß uns machen, daß wir von hier fortkommen! ",, Wa - - a - - as? Und den Schatz hier lassen?! ",, Ja - - hier lassen! ' s ist sicher, Joes Geist spukt hier herum! ",, Denkt nicht dran, Huck, denkt nicht dran! ' s ist ja nicht der Platz, wo er gestorben ist - - der ist weit von hier an der Mündung der Höhle - - fünf Meilen von hier. ",, Nein, Tom, ' s ist nicht so. Er geht um, wo ' s Geld liegt. Ich weiß, wie's bei den Geistern ist, so machen sie's. " Tom begann zu befürchten, Huck könne recht haben. Mißbehagen beschlich ihn. Aber plötzlich kam ihm eine Idee.,, Schau doch, Huck, was für Schafsköpfe wir wieder mal sind! Indianer - Joes Geist kann nirgends umgehn, wo ' n Kreuz ist! " Diese Beweisführung schlug durch. Es ließ sich nichts dagegen sagen. Tom machte sich als erster daran, rohe Stufen in die Lehmwand zu hauen. Huck folgte. Vier Gänge öffneten sich von der kleinen Höhlung aus, in der sich der bewußte große Felsen befand. Die Jungen untersuchten drei ohne Erfolg. In dem der Basis des Felsens am nächsten befindlichen fanden sie eine kleine Nische, in der sich eine Anzahl Wolldecken, ein alter Gürtel, ein paar Schinkenschwarten und die sauber abgenagten Knochen von zwei bis drei Hühnern vorfanden. Aber keine Geldkiste. Die Jungen durchsuchten alles wieder und immer wieder - - aber vergebens. Dann meinte Tom:,, Er sagte, unter dem Kreuz! Na, dies ist beinahe unter dem Kreuz. Unterm Felsen selbst kann's nicht sein, denn der sitzt zu fest. " Sie suchten immer wieder und wieder und setzten sich schließlich mutlos nieder. Huck wollte nichts einfallen. Aber Tom sagte plötzlich:,, Schau mal her, Huck! Auf der einen Seite des Felsens sind ' n paar Fußspuren und Kerzen - Spritzer, auf der anderen Seite sind keine! Was meinst du nun? Bitt ' dich, das Geld ist unter dem Felsen! Werd ' mal gleich im Lehm nachgraben. ",, Kein übler Gedanke, Tom, " entgegnete Huck mit Bewunderung. Toms,, echtes Barlow - Messer " war im Nu heraus, und er hatte noch nicht fünf Striche getan, als er auf Holz stieß.,, Hoho, Huck, hörst du das? " Huck begann ebenfalls zu graben und zu wühlen. Ein paar Bretter waren bald ausgegraben und beiseite geworfen. Sie hatten eine natürliche Spalte verborgen, die unter den Felsen führte. Tom kroch hinein und leuchtete, so tief er konnte, vermochte das Ende der Spalte aber nicht zu sehen. Er schlug vor, noch weiter zu forschen, kroch hinein und geradeswegs hinunter. Er folgte allen Windungen des Spalts, erst nach rechts, dann nach links, Huck immer hinterdrein. Plötzlich machte Tom eine kurze Wendung und schrie:,, Bei Gott, Huck, schau her! " Es war die Geldkiste in einem kleinen Loch, daneben ein Pulverbehälter, eine Menge Flinten in verschiedenen Hüllen, zwei Paar alte Mocassins, ein alter Gürtel und ein paar Kleinigkeiten, alles gründlich durchnäßt durch das heruntertropfende Wasser.,, Gott im Himmel! " schrie Huck, mit den Händen im Gold wühlend,,, sind wir jetzt aber reich, Tom! ",, Huck, ich hab ' ja immer drauf gerechnet. ' s ist aber fast zu schön, um dran zu glauben, aber wir haben's mal sicher - - endlich! Wollen's nicht hier liegen lassen, sondern mitnehmen; laß mal sehen, ob ich die Kiste aufheben kann! " Die wog aber über 50 Pfund, Tom konnte sie mit großer Anstrengung ein bißchen heben, an Fortschaffen aber war gar nicht zu denken.,, Dacht's mir, " meinte er.,, Damals im Gespensterhaus trugen sie, schien's, schwer genug daran - - merkt's wohl. Denk ', ' s wird gut sein, die kleinen Beutel herzunehmen. " Bald war das Geld verpackt, und sie schleppten's heraus.,, Nun laß uns noch Gewehre und sonst so ' n Zeug mitnehmen. " schlug Huck vor.,, Nein, Huck, da lassen! Sind gerad ' Sachen, die wir brauchen, wenn wir erst Räuber sind. Nehmen's seiner Zeit zu unsern Orgien; ' s ist ein verdammt feiner Platz für Orgien. ",, Was sind Orgien? ",, Weiß nicht. Aber Räuber halten immer Orgien. also müssen wir doch auch welche halten. Nun komm ' aber, Huck, wir sind hier lang genug gewesen. ' s ist schon spät, denk ' ich. Bin außerdem mächtig hungrig. Im Boot wolln wir essen und rauchen. " Sie schlüpften also hinaus ins Sumachgebüsch, lugten vorsichtig herum, fanden die Luft rein und waren bald im Boot in vollem Schmausen und Rauchen. Als die Sonne sank, stießen sie vom Ufer und machten sich auf den Weg. Tom huschte im Zwielicht an die Küste heran, und kurz darauf landeten sie in voller Dunkelheit.,, Jetzt, Huck, " sagte Tom,,, wollen wir ' s Geld auf dem Boden des Holzschuppens der Witwe verstecken, morgen komm ' ich dann, wir können's zählen und teilen, und dann suchen wir im Wald ' nen Platz, wo wir's sicher vergraben können. Jetzt halt dich mal ganz still und bewach das Zeug, bis ich hinlauf ' und Benny Taylors kleinen Schubkarren leih '. Bin in ' ner Minute wieder da. " Er verschwand, kehrte sogleich mit dem Karren zurück, legte die zwei kleinen Säcke drauf, befestigte zwei Drachenleinen dran und zog an, seinen Schatz hinter sich. Als die Jungen das Haus des Wallisers erreichten, standen sie still, um auszuruhen. Gerade, als sie sich wieder auf den Weg machen wollten, kam der Walliser heraus und rief:,, Hallo, wer da? ",, Huck und Tom Sawyer. ",, ' s ist gut! Kommt nur mit, Jungens, werdet schon überall gesucht. Na - - vorwärts, sputet euch mal! Will den Karren für euch ziehen. Alte Ziegelsteine drin oder altes Metall? ",, Altes Metall, " stotterte Tom.,, Dacht ' mir's; alle Jungen machen sich mehr Mühe und brauchen mehr Zeit, um für sechs Pence altes Eisen zusammenzuscharren, als sie brauchten, um doppelt so viel Geld durch ordentliche Arbeit zu verdienen. Aber ist mal die menschliche Natur so! " Die Jungen hätten gern gewußt, wozu die große Eile sei.,, Weiß nicht; werdet's sehn, wenn wir zur Witwe Douglas kommen. " Huck sagte ein wenig beunruhigt - - denn er war längst daran gewöhnt, unschuldig angeklagt zu werden:,, Mr. Jones, wir haben's gewiß nicht getan! " Der Alte lachte.,, Na, weiß doch nicht, Huck, mein Junge. Weiß doch nicht, seid ihr mit der Witwe gut Freund? ",, J - - a! Wenigstens ist sie immer freundlich mit mir gewesen. ",, Na also! Warum dann Angst haben? " Die Frage war noch nicht ganz von Huck beantwortet, als er sich mit Tom in der Witwe Besuchszimmer gestoßen fühlte. Mr. Jones ließ die Karre draußen und folgte. Das Zimmer war glänzend erleuchtet und alles, was irgend dazu gehörte, erschienen. Thatchers waren da, Harpers, Rogerses, Tante Polly, Sid, Mary, der Pfarrer, der Redakteur und viele andere, und alle mit feierlichen Gewändern angetan. Alle zeigten feierliche Mienen. Tante Polly wurde vor Verlegenheit blutrot und schüttelte den Kopf zornig gegen Tom. Niemand konnte indessen leiden wie die beiden Buben. Mr. Jones erklärte:,, Tom war leider nicht zu Haus, so gab ich ihn auf, stieß aber gerade bei meiner Tür auf ihn und Huck - - so bracht ' ich sie denn Hals über Kopf mit hierher. ",, Und ' s war recht von Ihnen, " entgegnete die Witwe.,, Kommt mit, Jungen. " Sie zog sie in ein Schlafzimmer und sagte:,, Jetzt wascht euch und zieht euch ordentlich an. Hier sind zwei neue Anzüge - - Hemden, Strümpfe - - alles da. Sie sind für dich, Huck, - - nein, keinen Dank, Huck! - - einer von Mr. Jones, der andere von mir. Denk ', sie werden euch beiden passen. Zieht sie an. Wir wollen warten - - kommt runter, wenn ihr schön genug seid. " Damit ging sie. Fünfunddreißigstes Kapitel.,, Tom, wenn wir ' n Seil finden, können wir famos durchbrennen, " sagte Huck,,, die Fenster sind nicht hoch! ",, Unsinn - - wozu denn durchbrennen? ",, Na, so ' ne Menge Menschen kann ich nicht aushalten. Kann ich nicht! Ich will raus, Tom! ",, Ach was ' s ist ja gar nichts! Fürcht ' mich nicht ' n bißchen. Will schon für dich mit aufpassen. " Sid erschien.,, Tom, " sagte er,,, Tante hat den ganzen Nachmittag auf dich gewartet. Mary hatte deine Sonntagskleider zurecht gelegt, alles wartete nur auf dich. - - Sag ' mal, ist das da nicht Lehm und Talg auf deinen Kleidern? ",, Na, Mr. Siddy, möcht ' dir raten, nach deinen eigenen Sachen zu sehen! - - Wozu ist die ganze Geschichte da unten? ",, ' s ist einfach so ' ne Gesellschaft, wie die Witwe Douglas sie ja immer mal gibt. Diesmal ist's für den Walliser und seine Söhne, von wegen heut nacht. Und dann - - kann auch noch was sagen, wenn ihr's wissen wollt - - ",, Na, was denn? ",, Der alte Jones wollt ' der Gesellschaft heut abend ' ne große Sache erzählen, aber ich hört ' s ihn heut morgen Tante Polly als großes Geheimnis anvertraun, denk ' aber, ' s ist kein großes Geheimnis mehr. Jedermann weiß es - - auch die Witwe, obwohl sie alles tut, um ' s nicht merken zu lassen. Oho, Mr. Jones wollte dafür sorgen, daß Huck hier wäre - - konnt ' mit seinem großen Geheimnis nicht ohne den Huck fertig werden, wißt ihr! ",, Geheimnis - - wovon? ",, Na, daß Huck die Räuber angezeigt hat. Denk ', Mr. Jones wird ' ne große Sache aus seinem Geheimnis machen, aber, könnt ' euch denken, ' s wird ins Wasser fallen. ",, Sid, wer hat's verraten? ",, Na - - wer weiß? Irgend jemand hat's gesagt, das ist doch genug. ",, Sid, ' s gibt im ganzen Dorf nur einen, der gemein genug ist, so was zu tun, das bist du! Wärst du an Hucks Stelle gewesen, du hättest dich schleunigst davongemacht und niemand von den Räubern gesagt. Du kannst nichts tun, was nicht gemein ist, und kannst's nicht vertragen, wenn andere für was Gutes gelobt werden. Da - - keinen Dank - - wie die Witwe sagt! " Und Tom packte Sid an den Ohren und half ihm unter Püffen aus der Tür.,, Jetzt geh, sag's Tante Polly und morgen rechnen wir dann ab! " Wenige Minuten danach saßen die Gäste an einer langen Speisetafel; nach guter, alter Sitte waren die Kinder - - ein Dutzend - - an einem kleinen Seitentischchen zusammengesteckt. Zur rechten Zeit hielt Mr. Jones seine Ansprache, worin er der Witwe für ihre Dankbarkeit dankte, und sagte dann, es gäbe einen anderen, dessen Bescheidenheit - - Und so weiter und so weiter. Da alles die Geschichte kannte, so war die Überraschung etwas mäßig, nur die Witwe selbst machte verzweifelte Anstrengungen, zu tun, als wisse sie noch von nichts. Sie bewies Huck ihre Dankbarkeit auf so stürmische und zärtliche Manier, daß ihm sein jetziger Zustand noch weit entsetzlicher erschien als der Zwang der neuen Kleider und des gesitteten Benehmens. Die Witwe erklärte, Huck unter ihrem Dach aufnehmen und ihm eine sorgfältige Erziehung geben zu wollen; und wenn sie so viel Geld zurücklegen könne, wolle sie ihm später ein anständiges Geschäft übergeben. Toms Zeit war gekommen.,, Huck braucht's gar nicht - - Huck ist reich, " sagte er. Nur die gute Lebensart der Gesellschaft konnte bei diesem vermeintlichen Witz ein allgemeines Gelächter hintanhalten. Aber das Schweigen war doch ein wenig drückend. Tom brach es.,, Huck hat Geld! Wenn Sie's nicht glauben - - Huck kann's beweisen. O, Sie brauchen nicht zu lächeln, denk ', ich kann's beweisen. Warten Sie nur ' ne Minute. " Tom rannte hinaus. Die Gesellschaft schaute sich überrascht an und drang in Huck, der stumm zu sein schien.,, Sid, was ist's mit Tom? " fragte Tante Polly.,, Er - - na, werd ' ein anderer klug aus dem Jungen. Ich kann's nicht - - " Tom erschien, sich mit den Säcken abschleppend, und Tante Polly ließ ihren Satz unbeendet. Tom schüttete das Geld auf den Tisch und meinte trocken:,, Da - - was hab ' ich gesagt? Halb Huck seins - - halb meins! " Dieser Anblick machte alle atemlos. Alles schaute nur, niemand konnte sprechen. Dann folgten unartikulierte Laute des Entzückens. Tom sagte, er könne es erklären, und tat's. Die Erzählung war lang, aber mächtig spannend. Niemand unterbrach ihn, außer durch Ausrufe, wie sie hier angebracht waren. Als er geendet hatte, meinte Mr. Jones:,, Dachte ' ne kleine, besondere Überraschung für diese Gelegenheit in Hinterhalt zu haben, aber jetzt denk ' ich, ' s war nichts. Dies da läßt meins furchtbar lumpig erscheinen - - kann's nicht leugnen. " Das Geld wurde gezählt. Die Summe belief sich auf etwas über zwölftausend Dollar. Das war mehr, als irgend einer der Anwesenden jemals beisammen gesehen hatte, obwohl verschiedene unter ihnen waren, die über viel mehr als das in Grundbesitz verfügten. Sechsunddreißigstes Kapitel. Der Leser kann sich vorstellen, was für ein kolossales Aufsehen Tom und Huck in dem armen, kleinen Dörfchen St. Petersburg gemacht hatten. Eine solche Summe, auf einem Fleck, schien nahezu unglaublich. Es wurde darüber geschwatzt, disputiert, phantasiert, bis der Verstand mancher Bürger unter dem Einfluß dieser ungesunden Erregung zu wanken begann. Jedes,, verhexte " Haus in St. Petersburg und der Nachbarschaft wurde durchstöbert, Balken für Balken, die Grundmauern bloßgelegt und auf verborgene Schätze hin untersucht, - - und nicht durch Kinder - - nein, durch Männer, verflucht ernste, ganz unromantische Männer meistens. Wo Tom und Huck erschienen, wurden sie gefeiert, bewundert, angestarrt. Sie konnten sich nicht erinnern, daß ihren Bemerkungen bisher Wert beigelegt worden war; jetzt aber waren sie gesucht und geschätzt; alles, was sie taten, erschien bemerkenswert; augenscheinlich hatten sie die Fähigkeit verloren, etwas Gewöhnliches zu tun oder zu sagen; noch mehr - - ihre Vergangenheit wurde unter die Lupe genommen, und man erklärte, es sprächen ganz wunderbare Begabungen aus allem, was sie bisher getan hatten. Sogar das Käseblättchen brachte biographische Skizzen über die beiden Buben. Die Witwe Douglas legte Hucks Geld zu sechs Prozent an, der Richter Thatcher tat auf Pollys Wunsch dasselbe mit Toms Anteil. Jeder von ihnen hatte jetzt ein Einkommen, das einfach märchenhaft erschien - - einen Dollar für jeden Wochentag des Jahres und die Hälfte der Sonntage. Es war so viel wie der Geistliche erhielt, - - nein, es war das, was er hätte erhalten sollen, denn er bekam nicht alles. Für gewöhnlich genügten in diesen einfachen Zeiten ein und ein viertel Dollar wöchentlich, um einen Jungen zu ernähren, zu kleiden, zu waschen, ihm Wohnung zu schaffen und den Schulbesuch zu ermöglichen. Richter Thatcher hatte eine hohe Meinung von Tom gefaßt. Er sagte, kein gewöhnlicher Junge würde seine Tochter jemals aus der Höhle herausgebracht haben. Als Becky ihrem Vater im strengsten Vertrauen erzählte, wie sie Tom in der Schule vor Prügel bewahrt habe, war er sichtlich bewegt; und als sie gar die heldenhafte Lüge, durch die Tom ihre Schuld auf die eigenen Schultern geladen hatte, berichtete, sagte er im Tone der Überzeugung, es wäre eine edle, großmütige, glänzende Lüge - - eine Lüge, die wert sei, von Geschlecht zu Geschlecht in Ehren gehalten zu werden, unmittelbar nach George Washingtons berühmter Wahrheitsliebe. Becky dachte, ihr Vater habe niemals so stolz und großartig ausgesehen, als während er auf und nieder lief, mit dem Fuß aufstampfte und dies sagte. Sie ging sofort davon und erzählte Tom davon. Der Richter hoffte, Tom einmal als großen Gesetzgeber oder großen Soldaten oder so zu sehen. Er versicherte, dafür sorgen zu wollen, daß Tom auf die Nationale Militärschule und nachher auf die beste Gesetzesschule des Landes komme, damit er sich dort für eine dieser Karrieren ausbilden solle - - oder auch für beide. Huck Finn wurde durch seinen Reichtum und durch den Umstand, daß er sich unter dem Schutze der Witwe Douglas befand, in die Gesellschaft eingeführt - - nein, hineingestoßen, hineingezerrt - - und seine Leiden wurden bald so schlimm, daß er sie nicht mehr tragen konnte. Die Dienerschaft der Witwe striegelte ihn rein und sauber, bürstete ihn und packte ihn nachts in ein gräßliches Bett, in dem sich nicht ein einziger Fleck fand, den er hätte ans Herz pressen und Freund nennen können. Er sollte mit Messer und Gabel essen. Schüsseln, Becher und Teller sollte er benützen; aus Büchern lernen; in die Kirche gehen; sich so manierlich ausdrücken, daß ihm die eigene Sprache fremd erschien. So daß es ihm schließlich vorkam, als werde er durch diese,, Kultivierung " an Händen und Füßen gebunden. Drei Wochen trug er sein Mißgeschick tapfer, dann schüttelte er es eines Tages gewaltsam ab. Achtundvierzig Stunden hindurch suchte die Witwe in höchster Bestürzung nach ihm. Das ganze Dorf war tief ergriffen; man suchte überall herum und ließ den Fluß ab nach seiner Leiche. Früh am dritten Tage schlenderte Tom zu ein paar alten, leeren Fässern, die hinter dem jetzt unbenutzten Schlachthause vergessen ihr Dasein fristeten; in einem derselben fand er den Flüchtling. Huck hatte da geschlafen; eben hatte er mit einigen gestohlenen Kleinigkeiten sein Frühstück gehalten und lag jetzt gemütlich da, die Pfeife im Munde. Er war ungekämmt, ungewaschen und in dieselben Ruinen von Kleidern gehüllt, die ihm in den goldenen Tagen der Freiheit und vollen Glückseligkeit ein so pittoreskes Aussehen gegeben hatten. Tom schalt ihn, erzählte ihm von der durch ihn verursachten, Bestürzung und drängte ihn, nach Haus zurückzukommen. Hucks Gesicht verlor seinen ruhig - zufriedenen Ausdruck und wurde immer melancholischer.,, Sag ' nichts davon, Tom, " bat er.,, Hab's versucht, aber ' s geht nicht, Tom! ' s ist nichts für mich, pass ' nicht dafür! Die Witwe ist gut und freundlich gegen mich; aber ich kann's nicht aushalten. Jeden Tag weckt sie mich zur selben Zeit, läßt mich waschen - - sie schrubben mich noch zu Tode! läßt mich im Bett schlafen; dann soll ich diese verdammten Kleider tragen, die mich ersticken, Tom; sie scheinen gar keine Luft durchzulassen und sind so verteufelt fein, daß ich nicht drin sitzen, liegen, mich nirgends hinwerfen kann. Auf ' ner Kellertreppe bin ich nicht mehr hinuntergerutscht seit - - na, ' s ist wohl schon Jahre her! In die Kirche gehn soll ich und schwitzen und schwitzen - - wie ich diese langweiligen Predigten hasse! Nicht mal ' ne Fliege fangen darf man, nicht rauchen; dafür soll man alle Sonntage Schuhe tragen! Wenn die Witwe ißt, läutet's, wenn sie zu Bett geht, läutet's, wenn sie aufsteht, läutet's - - ' s ist alles so gräßlich regelmäßig - - das halt der Teufel aus! ",, Na, Huck, das muß aber doch jeder. ",, Tom, ich will ' ne Ausnahme machen; ich bin nicht jeder, ich kann's nicht aushalten! ' s ist schrecklich, so gezogen zu werden. Und ' s Essen wird einem so bequem gemacht - - so macht's mir gar keinen Spaß. Soll fragen, wenn ich fischen will, fragen, wenn ich baden will - - Herrgott, um jedes und jedes fragen! Na, und dann nicht sprechen dürfen, wie man's gewohnt ist. Könnt ' ich nicht jeden Tag auf den Heuboden und dort ' n bißchen schwatzen in meiner Manier, ich müßt ' krepieren, Tom! Die Alte läßt mich auch nicht rauchen und nicht ' n bißchen brüllen, nicht gähnen - - nicht mal kratzen, wenn jemand dabei ist! " Dann mit einem Ausbruch ganz besonderen Ingrimms:,, Und das weiß der Henker - - beten tut sie den ganzen Tag! Nie hab ' ich so ' n Weib gesehen! Mußte fort, Tom, mußte! - - Tom, in all das Elend wär ' ich nicht gekommen, wär ' nicht das Geld gewesen! Jetzt sei so gut, Tom, nimm du's und gib mir zuweilen zehn Cent - - nicht zu oft, denn ich geb ' nichts um ' ne Sache, wenn sie nicht schwer zu kriegen ist; und dann - - geh ' hin, bitt ' mich von der Witwe frei! ",, Ach, Huck, du weißt doch, daß ich das nicht tun kann! ' s wär ' unanständig; und dann, wenn du's noch ' ne Weile versuchst, wirst du dich schon dran gewöhnen! ",, Dran gewöhnen! Könnt ' mich auch wohl an ' nen heißen Ofen gewöhnen, wenn ich lang ' genug drauf sitzen müßte! Nein, Tom, ich mag nicht reich sein, und ich will nicht in dem verdammten schläfrigen Hause wohnen. Hab ' den Wald zu lieb und den Fluß und die Berge - - und zu denen will ich zurück! Verdammt! Jetzt, wo wir Geld haben und ' ne Höhle und alles, was wir als Räuber brauchen, wirft einem so ' ne verrückte Tollheit alles übern Haufen! " Tom ersah seinen Vorteil.,, Na, weißt du, Huck, das Reichsein hat mich gar nicht davon abgebracht, Räuber zu werden. ",, Nicht! All ihr guten Geister, sprichst du in wirklichem, todsicherem Ernst, Tom? ",, So todsicher, wie ich hier sitze! Aber, Huck, weißt du, wir können dich nicht unter uns aufnehmen, wenn du nicht gut erzogen bist. " Hucks Freude war schon wieder zu Ende.,, Könnt's nicht, Tom? Würd's nicht als Pirat gehn? ",, Ja, aber das ist ' n Unterschied. Ein Räuber ist viel was Nobleres, als was so ' n Pirat ist - - für gewöhnlich. In den meisten Ländern sind sie furchtbar nobel! ' s sind Herzöge dabei und so was! ",, Ach, Tom, du bist doch sonst immer so'n guter Kamerad gewesen! Du wirst mich doch nicht ausschließen, Tom, nicht wahr? Du wirst doch das nicht tun, Tom - -? ",, Huck, ich möcht's ja nicht tun - - und ich tät's auch nicht, aber was würden die Leute sagen? Pah! würden sie sagen - - Tom Sawyers Bande! Schön ' lump'ge Kerle darunter! Sie würden dabei dich meinen, Huck! Das möchtst du doch nicht, Huck, oder - -? " Huck schwieg eine Weile, in tiefes Nachdenken versunken. Schließlich sagte er:,, Na, dann will ich zur Witwe zurück - - auf ' nen Monat oder so, und sehn, ob ich durchkomm ' - - wenn ich dann eintreten kann, Tom. ",, ' s ist recht, Huck, ist recht! Komm ' mit, alter Dummkopf, und ich will sehen, ob ich die Witwe bereden kann, dir ' n bißchen nachzulassen, Huck. ",, Willst du, Tom? Nein, willst du?! ' s ist wundervoll! Wenn sie mir nur die schlimmsten Sachen nachläßt, will ich heimlich rauchen und fluchen und sehen, daß ich durchkomm ' - - oder krepieren. - - Wann willst du denn dran gehen und ' ne Bande gründen? ",, O, recht bald, Huck. Meinetwegen können wir noch diese Woche die Jungen zusammentrommeln und die Einschwörung vornehmen. ",, Vornehmen - - was? ",, Die Einschwörung. ",, Was ist das? ",, Na, halt schwören, zusammenhalten, nie ' n Geheimnis zu verraten, wenn man auch drum gevierteilt werden sollte - - und jeden zu töten, und seine ganze Familie, der was schwatzt. ",, Großartig, Tom - - sag ' dir's, einfach großartig! ",, Na, ich glaub ', ' s ist's! Und das muß natürlich um Mitternacht sein, am einsamsten, schrecklichsten Ort, den man finden kann. Ein Gespensterhaus ist das beste, aber so was gibt's ja kaum noch. ",, Mitternacht ist gut, Tom! ",, Ja - - ' s ist gut. Und aufs Schwert schwören mußt du und mit Blut unterzeichnen. ",, Na, das laß ich mir gefallen! ' s ist ja tausendmal besser, als Pirat sein. Na, Tom, will mich jetzt an die Witwe halten und alles tun, bis ich verfaul '! Und wenn ich dann mal so ' n richtiger Räuber bin und alle Welt von mir spricht, denk ' ich, wird sie noch stolz sein, daß sie mich aus dem Schmutz gezogen hat. " Schluß. So endet diese Geschichte. Da es nur die Geschichte eines Jungen sein soll, muß sie hier enden; sie könnte nicht weiter gehen, ohne die eines Mannes zu werden. Wenn jemand eine Erzählung über erwachsene Leute schreibt, weiß er genau, wo er aufzuhören hat - - bei der Heirat; schreibt er aber über ein unreifes Kind, so muß er aufhören, wo er's für passend hält. Die meisten der in diesem Buch vorkommenden Personen leben noch, sind glücklich und mehren sich. Vielleicht erscheint es eines Tages als angebracht, die Geschichte der Jugend wieder aufzunehmen und zu sehen, was für Männer und Frauen aus ihnen geworden sind; darum wird's am besten sein, von ihrem jetzigen Leben hier nichts mehr zu verraten.